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Deutsche Märchen und Sagen 23

Johann Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845

23. Die dankbaren Tiere

Es war einmal eine Mutter, die hatte nur ein Kind, war aber so arm, dass sie kein Essen für den Jungen herbeischaffen konnte. Eines Morgens gab sie ihm ein Messer und sprach: »Da, du weißt, dass ich dich nicht ernähren kann. Geh in die Welt und sieh, wie du durchkommst. Ich kann dir nichts mitgeben als das Messer. Und nun fahr dahin in Gottes Namen.«

Der Junge nahm das Messer, ging weg, immer weiter und weiter, bis er in einen großen Wald kam. Kaum hatte er den Fuß hineingesetzt, als er einen toten Esel am Boden liegen sah. Drei Tiere saßen dabei, ein Löwe und ein Adler und eine Ameise.

Als die Tiere ihn erblickten, riefen sie ihm zu: »Jüngelchen, Jüngelchen, komm einmal her. Wir wollen den Esel teilen und können nicht eins werden. Du musst uns helfen.«

»Gut«, sprach der Junge, trat zu ihnen, setzte sein Messer an und schnitt den Esel in drei Stücke, davon gab er eins dem Löwen und eins dem Adler. Als er das Dritte aber der Ameise geben sollte, sprach er: »Du bist so ein kleines Tierchen und hast doch nicht viel nötig. Darum lass mir ein Stück von deinem Teil.«

»Nein«, sprach die Ameise, »das tue ich nicht. Du musst rechtschaffen sein und mir mein Stück geben, es soll dein Schade nicht sein.«

Da gab der Junge der Ameise das ganze Stück.

Als sie das hatte, kam der Löwe und sprach: »Nun höre, Jüngelchen, weil du uns so gut geteilt hast, sind wir dir Dank schuldig.« Er gab ihm eine Leuenpfote und sprach: »Wenn du einmal in Gefahr kommen solltest, dann rufe die Kraft und Macht der Pfote an und du bist stärker als der stärkste Löwe.«

Da kam auch der Adler und sprach: »Jüngelchen, ich bin dir auch Dank schuldig.« Er gab dem Jungen einen Adlerflügel und sprach: »Wenn du einmal in Gefahr kommen solltest, dann rufe die Kraft und Macht des Flügels an und du kannst so hoch fliegen wie der stärkste Adler.«

Nun kam die Ameise auch und sprach: »Weil du so rechtschaffen an mir gehandelt hast, will ich dir auch etwas geben.« Sie gab ihm ein Ameisenfüßlein und fuhr fort: »Wenn du einmal in Gefahr kommen solltest, dann rufe die Kraft und Macht des Füßleins an und du wirst so klein wie die kleinste Ameise.«

Als die Tiere so gesprochen hatten, da packte der Löwe sein Teil zwischen die Zähne und lief in den Wald, der Adler packte sein Teil zwischen die Klauen und flog durch die Luft dahin. Die Ameise rief all ihre Freunde und Magen zusammen und die halfen ihr das dritte Teil aufessen.

Der Junge verbarg die drei Wunschdinge in seine Taschen, schlenderte weiter durch den Wald und pfiff, als wäre er bei den Vögelein zur Schule gegangen. Als er am Ende des Waldes war, da lag die See vor ihm. Er sah nichts wie Himmel und Wasser. Zugleich aber sah er auch einen ungeheuren Drachen, der eine schöne Königstochter bewachte, welche er aus dem Schloss ihres Vaters geraubt hatte. Der Drache wohnte nicht an der See, er ruhte nur ein wenig da aus, denn es war sehr heiß und er hatte schon einen weiten Weg gemacht. Als der Junge bemerkte, dass der Drache die Augen geschlossen hatte, schlich er ganz, ganz leise auf den Zehen zu der schönen Königstochter und fragte sie, von woher sie käme. Doch er hatte das Wort kaum aus dem Mund, als der Drache anfing, sich zu recken, zu strecken und gleich darauf sich aufrichtete, sodass der Junge kaum Zeit genug hatte, die Kraft und Macht des Ameisenfüßleins anzurufen, wodurch er augenblicklich kleiner wurde als das allerkleinste Ameischen, was nur mit Augen zu sehen ist.

»Mit wem hast du da gesprochen?«, brüllte der Drache.

Die Königstochter sprach: »Mit niemand. Sieh nur um dich herum.«

Da schaute der Drache sich nach allen Seiten um. Als er weder niemand sah noch fand, packte er die schöne Königstochter zwischen die Klauen und flog mit ihr durch die Luft dahin. Der Junge aber rief schnell die Kraft und die Macht des Adlerflügels an. Dadurch wurde er alsbald zu einem großen Adler und flog dem Drachen nach weit, weit über die See. Da ließ das Ungeheuer sich nieder und setzte die schöne Königstochter in eine Höhle gefangen. Schnell ließ der Junge sich hinter ihm nieder, rief die Kraft und Macht der Leuenpfote an und sprang in Gestalt eines schrecklichen Löwen dem Drachen auf den Nacken, hieb ihn mit seinen Klauen in die Augen, biss ihn in den Hals und spielte ihm so wohl mit, dass das Ungetüm niederstürzte und unter einem abscheulichen Geheul starb. Da war keiner froher als der Junge. Der lief schnell zu der schönen Königstochter, nahm sie in seine Arme und sie waren beide glücklich und zufrieden. Dann aber rief er die Kraft und Macht seines Adlerflügels wieder an, nahm sie sanft in seine Klauen und flog mit ihr zurück über die See, über Berg und Tal, Wald und Wiese bis an das Schloss, wo ihr Vater wohnte. Da war nun großer Jubel und Freude. Zum Dank bekam der Junge die schöne Königstochter zur Frau. Sie lebten noch lang und glücklich.

Als der alte König gestorben war, da wurde der Junge König und bekam das ganze Reich.