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Nach Amerika! – Erster Band – 03

Friedrich Gerstäcker
Nach Amerika!
Erster Band
Leipzig, Berlin, 1855

Der Diebstahl

Zehn Minuten mochten sie so etwa schweigend nebeneinander hergegangen sein, als hinter ihnen auf der Straße eine Equipage und klappernde Hufschläge gehört wurden, die sie rasch einholten und an ihnen vorbeirauschten, eine dicke Staubwolke dabei über den Weg wälzend. Es war die Familie Dollinger mit dem, neben dem Wagen hin galoppierenden Fremden, dem Bräutigam der Tochter.

»Die kommen schneller von der Stelle als die armen Auswanderer vorhin«, sagte Kellmann, als sie vorbei waren. »Wetter noch einmal, es ist doch ein anderes Ding, so ein paar flüchtige Rappen vor sich zu haben und wie im Flug durch die Welt zu jagen, als mit einem schweren Packen auf dem Rücken und wunden Füßen vielleicht mühselig die staubige Straße entlang zu keuchen.«

»Ja, die Gaben sind ungleich verteilt in der Welt«, seufzte der Aktuar, »was der eine haben möchte, hat der andere schon, und das ist auch wohl das ganze Geheimnis der sozialen Frage. Lässt sich aber nun einmal nicht ändern, und wir dürfen vielleicht den Kopf darüber schütteln und wünschen, dass es anders wäre, aber weiter eben nichts.«

»Der auf dem Pferd, war der Dings da von Amerika«, sagte der Apotheker jetzt, »der das schmähliche Geld hat und des reichen Dollingers Tochter noch dazu heiratet. Soll mir noch einmal einer sagen, dass Eisen der stärkste Magnet sei. Gold ist es, und wo das liegt, zieht es anderes hin.

»Und wie steht es mit Aktien?«, gab Kellmann lachend von sich.

»Bah – bleibt immer dasselbe«, brummte der Apotheker, »das Gold steckt darin und kann durch einen sehr einfachen chemischen Prozess leicht herausgezogen werden, wenn man sie hat.«

»Es wundert mich übrigens, dass der alte Dollinger sein Kind über das große Wasser hinüberziehen lässt«, meinte der Aktuar, »dem hätte es doch auch hier im Land nicht an einer ebenso guten Partie gefehlt.«

»Liebe«, meinte Kellmann achselzuckend, »Liebe ist blind, sagt ein altes Sprichwort. Dagegen lassen sich eben keine Gründe anbringen. Wäre es übrigens auch nicht wegen des großen Wassers, der Bursche gefällt mir außerdem nicht. Ich möchte ihm meine Tochter nicht geben, auch wenn er bis über die Ohren in Gold stecke. Er hat ein verschlossenes, hochfährtiges Wesen, behandelt den gemeinen Mann wie einen Hund und spricht von allem, was wir hier haben, unseren Einrichtungen, unseren Gesetzen, unseren Vergnügungen selber, ja unserem Klima und Land, das doch zum Henker auch sein Vaterland ist, mit der größten Verachtung. Amerika und immer wieder Amerika, hinten und vorn. Ei, Blitz und Hagel, ich will gar nicht leugnen, dass es manche guten Seiten haben mag, das Amerika, wenn ich sie auch gerade nicht einsehen kann. Aber so viel besser wie unser Deutschland ist es doch auch nicht drüben. Wenn es so einem Burschen da einmal zufällig geglückt ist, sollte er nicht als Lockvogel sich hier mitten zwischen uns hineinsetzen, anderen vernünftigen Leuten unglückselige Ideen in den Kopf zu pflanzen.

»Wenn sich andere vernünftige Leute solche Ideen einpflanzen lassen, geschieht es ihnen ganz recht«, sagte der Apotheker. »Man braucht nicht zu glauben, was jeder dahergelaufene Lump eben sagt.«

»Nun ganz ohne kann es aber auch nicht sein«, meinte Kellmann kopfschüttelnd, »und ich – ich halte es immer für gefährlich. Es ist merkwürdig, wie rasch sich das mit der Hochzeit gemacht hat.«

»Nun, wer sich die Braut gleich fix und fertig aus dem Wasser zieht, hat leicht freien«, sagte der Aktuar. »Glück muss der Mensch haben, dann geht alles wie am Schnürchen. Wer aber das nicht hat, der mag sein Lebtag fischen und fängt doch nichts – am wenigsten aber solch einen Goldfisch.«

»Wo stammt er denn eigentlich her?«, fragte der Apotheker jetzt, als sie wieder eine Weile schweigend nebeneinander hingegangen waren. »Man hört doch sonst eigentlich gar nichts von ihm, und er kommt auch mit keinem Menschen weiter zusammen – stolzer aufgeblasener Bursche der.«

»Gott weiß es«, sagte der Aktuar; »er ist, glaube ich, mit einem holländischen Schiff herübergekommen und hatte einen Pass von Amsterdam.«

»Und der Pass lautete nach Heilingen?«

»Nun nicht gerade nach Heilingen, aber doch zur Residenz. Wie sich die Sache dann hier mit der Dollingerschen Familie gestaltete, nun lieber Gott, da drückte der Stadtrat das eine, die Stadtverordneten drückten das andere Auge zu, und man sah nicht so genau nach den Papieren. Überdies verzehrte er ja hier viel Geld. Wäre es ein armer Teufel gewesen, hätten wir ihn wahrscheinlich schon bald wieder über die Grenze gehabt.

»Hm, ja, glaube ich«, sagte Kellmann, mit dem Kopf nickend. »Es ist in Heilingen eben nicht anders wie … wie anderswo … warum auch?«

Das Gespräch drehte sich von da ab auf die städtischen Einrichtungen, deren wärmster Verteidiger der Apotheker war, und über die sich der Aktuar natürlich nur sehr vorsichtig ausließ, während sie Kellmann um so unnachsichtiger angriff; kam dann auf die Saat und die Preise, und wieder mit einem Seitensprung auf die jetzige Politik unseres lieben deutschen Reiches, bis sie das Tor und zwar gerade mit Sonnenuntergang erreichten, wo jeder seinen Weg ging, die eigene Heimstatt aufzusuchen.

Der Aktuar Ledermann besonders, der am entgegengesetzten Ende der Stadt wohnte, beschleunigte seine Schritte, um noch vor einbrechender Dunkelheit seine Wohnung zu erreichen. Das Gerücht ging nämlich in der Stadt um, dass ihn seine Ehehälfte bei solchen Gelegenheiten oft allerdings sehr unfreundlich empfange und ihm einmal sogar schon einige sonst sehr nützliche, bei der Gelegenheit aber nichts weniger als passende häusliche Geräte entgegen und vor die Füße geworfen habe. Tatsache war, dass Madame oder Frau Aktuar Ledermann, was auch ihres Gemahls Tätigkeit und Ansehen außerhalb seiner eigenen vier Pfählen sein mochte, innerhalb derselben jedenfalls das Kommando, und nicht immer mit Mäßigung führte. Der Aktuar versuchte den Hausfrieden wenigstens soviel wie möglich zu erhalten und jeden Anlass, zu irgendeiner Störung desselben, zu vermeiden.

Mit solchen Gedanken vielleicht im Kopf wollte Ledermann eben vom Marktplatz aus in die Straße einbiegen, an deren äußersten Ende seine eigene, sehr bescheidene Wohnung stand, als er seinen Titel genannt und sich selber gerufen hörte.

»Herr Aktuar – Herr Aktuar Ledermann.«

Er drehte sich rasch um und sah einen Gerichtsdiener eilig auf sich zukommen, der, die Mütze abnehmend, vor ihm stehen blieb und ihm meldete, dass er eben abgeschickt worden sei, ihn zu holen oder aufzusuchen, da ein Einbruch geschehen sei, über den an Ort und Stelle Protokoll aufgenommen werden solle.

»Protokoll aufnehmen?«, sagte Aktuar Ledermann, keineswegs angenehm überrascht. »Ja was habe ich denn heute damit zu tun? Wo ist mein Kollege?«

»Herr Aktuar Beller sind unwohl geworden, heute Nachmittag«, berichtete der Polizeidiener, »und musste nach Hause gehen. Ich bin eben abgeschickt worden, um zu sehen, welchen von den anderen Herren ich zuerst treffen könnte.«

»Hm – ist sehr amüsant«, brummte Ledermann vor sich hin. »Kommt mir gerade … apropos. Bei wem ist es denn?«

»Bei Herrn Dollinger.«

»Was? Bei Kaufmann Dollinger?«, rief der Aktuar rasch und erstaunt, »am hellen Tag, während er ausgefahren war?«

»Er ist, wenn ich nicht irre, eben nach Hause gekommen«, berichtete der Mann, »und hat, glaube ich, sein Pult geöffnet und eine bedeutende Summe Geldes entwendet gefunden.«

»Hm, hm, hm«, sagte der Aktuar kopfschüttelnd und seinen Rock dabei, den er der Bequemlichkeit wegen aufgelassen hatte, zuknöpfend. »Es wird immer besser hier bei uns. Am hellerlichten Tag. Aber die ganze Stadt steckt auch voll fremden Volkes, das sich natürlich keine Gelegenheit entschlüpfen lässt, Reisegeld zu bekommen.«

»Es muss doch wohl jemand gewesen sein, der mit dem Haus genau vertraut war«, sagte der Polizeidiener. »Nach dem wenigen, was ich bis jetzt von den Dienstleuten darüber gehört habe, kann es nicht gut anders sein.«

»Nun wir werden ja sehen. Da muss ich aber erst …«

»Wenn sich der Herr Aktuar nur eben an Ort und Stelle bemühen wollen«, sagte jedoch der Diener des Gerichts, »alles Nötige ist schon dorthin geschafft. Ich war eben nur fortgelaufen, einen der Herren zu suchen.«

Der Aktuar, dem Dienst natürlich Folge leistend, seufzte tief auf und schritt, im Geist wahrscheinlich des Empfangs gedenkend, der seiner harrte, wenn seine Frau auf ihn mit dem Abendessen warten musste, rasch die »Poststraße« hinaufbiegend, dem gar nicht weit entfernten Dollinger’schen Haus zu, dort den Tatbestand in Augenschein und zu Protokoll zu nehmen, etwaige Spuren des Übeltäters zu entdecken und zu verfolgen, und die Leute im Haus nach möglichem Verdacht zu inquirieren.

 

***

 

Im Haus des reichen Kaufmanns Dollinger, in dem alles sonst so still und ruhig und wie am Schnürchen zuging, wo jeder seine angemessene und fest bestimmte Beschäftigung hatte, genau wusste, was ihm oblag, und das tat, ohne eben viel Lärm darum zu machen, lief und rannte und sprach heute alles durcheinander. Sämtliche Bande der Ordnung schienen gelöst.

Frau Dollinger vor allen Dingen lag in Krämpfen in ihrem Boudoir und beanspruchte die Hilfe ihrer beiden Töchter und der weiblichen Dienstboten im Haus, ihren Zustand zu bewachen. Herr Dollinger selber war in seinem Zimmer des oberen Stocks und ging dort mit raschen Schritten und auf den Rücken gekreuzten Armen auf und ab, während dem jungen Henkel indessen die Bewachung des Platzes selber übertragen war, und die anderen Dienstboten, mit einem nicht unbedeutenden Teil der Nachbarschaft und deren Verwandten, in den verschiedenen Winkeln und Ecken des Hauses herumstanden und kopfschüttelnd die Hände ein über das andere Mal in Verwunderung zusammenschlugen. Die verschiedenartigsten Vermutungen und Beweise wurden da laut, und die Orte und Stellungen oder Beschäftigungen jedes Einzelnen auf das Genaueste und Peinlichste angegeben, wo und wie sich jeder gerade in der Zeit etwa befunden haben mochte, als die entsetzliche, verruchte Tat geschehen und vollbracht sein musste.

Dem Aktuar, mit dem ihm folgenden Gerichtsdiener wurde übrigens willig und dienstfertig Platz gemacht. Alle wollten aber hinter drein, und die Frauen besonders gaben dabei durch die entschiedensten Ausrufe »Ne du meine Güte« und »Ne so was« ihre vollkommenste Missbilligung des Geschehenen zu erkennen. Nichtsdestoweniger wurde auch selbst ihnen die Tür vor der Nase zugemacht. Einer der Bedienten bekam strenge Order, den Hausflur zu räumen und niemand mehr, so lange die Untersuchung dauere, die Treppe hinaufzulassen, ausgenommen, es wisse jemand noch um den Diebstahl und könne irgendeinen Fingerzeig geben, den Dieben auf die Spur zu kommen. Solche Zeugen sollten nachher vernommen werden.

Oben an der Treppe empfing sie Herr Henkel, um sie gleich zum Ort, wo der Diebstahl verübt worden war, hinzuführen. Einer der Leute war indessen abgeschickt, Hr. Dollinger selber zu rufen. Dieser erschien jetzt, den Aktuar freundlich grüßend.

Es war indessen schon ziemlich dunkel und im Zimmer Licht angezündet worden.

»Ich bedaure sehr, Herr Dollinger«, sagte der Aktuar, »dass, wie ich gehört habe, eine so fatale Sache mich hier in Ihr Haus geführt haben muss.«

»Ja allerdings«, erwiderte der alte Herr, »ist es sehr unangenehm; weniger des Verlustes wegen, der sich allenfalls ertragen ließ, als wegen des Bewusstseins getäuschten Vertrauens, mit selbst keinem gewissen Anhaltspunkt auf Verdacht. Ich wollte gern das Doppelte verloren haben, wenn es hätte auf andere Weise geschehen können.«

»Das Ganze ist übrigens mit einer raffinierten Geschicklichkeit ausgeführt«, fiel Henkel hier ein, »und der Täter, wer auch immer, jedenfalls ein höchst gefährliches Subjekt, von dem ich nur hoffen will, dass wir ihm auf die Spur kommen.«

»Dürfte ich Sie bitten, mir den Platz zu zeigen?«

»Treten Sie hier in das Zimmer meiner Töchter. Dort, der Sekretär ist aufgebrochen worden.«

»Hm – mit einem breiten meißelartigen Instrument«, sagte der Aktuar nach kurzer Besichtigung der offenen, arg beschädigten Mahagoniplatte. »Und die Tür ebenfalls eingebrochen?«

»Nein, die Tür ist unbeschädigt und muss jedenfalls mit einem Nachschlüssel geöffnet worden sein.«

»Und was vermissen Sie im Sekretär?«

»Eine Summe Geldes, die ich erst vor wenigen Stunden im Beisein meiner Familie und eines zuverlässigen Kontordieners, im Paket, wie ich sie von der Post erhalten, hier eingeschlossen hatte, und von der der Dieb auf eine mir unbegreifliche Weise muss Kenntnis bekommen haben.«

»Wer ist dieser Kontordiener?«

»Oh, Loßenwerder. Sie kennen ihn ja wohl?«

»Loßenwerder«, sagte der Aktuar nachdenkend,»ist wohl schon eine ganze Weile in Ihrem Geschäft?«

»Schon zwölf Jahr; mit keinem Schatten irgendeines Verdachts. Ich nahm ihn als einen ganz jungen Burschen in mein Haus. Er muss aber gegen irgendjemand davon gesprochen haben.«

»Hm, hm, wollen ihn uns doch einmal nachher besehen. Also hier hinein hatten Sie das Geld gelegt?«

»Es ist ein Sekretär, den meine Töchter gemeinschaftlich benutzen und zu dem jede von ihnen ihren Schlüssel hat. Bitte, lieber Henkel, lassen Sie doch einmal Sophie oder Clara einen Augenblick zu uns herüberrufen.«

»Ich habe schon das Mädchen geschickt, eine der jungen Damen ersuchen zu lassen«, entgegnete der junge Henkel, der indessen im Zimmer umhergegangen war und sich überall umgesehen hatte, ob nicht vielleicht doch der Dieb irgendeine Spur, irgendein Zeichen hinterlassen habe, an das man sich später einmal halten könne.

»Und vermissen Sie weiter nichts als das Geld?«, fragte der Aktuar.

»Auch etwas Schmuck meiner ältesten Tochter scheint mit geraubt zu sein«, sagte Herr Dollinger, »aber da kommt Clara, die Ihnen das Nähere davon selber angeben wird.«

Clara betrat in diesem Augenblick das Gemach. Sie sah totenbleich und angegriffen aus, und Henkel eilte ihr entgegen sie zu stützen.

»Clara, mein liebes armes Kind«, sagte Herr Dollinger, auf sie zugehend und die Hand nach ihr ausstreckend, »fehlt dir etwas? Der Schreck hat dich wohl so angegriffen. Mach dir doch nur keine Sorge, mein Herz. Vielleicht bekommen wir alles wieder und wenn nicht – nun ein Unglück ist es dann auch nicht. Wenn Ihr mir nur alle gesund bleibt, können wir die paar tausend Taler schon verschmerzen.«

»Es ist nicht der Verlust, lieber Vater«, sagte aber das junge Mädchen, sich gewaltsam zusammennehmend und des Vaters Hand ergreifend, »nur die Überraschung, der Schreck wahrscheinlich, und das … das Unheimliche dabei, als ich mein Zimmer vorhin betrat und die Spuren des verübten Verbrechens entdeckte. Ich fürchtete die entsetzlichen Menschen noch irgendwo zu sehen, die vielleicht hinter einer Gardine stehen, unter einem der Diwane liegen, hinter einem Ofen lauern konnten und, wenn entdeckt, zu verzweifelter Gegenwehr getrieben, mich anfallen würden, und all solch kindische Gedanken mehr. Dort der auf den Tisch geworfene Regenschirm dabei, die hinuntergeworfene Stickerei vom Sekretär selber, am meisten aber der Tabakgeruch im Zimmer und die verlöschte, angerauchte Zigarre dort auf dem Fensterbrett erfüllten mir das Herz mit einem unbeschreiblichen Grausen.«

»Eine Zigarre?«, sagte Ledermann, sich vergebens nach dem bezeichneten Gegenstand umschauend, »wo lag sie?«

»Dort im Fenster, als ich zurückkam.«

»Die alte angerauchte Zigarre?«, sagte Henkel rasch, »die habe ich zum Fenster hinausgeworfen. Ich glaubte, einer der Dienerschaft hätte sie in der Aufregung mit hereingebracht und dort abgelegt. Sie muss unten auf der Straße liegen.«

»Bitte schicken Sie doch einmal einen Burschen danach, dass er sie heraufholt«, sagte der Aktuar. »Man darf auch das Unbedeutendste nicht unbeachtet lassen, und wir wollen indessen die vermissten Gegenstände aufnehmen. Das Geld? …«

»Davon gibt Ihnen dieser Brief das genaue Verzeichnis«, sagte Herr Dollinger, »aber ich fürchte fast, dass wir durch das Geld selber nicht auf die Spur kommen werden, indem das Paket fast nur Gold und kleinere Banknoten enthielt, die leicht umzusetzen und schwer zu kontrollieren sind. Eher hoffe ich, durch den Schmuck den Dieb verraten zu sehen, da einige sehr auffällige Stücke, wie ich höre, dabeigewesen sind.«

»Dürfte ich Sie um eine genaue Angabe derselben, heute Abend noch, wenn irgend möglich schriftlich bitten?«, erwiderte nach einigem Besinnen der Aktuar, »diese Einzelheiten würden mich jetzt zu lange aufhalten.«

»Kannst du das geben, Clara?«

»Bis auf die kleinste Nadel hinunter«, sagte das junge Mädchen rasch, »besonders auffällig war eine kleine, rundum mit Brillanten besetzte Brosche, ein Erbstück unserer Großmutter, und ausgezeichnet vor jedem anderen Schmuck, den ich noch in meinem ganzen Leben gesehen habe, durch einen, in der Mitte gefassten, genau dreieckigen, hellblauen und wundervollen Turquis. Mein Schmuck lag gleich dicht dahinter, den aber muss der Dieb in der Eile übersehen haben. Er ist unangerührt geblieben.«

»Das ist allerdings glücklich«, sagte der Aktuar, »wäre wohl auch des Mitnehmens wert gewesen. Lag gleich dabei?«

»Hier in dem roten Kästchen.«

»Aber das ist auch geöffnet worden.«

»Das? – nein, das habe ich wohl selbst geöffnet, um nachzusehen, ob auch alles darin sei, und nicht wieder ordentlich geschlossen worden war. Die Haken waren allerdings auf, wenn ich mich nicht ganz irre, aber der Dieb hat keinesfalls eine Ahnung gehabt, welchen Wert das kleine unscheinbare Kästchen enthalte, oder es stände jetzt nicht mehr da.«

»Sehr wahrscheinlich, hm – aber Sie vergeben wohl nicht, mein Fräulein, alle diese Einzelheiten besonders zu notieren. Wer weiß, ob sie nicht noch einmal wichtig werden. Ah, da kommt auch Herr Henkel wieder. Haben Sie die Zigarre gefunden?«

»Gott weiß, wo sie ist«, gab dieser lachend von sich. »Irgendjemand muss es doch noch der Mühe wert gehalten haben, sie aufzuheben, und in einer Pfeife vielleicht zu verrauchen. Ich bin selber hinuntergegangen, kann sie aber nirgends mehr entdecken. Übrigens ist es auch fast dunkel geworden, und ich werde morgen ganz früh nachsuchen lassen. Der Stummel wird Ihnen freilich nicht viel helfen.«

»Man weiß nicht«, sagte der Aktuar kopfschüttelnd, »je nach der Güte des Tabaks ließ sich vielleicht auf die Schicht der menschlichen Gesellschaft schließen, in der sich unser heimlicher Besuch herumtriebe. Aber das ist allerdings Nebensache. Wo also ist der Dieb hereingekommen? Hier durch diese Tür?«

»Doch wohl vom Garten her durch das Fenster Eures Schlafzimmers«, sagte Herr Dollinger, »denn durch das Haus würde er es sich am hellen Tag im Leben nicht getraut haben.«

»Aber ich möchte meine Seligkeit zum Pfand setzen, dass ich den Schlüssel, der zu unserer Schlafkammer führt, ehe wir fortgingen, herumgedreht und stecken gelassen hätte, sodass von innen ein Öffnen unmöglich war.«

»Und war die Tür noch verschlossen, als Sie zurückkamen?«

»Nein, nur ins Schloss gedrückt, aber der Schlüssel steckte darin.«

»Hm, hm, hm … dann ist der Bursche dort wahrscheinlich hinaus«, sagte der Aktuar, »zur Tür hier hereingekommen und dort zur Notröhre hinaus … hm, muss aber genau mit der Gelegenheit bekannt sein. Mein lieber Herr Dollinger, wir werden Ihre Leute doch ein wenig scharf ins Gebet nehmen müssen, denn ein ganz Fremder kann sich die Zeit nicht so abgepasst haben.«

»Wo kommt der Blumenstock her?«, fragte da plötzlich Clara rasch und erstaunt, auf einen sehr schönen Rosenstock deutend, der in ihrem Fenster zunächst der Tür stand. »Wer hat den jetzt hier heraufgestellt?«

»So lange wir hier sind niemand«, rief Henkel. »War er vorher nicht da?«

»Nicht heute Mittag, das weiß ich gewiss. Aber vielleicht hat ihn eins der Dienstleute mir heimlich hier hereingesetzt.«

»Heimlich? So?«, sagte der Aktuar, »den freundlichen Geber wollen wir also vor allen Dingen einmal herauszubekommen versuchen.«

»Es ist heute mein Geburtstag«, sagte Clara leise und errötend.«

»Oh?«, meinte Herr Ledermann mit einem freundlichen Lächeln, »da tut es mir freilich leid, meine ganz ergebensten Gratulationen zu keiner angenehmeren Zeit vorbringen zu können … will eben nicht passen bei einer solchen Untersuchung, kann es aber doch auch nicht geradezu hinunterschlucken … ich gratulire eben nicht zur Untersuchung.«

»Es muss gewiss ein gesegnetes Land sein«, sagte Henkel mit einem leisen, halb boshaften Lächeln, »wo die Polizei sogar witzig sein kann.«

»Hm«, meinte der lange Aktuar, sich zum Sprecher umdrehend, »die Polizei macht eben keinen Anspruch darauf, und ist das meistens Privateigentum. Aber wir wollen die Zeit nicht mit Allotrien vergeuden. Ist nicht herauszubekommen, wer den Blumenstock hier während Ihrer Abwesenheit in das Zimmer gesetzt hat?«

»Jedenfalls müssen die Dienstboten darum wissen«, sagte der junge Henkel, »und es wird das Beste sein, sie einzeln dazu zu befragen.«

»Allerdings; Einzelverhör hat überhaupt viele Vorteile. Bitte schicken Sie einmal die Leute herauf, dass man vor allen Dingen ihre Gesichter zu sehen bekommt.«

»Aber nicht hier, Väterchen, nicht wahr, nicht hier in meiner Stube?«, bat Clara. »Ich würde den fatalen Gedanken im Leben nicht wieder los.«

»Wir wollen hinuntergehen in das untere Zimmer«, sagte Herr Dollinger, freundlich dem Wunsch der Tochter nachgebend. »Es lässt sich das dort ebenso gut machen wie hier.«

»Manchmal ist der Platz des Verbrechens selber der geeignetste«, warf der Aktuar ein, »aber wie Sie wünschen. Nur um eines möchte ich Sie noch vorher bitten, dass ich mir einmal die Stelle oder das Fenster ansehen darf, durch das sich Ihrer Vermutung nach der oder die Diebe entfernt haben könnten.«

»In unserem Schlafzimmer?«

»Doch durch diese Tür?«

»Lieber Henkel, Sie sind wohl indessen so freundlich, meine Leute unten zusammenzurufen. Wir kommen gleich hinunter. Sie werden heute viel belästigt.«

»Aber ich bitte Sie, bester Herr Dollinger«, sagte der junge Mann, rasch seinen Hut aufgreifend, »wenn ich Ihnen nur darin von irgendeinem wirklichen Nutzen sein könnte. Lieber erlauben Sie mir, vielleicht mit Ihnen einer möglichen Spur zu folgen, denn meine Augen sind darin vielleicht schärfer als manche andere.«

»Es wird in der Dunkelheit nicht eben mehr viel zu spüren geben«, meinte indessen der Aktuar; »das werden wir uns müssen auf morgen früh aufsparen … also jetzt noch das Fenster, wenn ich bitten darf … ich möchte mir nur die Gelegenheit einmal von oben besehen.«

Clara selbst öffnete die Tür und führte den Aktuar mit ihrem Vater in das kleine freundliche Gemach, dessen beide, schon von Blätter schießenden Weinranken überzogene Fenster auf den Garten hinaussahen. Das eine Fenster war allerdings geöffnet gewesen, aber der Rankenwuchs so dicht zusammengezogen, dass sich ein Körper kaum hätte hindurch zwängen können. Die Höhe zum Garten hinunter, und gerade unter dem Fenster sollte ein kleiner Rasenplatz sein, war eben nicht beträchtlich, vielleicht zehn oder zwölf Fuß, und unten umgab niederer aber ziemlich dichter Holunder den Rasen. Im Zimmer selber ließ sich aber nicht das Geringste erkennen, das einen solchen Verdacht unterstützt hätte. Das Einzige, was dafür sprach, war die aufgeschlossene Tür.

Zur Unterstube des Hauses waren indessen die Dienstleute versammelt worden, streng examiniert zu werden. Der Hausmagd vor allen anderen lag die Pflicht ob, die Etage, wenn sie nach unten in die Küche ging, in Abwesenheit der Herrschaft verschlossen zu halten. Diese aber behauptete steif und fest, weinte dabei und rief Gott und alle Heiligen zu Zeugen an, dass sie die Vorsaaltür auch ordentlich, zweimal herum abgeschlossen, den Schlüssel einge gesteckt hätte, und niemanden in der weiten Gotteswelt gesehen habe, der das Haus in der Zeit betreten haben könne. Trotzdem aber sei die Vorsaaltür, als sie wieder nach oben gekommenwar, offen, wenigstens aufgeschlossen, wenn auch zugeklinkt gewesen. Sie hätte selber im Anfang nicht begreifen können, wie das möglich wäre, aber auch nicht weiter darüber nachgedacht und es ihrer eigenen Unaufmerksamkeit zugeschoben. Nach der Abfahrt der Herrschaft sei sie aber nur eine ganz kurze Zeit unten geblieben, um … Sie wollte erst nicht mit der Sprache heraus, aber der Herr Aktuar drängte gar so sehr, um den jungen Herrn Henkel fortreiten zu sehen. Nachher mochte sie vielleicht noch zehn Minuten der Köchin geholfen haben und war dann nicht wieder vom Vorsaal oben fortgekommen, auf dessen Balkon sie gesessen und genäht hatte. In der Zeit habe niemand mehr den Vorsaal oder des Fräuleins Zimmer betreten, darauf wolle sie das heilige Abendmahl nehmen. Der Diebstahl müsse jedenfalls in den paar Minuten, die zwischen dem Fortreiten des jungen Herrn und ihrem eigenen Wiederhinaufgehen nach oben gelegen hätten, verübt sein. Anders war es nicht möglich.

»Wer aber hatte den Blumenstock in des Fräuleins Zimmer gestellt?«

»Einen Blumenstock? Während die Herrschaft fort war?«

»Allerdings, eine Monatsrose, in das Fenster nächst der Tür.«

»Der das getan hat, müsse damit zum Fenster oder in derselben Zeit mit einem Nachschlüssel zur Tür hereingekommen sein, als der Diebstahl verübt worden war, denn sie hätte keine Seele im Haus gesehen.

Die Dienstboten hatten indessen miteinander geflüstert, als der Aktuar das Wort nahm und mit langsam bedächtiger, aber ziemlich ernster Stimme sagte: »Hört einmal, Leute, ich will euch etwas sagen. Ihr habt euch da gut unschuldig gestellt, als ob ihr eben erst auf die Welt gekommen wärt, damit dringt ihr aber nicht durch. Das Geld ist fort. Ihr seid die Einzigen, die unter der Zeit im Haus waren, und eure Pflicht wäre es gewesen …«

»Aber Herr Aktuarius …«

»Ruhe da, wenn ich euch etwas mitzutheilen habe. Euere Pflicht wäre es gewesen, sag’ ich, aufzupassen, daß niemand Fremdes den Platz betrat, der Euch anvertraut war, und für den Ihr also auch in der Zeit zu stehn hattet. Jemand ist aber in der Zeit da gewesen und hat etwas gebracht und etwas geholt. Man wird sich jetzt an euch halten müssen, bis der Jemand ausfindig gemacht ist. Was gibt’s da hinten – was ist gekommen?«

»Dullmanns Rieke von über dem Weg drüben«, sagte die Köchin jetzt, gegen den Aktuar vortretend, »will den Loßenwerder haben heimlich aus dem Haus schleichen sehen. Da haben Sie einen; uns brauchen Sie so etwas nicht unter die Nase zu reiben, Herr Aktuar. Wir sind ehrliche Dienstboten, die sich ihr bisschen Brot sauer genug im Schweiß ihres Angesichts …«

»Ach, halt’ sie das Maul«, fiel ihr aber der Aktuar etwas unsanft in die Rede. »Wer ist im Haus gewesen, Loßenwerder? Und heimlich hinausgeschlichen? Wer hat ihn gesehen?«

»Hier die Rieke von Dullmann’s …«

»Wann war das?«, fragte der Aktuar das jetzt vorgeschobene Mädchen, das feuerrot wurde und ihren einen Schürzenzipfel anfing, wie einen Plumpsack zusammenzudrehen. Erst ganz kurze Zeit vorher hatte sie einer ihrer Freundinnen im Dollinger’schen Haus, und gewiss nicht in der Absicht die Mitteilung gemacht, gleich damit, ohne weitere Warnung, vor die Polizei gezogen zu werden.

»Nun Mamsell, wie hieß sie? Rieke? Wann haben Sie Loßenwerder aus dem Haus kommen sehen, und ist er ruhig hinausgegangen oder geschlichen?«

»Wenn Loßenwerder im Haus war«, sagte Herr Dollinger ruhig, »so wird er auch ordentlich hinausgegangen und nicht geschlichen sein. Der wäre der Letzte, dem ich so etwas zutrauen möchte.«

»Die Rieke behauptet«, fiel aber hier die Köchin in dem Bewusstsein unrechtlich gekränkten Ehrgefühls rasch ein, »dass sie gar nicht auf ihn geachtet haben würde, wenn er sich nicht so schnell und heimlich und dicht unter den Fenstern am Haus hingedrückt hätte. Wer kein böses Gewissen hat, kann gerade und offen gehen.«

»Sie sind aber gar nicht gefragt, zum Henker noch einmal«, rief der Aktuar jetzt ungeduldig werdend. »Wenn Sie jetzt nicht ruhig sind, lasse ich Sie so lange hinausführen, bis wir Sie wieder brauchen. Hier, Mamsell Rieke, wenn Sie sich die Schürze abgedreht haben, dann sein Sie so gut und sagen Sie uns einmal, wo und wie Sie den Herrn Loßenwerder gesehen haben.«

»Ich … ich weiß nicht gewiss«, stammelte das Mädchen verlegen, »aber … aber Loßenwerder kam … bald nachher wie die Herrschaft fortgefahren war …«

»Wie lange nachher?«, fragte der Aktuar.

»Etwa eine halbe Stunde denke ich … vielleicht nicht so lange … kam er viel rascher als es sonst seine Art ist, denn er geht gewöhnlich immer sehr langsam … kam er … kam er aus der Thür heraus, die er geschwind hinter sich zuzog … und dann …«

»Und dann?«

»Und dann hielt er den Kopf nieder, als ob er nicht wollte, dass ihn jemand, der vielleicht von oben heruntersähe, erkennen möchte … hielt er den Kopf nieder und drückte sich … drückte sich dicht am Haus hin, so schnell er konnte, die Straße hinunter und um die Ecke.«

»Und nachher?«, fragte der Aktuar.

»Nu, um die Ecke kann sie doch nicht sehen«, sagte die Köchin.

»Ob Sie still sein wird«, sagte Herr Ledermann jetzt aber wirklich böse gemacht. »Wenzel, wenn mir die Person da jetzt noch einmal das … noch einmal den Mund auftut, dann wissen Sie, was Sie zu tun haben.«

»Sehr wohl, Herr Aktuar«, sagte der Gerichtsdiener.

»Und sind Sie dann nachher nicht herübergekommen und haben das den Leuten im Haus gesagt, was Sie sahen?«, fragte der Aktuar.

»Ich habe ja aber nichts gesehen«, sagte die Rieke.

»Sie haben doch den Loßenwerder gesehen.«

»Ja, aber der geht doch so oft in das Haus hier herein und kommt nachher immer wieder heraus.«

Der Aktuar warf sich ungeduldig herüber und hinüber und sagte endlich mürrisch:

»Unsinn … barer Unsinn … aber hatte er denn irgendetwas in der Hand?  Trug er etwas?«

» Trug? … ja … ja sehen Sie, Herr Aktuar … das kann ich Sie nicht sagen … das weiß ich nicht …«

»Nun Sie werden doch gesehen haben, ob er irgendein schweres Paket in der Hand hatte oder nicht.«

»Ja sehen Sie, das weiß ich Sie wahrhaftig nicht, aber ich glaube es fast«, sagte das Mädchen, »denn ich habe den Herrn Loßenwerder eigentlich noch gar nicht anders gesehen, als dass er irgendetwas getragen hätte; und wenn es nur ein paar Briefe gewesen wären oder ein Regenschirm.«

»Lieber Herr Aktuar, ich glaube Sie sind da auf einer falschen Fährte«, sagte Herr Dollinger jetzt, »man kann einem Menschen allerdings nicht ins Herz sehen, aber für den Loßenwerder möchte ich fast selber einstehen.«

»Mein bester Herr Dollinger«, sagte aber der Aktuar kopfschüttelnd, »es ist das mit den Untersuchungen eine wunderliche Sache. Leute, an die man am allerwenigsten gedacht, von denen man nie das geringste Unrecht vermutet hatte, kommen da oft in den sonderbarsten Verwickelungen vor und – sind schuldig. Ich selber kenne Loßenwerder als einen ordentlichen braven Menschen und will zu Gott hoffen, dass unser ganzer Verdacht unbegründet ist. Das heimliche Schleichen aus dem Haus aber, und dass ihn niemand sonst im Haus gesehen hat, macht ihn verdächtig. Meine Pflicht ist es wenigstens, ihn selbst deshalb zu vernehmen. Ich werde jedenfalls noch heute Abend nach ihm schicken müssen. Unsere Eisenbahnverbindungen sind jetzt zu schnell, und man darf keiner Menschenseele mehr zwölf Stunden Vorsprung lassen, wenn man nicht oft das leere Nachsehen haben will.«

»Passen Sie auf«, sagte Herr Dollinger, »der Loßenwerder wird den Blumenstock zum Geburtstag Claras oben hinaufgetragen haben. Zum Dank dafür kommt der arme Teufel jetzt noch in den Verdacht des fatalen Diebstahls.«

»Wie aber ist er ohne Nachschlüssel durch die verschlossene Tür gekommen«, warf der Aktuar ein.

»Hm …«, sagte Herr Dollinger, »das weiß ich freilich nicht. Nun fragen Sie ihn selber, das wird jedenfalls der kürzeste Weg sein.«

»Um das Verzeichnis der gestohlenen Gegenstände dürfte ich Sie dann vielleicht nachher noch bitten.«

»Meine Tochter wird es gerade jetzt eben schreiben«, sagte Herr Dollinger, »wenn Sie nur noch kurze Zeit warten wollen.«

»Dann dürfte ich Sie wohl bitten, es mir gleich in meine Wohnung zu schicken«, meinte der Aktuar nach kurzer Überlegung, »ich muss vor allen Dingen erst in meine Wohnung und werde dann von da gleich noch einmal ins Büro gehen. Wo ist denn der Loßenwerder wohl am leichtesten zu finden?«

»Ich habe eben nach seinem Haus geschickt«, sagte Herr Dollinger, »aber dort ist er nicht. Paul, der Bursche, behauptet, er ginge manchmal, aber selten, in eine Bierstube an der Ecke der Rößnitzer und Hertzergasse, aber dort war er auch nicht. Es ist übrigens an beiden Orten bestellt, ihn gleich, so wie jemand seiner ansichtig wird, hierherzuschicken.«

»Sehr wohl«, sagte der Aktuar, seine Papiere zusammenpackend und sie dem Gerichtsdiener übergebend. Nach kurzer Begrüßung wollte er sich dann eben entfernen, als er noch einmal in der Tür stehen blieb und, sich scharf auf dem Absatz herumdrehend, fragte: »Apropos – raucht Loßenwerder?«

»Soviel ich weiß, nicht «, sagte Herr Dollinger.

»Doch ja, manchmal«, sagte einer der Leute, »sonntags nach Tisch zum Beispiel regelmäßig eine Zigarre.«

»Hm, so?«, sagte der Aktuar und verließ dann rasch das Zimmer und Haus.

Er hatte übrigens auch alle Ursache, sich zu beeilen, denn daheim wartete ein mit jeder Minute drohender aufsteigendes Unwetter auf ihn, das er mit einer Art von verzweifelten Hoffnung immer noch mit den, dem Gerichtsdiener wieder zum Zweck abgenommenen, und geschäftsmäßig unter den Arm geklemmten Streifen Akten abzuleiten gedachte. Jedenfalls musste ihm der Vorfall im Dollinger’schen Haus, der so viel von seiner Zeit in Anspruch genommen hatte, entschuldigen. Frau Aktuar Ledermann aber hatte sich schon den ganzen Nachmittag über mit immer wachsender Ungeduld vorgenommen gehabt, mit ihrem Gatten gegen Abend einen der vor der Stadt gelegenen Gärten, wo ein Konzert sein sollte, zu besuchen. Die Partie war ihr jetzt – was halfen alle Gründe dagegen – zu Wasser geworden. Es verstand sich von selbst, dass Aktuar Ledermann die Schuld und deshalb auch die Folgen trug.

Frau Aktuar Ledermann hatte sich übrigens vor einigen Tagen, wo sie trotz des nassen Wetters und aller Vorstellungen ihres Mannes spazieren gegangen war, furchtbar erkältet und brachte keinen lauten Ton über die Lippen. Das aber, und dass sie ihren gerechtfertigten Ingrimm nicht mit der vollen Kraft ihrer Stimme hinausgießen konnte über den Gatten, wie sie es – und er auch – gewohnt war, sondern alles, das, was sie ihm zu sagen hatte – und sie hatte ihm viel zu sagen –, herausflüstern mußte, reizte ihren Zorn nur noch mehr.

»Aber liebes Kind, ich versichere dir«, sagte der Aktuar in einem vergeblichen Versuch, den aufsteigenden Sturm zu beschwichtigen, »dass ich mich über anderthalb Stunden beim verwünschten Diebstahl im Dollinger’schen Haus aufgehalten habe und …«

»Und ich versichere dir«, zischte sie, mit einem Gesicht, dem die Anstrengung, die es sie kostete, die Worte hörbar zu machen, einen noch viel unfreundlicheren, ja sogar boshaften Ausdruck gab, »dass ich dich vor anderthalb Stunden schon gerade so erwartet habe wie jetzt, und seit drei Stunden vollkommen angezogen dasitze und auf dich warte.«

»Aber du bist ja gar nicht angezogen, beste Therese.«

»Weil ich mich wieder ausgezogen habe«, rief die Frau. »Glaubst du, ich soll mir ein Beispiel an einem liederlichen Menschen nehmen und bei Nacht und Nebel noch draußen herumstreichen, wie Leute, die das Licht zu scheuen haben? Und dann mit meinem Katharr. Dass ich mir den Tag über im warmen Sonnenschein ein wenig Bewegung machte, das fällt dir nicht ein; aber nachts, wenn der schädliche Tau niederfällt, der für mich gerade Gift wäre, da möchtest du mich jetzt wohl noch hinausschleppen, nicht wahr? Damit ich nur recht schnell unter die Erde käme – o ich armes unglückseliges Weib …«

»Aber Therese, du bist unbillig, ich habe dir doch angeboten, heute Nachmittag mit mir zum roten Drachen hinauszugehen …«

»Weil du wusstest, dass das nichtsnutzige Geschöpf von einer Wäscherin mir mein Kleid nicht vor vier Uhr bringen würde«, zischte die Frau.

»Aber du hast ja noch andere …«

»Am Sonntag zum Skandal der anderen Menschen mit einer solchen Fahne zu einem anständigen Vergnügungsort hinausziehen, nicht wahr? Dir läge natürlich nichts daran, was die Leute über deine Frau sagten. Aber du bist auch an anderen Orten lieber wie zu Hause, und statt deiner Frau einmal ein paar Stunden Gesellschaft zu leisten und nachher mit ihr zusammen auszugehen, musst du natürlich gerade ins Wirtshaus laufen und ein bisschen vor Mitternacht dann wieder nach Hause kommen.«

»Liebes Kind, es ist halb neun Uhr jetzt«, sagte der Aktuar ruhig. »Dann aber Therese«, fuhr er nach kleinem Zögern, mit einer fast gewaltsamen Anstrengung etwas herauszubringen, das er auf dem Herzen hatte, fort, »bist du teilweise mit selbst schuld daran, dass ich mir eben außerhalb des Hauses mein Vergnügen suchen muss.«

»Ich?«, wollte die Frau erstaunt rufen. Der etwas zu hoch eingesetzte Ton blieb aber total aus, und Ledermann sah nur, mit der entsprechenden Gestikulation das zum Höchsten erstaunte Gesicht der Gattin. Dadurch aber vielleicht, und durch die ungewöhnliche, freilich erzwungene Stille etwas mutiger gemacht, fuhr er entschlossen fort: »Ja liebes Kind, du. Anstatt deinem Mann, wenn er von seinen Berufsgeschäften ermüdet nach Hause kommt, den Aufenthalt daheim zu einem freundlichen zu machen, in dem er gerne bleibt, lässt dich dein unglückseliges, heftiges Temperament nicht ruhen noch rasten, sondern du musst irgendeine Gelegenheit vom Zaun brechen, mit mir zu zanken. Gebricht es dir aber vollkommen an Stoff, was jedoch nur in höchst seltenen Fällen zu sein scheint, so bist du mürrisch und verschlossen, machst ihm ein finsteres, verdrießliches Gesicht und sprichst kein Wort.«

Sprachlos nur vor Zorn und Staunen über die unerhörte, bodenlose Frechheit, hatte die Frau indessen dem heute so redseligen Gatten (der aber nicht dabei zu ihr aufzuschauen wagte, sondern bald die rechte, bald die linke Ecke der Stube mit den Augen suchte) angesehen. Es war eine allerdings noch jugendliche schlanke, aber eher magere als volle Gestalt, die Frau Aktuar Ledermann, mit etwas vorstehenden, wenigstens stark markierten Backenknochen und durchdringend scharfen, wenn auch kleinen lichtgrauen Augen, die Lippen schmal und um den Mund in vielen kleinen Fältchen, zusammengezogen, das Kinn jedoch etwas zurückstehend, was ihr ein besonderes und nicht eben angenehmes Profil gab. Auch in ihrem Anzug ließ sie sich zuviel gehen. Der Zauber reinlicher Kleidung fehlte ihr, der selbst der ärmlichsten Tracht etwas Nettes, Freundliches gibt. Die Krause, die das oben am Hals dicht anschließende Kleid einfasste, war schon mehrere Tage getragen und zerdrückt, ebenso zeigten die Manschetten Spuren längeren Dienstes, und die Haube saß ihr verschoben und zu viel zurückgedrängt auf dem, nicht überreich mit Haaren bedeckten Scheitel. Frau Aktuar Ledermann war nicht hübsch, und der Affekt, der ihre Züge in diesem Augenblick mehr entstellte als belebte, nahm ihnen leider auch die letzte Spur sanfter Weiblichkeit, die sonst doch wohl noch hier und da darin verborgen lag. Der bis jetzt mehr durch Erstaunen als Mäßigung niedergekämpfte Zorn gewann aber auch endlich die Oberhand. Während die Anstrengung, sich bei ihrer Heiserkeit Gehör zu verschaffen, ihr Antlitz fast dunkel färbte, keuchte sie, die Arme in die Seite gestemmt, den Oberkörper gegen den überrascht einen Schritt zurückweichenden Gatten vorgebeugt: »Spreche kein Wort, heh? Sagt der Herr?  Prahlt da, »wenn er von Berufsgeschäften nach Hause kommt.« Spreche kein Wort?  Sitzt in der Kneipe den ganzen gesegneten Nachmittag – im roten Drachen und das nennt er Berufsgeschäfte. Vertrinkt das Geld, das wir hier zum notwendigsten Leben bräuchten, und wirft mir jetzt meine Heiserkeit vor, die mir der Himmel geschickt hat, oder mein böses Glück, dem ich auch einen solchen Mann verdanke, dass ich kein Wort spreche und verdrießlich bin. Ich soll wohl tanzen? Eh? Wenn mir das Herz zum Zerspringen voll ist vor Jammer und Elend daheim, und wenn ich den ganzen Tag dasitze, brüte und denke, wie wir auskommen wollen mit den paar Groschen, die zum Sterben und Verhungern zu viel, zum Leben aber zu wenig sind. Dann soll ich nachher, wenn der gestrenge Herr sein Gesicht zeigt, lachen und vergnügt und lustig sein, nur damit der Haustyrann sich nicht unbehaglich fühlt in seinen vier Wänden.«

Heftiger Husten unterbrach hier die Zornesrede der Frau, der die übermäßig angestrengte Luftröhre den Dienst versagte. Der Aktuar Ledermann nahm still und schweigend, den Moment benutzend, ein Licht vom kleinen Seitenschrank, zündete es an der Lampe an und verließ kopfschüttelnd und seufzend das Gemach, sich in sein eigenes kleines Stübchen zurückzuziehen.