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Gold – Kapitel 8.1

Gold-Band-1Friedrich Gerstäcker
Gold
Ein kalifornisches Lebensbild aus dem Jahre 1849
Kapitel 8 Teil 1
Eine Vogelperspektive

Am anderen Morgen mit Tagesanbruch stieß ein kleiner Dampfer, der Goldfisch, mit einer Anzahl von Passagieren vom sogenannten langen Werst von San Francisco ab.

Es war ein etwas langsames Boot, und man hatte deshalb die frühe Abfahrtsstunde gewählt, den anderen Fahrzeugen die eiligsten Passagiere vornweg zu nehmen. Dass sie angeführt waren, merkten diese dann erst gewöhnlich, wenn sie von dem Nächstfolgenden unterwegs überholt wurden.

Kaum räumte es den Platz, als der nach Stockton am San Joaquin bestimmte Dampfer The golden Gate dort anlangte und mit rauchenden Schornsteinen seine Glocke läutete.

Ein hagerer langer Mann, der ein ziemlich schweres Gewicht unter seinem fadenscheinigen Mantel zu tragen schien, kam mit raschen Schritten das Werft entlang, blieb an der Planke des für den San Joaquin bestimmten Dampfers eine kleine Weile stehen, forschend das lange schmale Werft zurückzuschauen, und ging dann eilig an Bord. Wenige Minuten später läutete die letzte Glocke, und das Boot wollte eben abstoßen, als ein kleiner Trupp Deutscher nach der Werft heruntergerannt kam, und schon von Weitem mit den Tüchern winkte und schrie und Zeichen gab, noch an Bord genommen zu werden. Es waren Leute verschieden Alters, alle aber in außerordentlicher Eile, und nur ein Einziger schien diese nicht zu teilen. Mit weit langsameren Schritten, eine lange Pfeife im Mund, folgte er den Übrigen und schaute sich dabei sehr sicher und selbstgefällig um, als ob er fest überzeugt gewesen wäre, dass das Boot hätte auf ihn warten müssen.

Der Kapitän des Dampfers hielt natürlich, um sich den Verdienst nicht entgehen zu lassen. Die in Stunden bewerkstelligte Überfahrt nach Stockton – ohne Provisionen unterwegs – kostete damals nämlich noch 30 Dollar pro Kopf, und diese sechs Passagiere zahlten demnach die Kosten der ganzen Reise.

Die Ersten waren auch schon lange an Bord gesprungen, und selbst der Schwarze, den sie sich mitgenommen und der ihr sämtliches Gepäck auf einem Handkarren führte, war in einem scharfen Trab mit seinem leichten Fuhrwerk über die Planken hingerollt. Nur der letzte Passagier übereilte sich nicht, und wenn er seinen Schritt auch in etwas beschleunigte, geschah das doch sichtbar mit einer gewissen Angst, sich ja Nichts zu vergeben.

»Justizrat, Sie werden wahrhaftig zurückgelassen!«, schrie ihm der eine der Vorangeeilten – Herr Hufner – ängstlich zu.

Der Justizrat antwortete gar nicht darauf und sah nach rechts und links hinüber, und blies die blauen Dampfwolken seines deutschen Knasters wohlgefällig in die klare reine Morgenluft hinaus.

»Stoßt ab!«, rief da der Kapitän seinen Leuten zu. »Wenn der Bursche so viel Zeit hat, wollen wir ihm den Spaß nicht verderben. Aber halt«, -unterbrach er sich da plötzlich. »Da hinten kommt noch jemand, der in größerer Eile ist. Schade, ich hätte den mit der langen Pfeife gern sitzen lassen.«

Hinter dem Justizrat her kam ein Mann in einer kalifornischen Serape, der schon von Weitem mit der Hand winkte. Nur erst als er nahe genug gekommen war, um das vorn aushängende Schild »Nach Stockton« zu lesen, mäßigte er seinen Schritt.

»Nun Sir? Mit in die Minen?«, rief ihm der Kapitän zu.

»Legt Ihr in Sausalita an?«

Der Amerikaner schüttelte mit dem Kopf und winkte seinen Leuten das Boot freizumachen. Der Justizrat war eben an Bord getreten.

»Dort drüben geht das Sausalita-Boot«, rief er von seinem Deck zurück.

»Teufel!«, schrie der in der Serape, »ich dachte, um sechs Uhr ginge das erste Boot.«

»Um halb sechs das Erste nach Sacramento. Stoßt ab«, rief der Kapitän.

Der in der Serape stand wie unschlüssig und stampfte nur ingrimmig seinen Fuß auf den Boden.

»Wollt Ihr nach Sausalita, Herr?«, rief ihn da ein kleiner Junge zu. »Dort, die Jenny Lind fährt in zehn Minuten ab, und holt den Goldfisch noch ein, ehe er seine Flossen am Land reibt.«

»Dank dir, mein Bursche!«, rief der Fremde und warf ihm einen Dollar zu, den der Junge mit einem Schlenker des rechten Beines, das wahrscheinlich seinen Dank ausdrücken sollte, in die Tasche steckte. In demselben Augenblick schob der The golden Gate vom Ufer ab, und aus einem der kleinen Kajütfenster, sein Gesicht durch den vorgehaltenen Arm so weit gedeckt, dass nur eben die kleinen zusammengekniffenen Augen Raum behielten, blickte Mr. Smith mit boshaftem Lächeln nach seinem auf dem Werft zurückbleibenden Kameraden und Helfershelfer Siftly hinüber.

Sowie der Platz an der Landung frei wurde, dampfte denn auch das kleine Boot, die Jenny Lind heran, und als sie zum dritten Mal geläutet hatte, folgte sie dem vorangegangenen Goldfisch nach Sausalita.

Drüben über den östlichen Bergen – dem Sehnsuchtsziel von all den Tausenden, die hier gelandet waren, war die Sonne aufgegangen und goss ihr volles Licht auf, durchkreuzte Bay nieder.

Und welch ein Unterschied lag zwischen jetzt und einem einzigen Jahr – welch riesenhaften Fortschritt sollten diesem Ort die nächsten zwölf Monate bringen! Vor einem Jahr noch stand hier ein kleines dürftig belebtes Städtchen aus ungebranntem Lehm gebaut. Kaum mehr als ein großes Dorf, mit keinem Handel weiter als etwas Talg und Häute auszuführen und etwa anlaufende Walfischfänger mit frischem Wasser und Fleisch zu versorgen. Und jetzt?

Dicht gedrängt, einem großen Jahrmarkt nicht unähnlich, mit Zelt an Zelt, mit Bude an Bude, nur hier und da von einzelnen Holzhäusern überragt, lag die aus dem Boden gewachsene Stadt der Einwanderer San Francisco. Über das ganze, die Bay sichelförmig umschließende Ufer, von kahlen Küstenhügeln eingeschlossen, dehnte sie sich aus, und rings um ihren Rand, wohin das Auge auch sah, flatterte Leinwand zu neuen Zelten gespannt, hämmerten Leute und rammten Pfosten ein, und setzten Zelle an Zelle zu dem wunderlichen Bau.

Und schon jetzt genügte ihnen der gegebene Raum nicht mehr. An den steilen Hängen kletterte es hinauf, das unruhige rastlose Menschenvolk, und riss mit Spitzhacke und Brechstange Stück um Stück los vom alten Berg, nur ebenen Boden für ein Zelt mehr zu bekommen, und in die Bay baute es sich auf der anderen Seite hinein, mit langen werftähnlichen Brücken, ja auf fest geankerten Schiffen, die zu Magazinen und Wohnhäusern umgewandelt wurden, und die plötzlich – nur ein einziges Jahr später – mitten in den Straßen der zu ihnen hinaus gebauten Stadt lagen.

Wie das schaffte und arbeitete überall – auf dem Wasser, auf dem Land, mit Handwerkszeug und Rudern ringsumher. Wie die kleinen winzigen Gestalten da drüben am Ufer so geschäftig hin und her liefen und mit schwergeladenen Karren Güter auf Güter – Futter für das nächste Feuer – in ihr Zeltnest schleppten.

Und wo ist denn die Brandstelle von dem Feuer, das vor kaum vierundzwanzig Stunden erst einen Teil der Stadt in Asche gelegt hatte? Du kannst sie deutlich noch erkennen, Freund – es ist der ganze weite Raum, auf dem die weißeren Zelte und helleren Häuser stehen. Die Leute hatten ja volle vierundzwanzig Stunden Zeit, und alles ist schon fast wieder aufgebaut.

Und Mast an Mast bedeckt die ganze Reede unserer neuen Stadt. Mast an Mast, so dicht die Schiffe sich nur legen durften, durch das Herumschwenken bei Ebbe und Flut vor ihren Ankern nicht gefährdet zu werden. Hier ein Dreimaster, der mit vollgedrängtem Deck und flatternden, eben losgeworfenen Segeln um Clarks Point herumschießt und, fast erschreckt über die zahlreiche Gesellschaft, rasselnd seine Anker fallen lässt und dann mit der eindrängenden Flut vor seiner Kette herumschwingt, als ob er den Platz so rasch als möglich nur wieder verlassen wollte. Dort eine Brigg, die ihre Ladung mit schwer gemieteten Leuten löscht, denn die Matrosen sind ihr schon lange davongelaufen. Da drüben ein Schoner, der eben mit frischem Gemüse und einer ganzen Ladung goldlustiger Insulaner von den Sandwichinseln herüberkommt.

Auf allen diesen Fahrzeugen ist aber doch noch Leben und Bewegung. Sie passen zu dem Bild um sie her. Der ganze Kern dieses fest vor seinen Ankern liegenden Mastenwaldes dagegen sieht aus, als ob die Pest darübergestrichen wäre und die Besatzung hinübergeweht hätte in ihr nasses Grab.

Kein Segel mehr an den Rahen, keine Wache an Deck, kein niet- und nagelloses Stück selbst zwischen den Bulwarks. Leer und öde liegen die Schiffe dort auf dem stillen, unbewegten Wasser der Bay, und ihre kahlen Masten schauen sich vergebens nach der Mannschaft um, die lange schon, mit Spitzhacke und Schaufel in die Berge gezogen ist.

Matrosen sind überhaupt ein leichtes und luftiges Volk, das nur dem Augenblick lebt – birgt doch die nächste Reise schon für sie vielleicht den Tod. Dass die nicht auf ihren Schiffen, mit einem mageren Lohn aushalten würden, wo sie eine rasche Flucht und ein kurzer Marsch in den Bereich von fabelhaft geglaubten Schätzen setzen konnte, ließ sich denken. Sie alle desertierten, wie sich nur nach dem ersten Fallenlassen des Ankers die erste Gelegenheit für sie bot. Was half es den Kapitänen, dass sie ihnen das bisher verdiente Geld, und wären es fünfzig oder hundert Dollar gewesen, zurückbehielten? Dort drüben fanden sie vielleicht in einer Schaufel voll so viel, und von manchen Fahrzeugen waren sogar Kapitän und Steuerleute ihrem Beispiel gefolgt, das arme Schiff sich selber überlassend.

Was sollten sie auch jetzt mit diesen großen Seeschiffen machen? Wo hätten sie in diesem Taumel, der alles erfasst hatte, Leute finden wollen, sie wieder fort von hier zu führen? Wer hätte jetzt Kalifornien verlassen mögen?

Nur die kleinen, nicht tiefgehenden Schoner, die es gewagt hatten, Kap Horn zu umschiffen, fanden sich hier belohnt, denn ihrer bedurfte man, Provisionen, Bauholz, Werkzeuge und überhaupt alle die Minenbedürfnisse den Sacramento und San Joaquin hinauf in die dort rasch aufblühenden Städte Sacramento und Stockton zu schaffen. Diese konnten auch ihren Leuten acht Dollar Lohn pro Tag zahlen. Fracht und Passage standen damit im Verhältnis und die Eigentümer wurden reich dabei.

Überall an der Bay baute man zugleich kleine Dampfer, dem dringenden Bedürfnis solcher Fahrzeuge abzuhelfen. Dampfmaschinen waren an Bord größerer Schiffe von den spekulierenden Yankees schon mehrfach eingeführt und kleine Kutter, ja selbst Walfischboote wurden dazu eingerichtet – die Letzteren voneinander gesägt und verlängert, und mit einem breiten Deck überbaut, die leichte Maschine zu tragen. Es kam ja nicht darauf an, wie lange sie hielten. Zu drei oder vier Fahrten waren sie ja doch wohl tauglich, und wenn sie dann zusammenbrachen – was tat’s – sie hatten ihren Zweck erreicht, und sich doppelt und dreifach bezahlt gemacht. Dass Menschenleben dabei in Gefahr kamen, konnte kein Gegenstand sein. Menschenleben waren das Billigste in ganz Kalifornien.