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Der Welt-Detektiv Band 6

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Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas 18

Mythen-und-Sagen-der-IndianerKosmogonische Traditionen der Wyandot- Indianer

I

Wie unsere Medizinmänner erzählen, soll die Erde in früheren Zeiten ganz anders gewesen sein. Wir glauben das gerne, denn es ist vernünftig und wahrscheinlich. Ebenso gerne glauben wir auch, dass der Große Geist alle roten Menschen geschaffen hat, und zwar hier in diesem Land, und dass die Behauptung einiger eine unverschämte Lüge ist, dass sie über ein großes Wasser gekommen seien.

Als nämlich der Meister des Lebens die Erde fertig hatte, bedeckte er sie mit seiner großen Hand, sodass sämtliche Indianerstämme im Dunkeln sitzen mussten. Ein junger kräftiger Mann hatte sich aber doch seinen Weg auf die Oberfläche zu bahnen gewusst, wo ihn die malerische Schönheit der ganzen Natur und das blendende Licht eines kolossalen Sterns über alle Maßen entzückten. Auch lief ein großer Büffel langsam an ihm vorbei, der war über und über mit Blut bespritzt, denn ein mächtiger Pfeil stak in seinem Körper. Kurz danach erschien auch der Jäger, der das Tier geschossen hatte. Es war nämlich der Schöpfer selbst, der dem Indianer zeigen wollte, wie er und die anderen sich ernähren müssten, wenn er seine Hand von ihnen abzöge. Dann lehrte er ihn auch noch, wie man den Tieren das Fell abzieht und Kleider daraus macht. Ebenso auch die Kunst, wie man das Fleisch am Feuer röstet und wie man es drehen muss, damit es auf der einen Seite nicht anbrennt und auf der anderen nicht roh bleibt.

Danach kamen die übrigen Indianer unter der Hand hervor. Jeder Stamm erhielt seinen besonderen Häuptling, und über alle wurde dann noch ein gewaltiger Hauptchief gesetzt, der eine glänzende Perlenschnur um seinen Hals hatte. Dieser hielt eine lange Rede und gab viele Gesetze, die noch bis heute gültig sind. Dann wurden einige große Tiere getötet und ein allgemeines Freudenfest gefeiert.

 

II

Der Große Geist schuf das Gute und das Böse – in Gestalt zweier Brüder nämlich. Der Erste pflanzte allerlei nützliche Gewächse und angenehm duftende Blumen, während der andere seine Lebensaufgabe darin suchte, die Werke seines Bruders nächtlicherweile zu zerstören und dafür kahle Felsen, mageres Wild und allerlei Krankheiten zu schaffen. Der Gute versuchte zwar den Schaden, den sein unglückseliger Bruder ständig anrichtete, so schnell wie möglich wiedergutzumachen, aber er kam dadurch mit der Durchführung seiner beglückenden Ideen nicht so recht vorwärts, wie er eigentlich im Sinn hatte, und er beschloss daher, seinen Bruder zu vernichten. Er wollte mit ihm zusammen wettlaufen, und wer besiegt würde, müsste sich nach dem Willen des Siegers richten. Das war dem Bösen recht, und er willigte ein.

»Nun sage mir, mein Bruder«, sprach der Gute, »was fürchtest du am meisten?«

»Stierhörner«, erwiderte der. »Und wovor ist dir bange?«

»Vor Schlingen, die aus Gras geflochten sind.«

Das freute denn den Bösen recht, und augenblicklich lief er hin zu seiner Großmutter, die ihre Zeit mit derartigen Flechtereien vertrödelte, holte eine große Menge davon und bestreute den Weg damit, den sein Bruder zu laufen hatte.

Am folgenden Morgen begann der Gute den Wettlauf. Gegen Mittag fühlte er sich etwas schwach und matt, und da er keine andere Speise in der Nähe und auch nicht viel Zeit zu versäumen hatte, so aß er alle Grasflechtereien auf, die vor ihm lagen, und erreichte das Ziel doch noch vor seinem Bruder.

Tags darauf hatte der Böse zu laufen. Seine Bahn war mit großen Haufen Stierhörnern beworfen, die ihn so sehr ermüdeten, dass er bald kraftlos niedersank und verschied. Nun lief der Gute triumphierend zu seiner Großmutter und erzählte es ihr. Aber diese machte ein bitterböses Gesicht dazu, denn der Böse war ihr Liebling gewesen.

In der folgenden Nacht erschien plötzlich der Geist des Bösen vor der Hütte des Guten und begehrte Einlass. Aber der versagte ihm diesen.

»Nun«, rief ihm der Böse darauf zu, »wenn auch meine Seele bei dir kein Obdach findet, so findet sie es doch sicher im fernen Nordwesten, wo ich allen denen eine Heimat bereiten werde, die hier in meine Fußstapfen treten!« Dann flog er weg und ließ sich nie mehr in der Nähe guter Menschen blicken.

Als der Gute diesen Störenfried endlich für immer losgeworden war, ging er wieder einmal hinaus in die freie Natur, um hier und da nachzusehen, ob nichts seiner Hilfe bedürftig sei. Plötzlich bemerkte er eine Gestalt vor sich hergehen, die sah beinahe geradeso aus wie er, doch war sie nackt. Er beeilte sich, dass er zu ihr kam, und fing dann ein Gespräch an.

»Wer bist du?«, fragte der unbekleidete Mann. »Ich bin der Herr der ganzen Schöpfung, und alles, was du vor dir siehst, ist von meiner Hand«, erwiderte der Gute.

»Was?«, schrie der andere laut auf. »Ich bin so stark wie du, und ich bin es, der alles Lebendige geschaffen hat!«

»Nackter Mann, du bist im Unrecht! Die ganze Welt und alles, was darauf atmet, ist die Arbeit meiner Kraft, und ich entsinne mich nicht, solch ein freches Geschöpf, wie du bist, geschaffen zu haben!«

»Gut, so sollst du meine Macht sehen. Lass uns versuchen, wer von uns beiden der Stärkste ist!«

Damit war denn der Gute einverstanden, und der Nackte sagte: »Sieh, dort vor uns steht ein hoher Berg. Rufe ihn, zu dir zu kommen, und ich werde danach dasselbe tun.«

Der Gute fiel auf seine Knie und fing an, inbrünstig zu beten, aber das half nichts, denn der Berg rührte sich nicht von der Stelle. Nun band ihm sein Gegner eine Binde vor die Augen, nahm seine magische Rassel und fing damit schrecklich an zu spektakeln, und als er ihm darauf die Binde wieder abnahm, sah der Gute, wie der große Berg auf ihn zukam und sich hoch in die Wolken erhob. Dann rasselte der Nackte abermals, und der Berg nahm seinen alten Platz wieder ein.

Der Gute war also besiegt. Da er in der einen Hand ein Schwert und in der anderen ein »medizinenes« Päckchen hielt, in dem seine Kraft bestand, so wollte er dem Sieger auch seine Kunststücke zeigen und hieb einen dicken Baum mit einem Schlag entzwei. Aber der Nackte fügte als Antwort darauf beide Teile wieder so fein zusammen, dass kein Mensch die geringste Marke daran sehen konnte. Dann nahm er seine dicke Kriegskeule, schlug damit den stärksten Eichenbaum in Fetzen und flickte alle Stücke wieder ebenso fest aneinander, wie sie vorher waren.

Da ihm dies der Gute nicht nachmachen konnte, so drückte er dem Nackten mit erzwungener Freundlichkeit die Hand und ging tiefbetrübt nach Hause.

Seine Großmutter hatte seit langer Zeit kein so freundliches Gesicht gemacht wie diesmal bei der Rückkehr ihres Enkels, der sich darüber so sehr ärgerte, dass er sie zuerst gehörig durchbleute und dann hinauf in den Mond warf, wo sie, wie die alten Medizinmänner sagen, noch heute zu sehen ist.

Quelle:

  • Karl Knortz, Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas, Jena 1871