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Steamtown – Die Fabrik

Steamtown – Die Fabrik

Es muss so um März 2009 gewesen sein, als ein dreiköpfiges Autorenteam eine Idee, die in ihrem Gedanken immer mehr an Gestalt annahm und sich Schritt für Schritt zu einem E-Roman entwickelte. Dabei handelt es sich um einen Mix aus geschriebenem Improvisationstheater und ausgeübtem Discovery-Writing, wie es Stephen King praktiziert, wobei im Fortschreiten der Story Möglichkeiten dargeboten werden, bei denen die Leser mitbestimmen, Gastautoren hinzugezogen können sowie das gesprochene Wort Anwendung findet. Wie Letzteres funktionieren kann, stellten der Autor Carsten Steenbergen und der Hamburger Schauspieler und Steamtown-Hörbuchsprecher Detlef Tams mehrfach unter Beweis.

Am 30. Mai 2015 erscheint Steamtown – Die Fabrik von Carsten Steenbergen und T.S. Orgel als Klappenbroschur und E-Book im Papierverzierer Verlag Essen. Es ist ein außergewöhnlicher Steampunk-Thriller mit sehr intensiven Charakteren.

»Steamtown ist nach einem kometenhaften Aufstieg in den letzten 100 Jahren heute die führende Großstadt an der westlichen Küste der Zentralregion. Betrug ihre Einwohnerschaft noch vor knapp 80 Jahren magere 20.000 Seelen, so ist mit dem Durchbruch und der Einführung der städtischen Plasmabrunnen ihre Größe inzwischen auf weit über eine Million Bewohner gestiegen. Zahlreiche Ortschaften, lassen Sie mich nur Greenville, Sampton oder Bakers Grove nennen, die noch vor wenigen Dutzend Jahren weit vor den Toren der Stadt lagen, sind heute wenig mehr als Waben im stetig wachsenden Bienenstock, der sich Steamtown nennt. Selbst die königliche Residenz auf Morgans Hill, obschon von weitläufigen Parks umgeben, ist lediglich eine Insel im Meer der Dächer, Manufakturen und Essen unserer Metropole.

So wie bei Tag Dampf und Qualm als Zeichen der unermüdlichen Produktivität den Himmel verdunkeln, strahlt er des Nachts im grünen und bläulichen Widerschein der Plasmalaternen. Dies ist nur ein Beispiel der zahlreichen Erfindungen und öffentlichen Einrichtungen, die das Leben auf den Straßen unserer Stadt angenehmer und nicht zuletzt auch sicherer machen. Und welche die Bewunderung und den Neid unserer Nachbarn gleichermaßen auf sich ziehen. Steamtown ist tatsächlich die Stadt von morgen, jener Ort unserer Zivilisation, an dem die Zukunft unserer Welt geschmiedet und die Schatten der Vergangenheit überwunden werden. Dieser uns eigene Forscherdrang und wahre Pioniergeist sind es, die dafür sorgen, dass wir unzweifelhaft zu den großen Weltmetropolen unserer Zeit gehören.«

David Lyeman, Steamtown Daily, 12.4.1748

Weitere Informationen unter papierverzierer.de und steamtown.de

Das Buch

Carsten Steenbergen, T.S. Orgel
Steamtown – Die Fabrik
Steampunk-Thriller, Klappenbroschur, Papierverzierer Verlag, Essen, Mai 2015, 400 Seiten, 14,95 Euro, ISBN: 9783944544342, E-Book, 6,99 Euro, ISBN: 9783944544359
Kurzinhalt:
Auf den Stufen der Bakers Hall von Steamtown liegt eine bestialisch zugerichtete Leiche. Der junge Agent Eric van Valen wird zusammen mit dem abgehalfterten Pater und Ætheromanten Siberius Grand und dem seltsamen Forensiker Mister Ferret vom Ministerium Seiner Majestät beauftragt, den Mörder zu finden – oder wenigstens jemanden, der schuldig genug aussieht. Doch was als simple Mordermittlung in der Unterwelt der von Plasmalicht und Kohlefeuer erhellten Stadtmetropole beginnt, scheint tiefer zu gehen und konfrontiert sie mit ihren düstersten Albträumen. Albträume, in denen höllische Geschöpfe auf die drei Ermittler lauern, dunkle Vergangenheiten und eine Verschwörung, die die Stadt Steamtown in ihren Grundfesten erschüttert.

Die Autoren

Der Mönchengladbacher Autor Carsten Steenbergen mit niederländischen Wurzeln wurde 1973 in Düsseldorf geboren. Aufgewachsen am Niederrhein, blieb er der Gegend auch später verbunden und arbeitet dort heute als Softwarebetreuer und Programmierer.

Seine Begeisterung für Literatur begann bereits als jugendlicher Vielleser. Jahre später kam schließlich der unbändige Drang hinzu, selbst spannende Abenteuer zu verfassen. Seitdem publiziert er Romane und Hörspiele und bringt diese auch gerne multimedial auf die Bühne. Seine Leidenschaft gehört hierbei der Phantastik, der Retrofuturistik wie Steampunk und dem Thriller sowie einigen anderen Genres.

Carsten Steenbergen lebt mit Frau und Tochter nahe der niederländischen Grenze.

carsten-steenbergen.de

T. S. Orgel ist das gemeinsame Pseudonym der Brüder Tom und Stephan Orgel.

Tom Orgel studierte Grafik-Design an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg. Er lebt im unterfränkischen Spessart und arbeitet als selbstständiger Grafik-Designer und Texter.

Stephan Orgel ist Verlagskaufmann und studierte Betriebswirtschaft. Er lebt und arbeitet in Hessen. Neben einer Reihe von Kurzgeschichten, die von Horror über Mystery und Fantasy bis Humor ein weites Feld abdecken, erscheint seit 2012 ihre High-Fantasy-Trilogie Orks vs. Zwerge bei Heyne, für deren ersten Band sie im Oktober 2013 den Deutschen Phantastik Preis erhielten. Steamtown war ihr erstes gemeinsames Projekt mit Carsten Steenbergen und ihr erster Ausflug in die Welt des Steampunk. Mit Sicherheit aber nicht der Letzte.

ts-orgel.de

Leseprobe

 

Prolog

 

Verdammter Nebel! Hartlefield wäre beinahe in einen Laternenpfahl gerannt. Gehetzt blickte er sich um und versuchte, sich neu zu orientieren. Stinkende Nebelschwaden waberten im grünlichen Licht der Laterne und verwandelten alles, was sich mehr als eine Armeslänge entfernt befand, in vage Schemen. Augenblicke zuvor war er an der Einmündung zur Crickade Lane vorbeigekommen. Also musste er sich irgendwo zwischen Tanner Street und Slaughter House befinden.

Wie überaus passend, schoss es dem untersetzten Mann durch den Kopf. Keuchend stolperte er weiter. Der Marktplatz … Wenn ich es bis dorthin schaffe, bin ich gerettet. Dort steht immer ein Polizist. Selbst zu dieser Nachtzeit und bei diesem Wetter! Noch zwei Häuserblocks. Zwei verdammte Blocks nur! Hartlefield schnaufte bereits wie eine alte Dampfmaschine kurz vor dem Platzen.

Ich hätte mich mehr der Leibesertüchtigung widmen sollen, dachte er, und ein gesünderes Dasein führen. Und regelmäßiger in die Kirche gehen. Überhaupt: Wo waren eigentlich die ganzen Prediger, wenn man sie einmal im Leben wirklich gern gesehen hätte? Tagein, tagaus standen sie an den Straßenecken und predigten Nächstenliebe, Armut, Verzicht und all diese Sachen. Aber wenn das Wetter schlecht wurde, dann verzogen sie sich lieber in die nächste Kneipe und versoffen die erbettelten Spenden. Dabei wäre das jetzt der geeignete Zeitpunkt, eine gestrauchelte Seele zu retten, die alles tun würde, nur um von der verdammten Straße herunterzukommen.

Irgendwo hinter ihm schepperte etwas auf das Straßenpflaster. Hartlefield fuhr so heftig zusammen, dass er ins Stolpern geriet. Dann beschleunigte er sein Tempo, so gut es eben noch ging. Ruhig Blut, vermutlich bin ich ihnen längst entkommen, versuchte er sich selbst zu überzeugen. Das war nur ein streunender Hund. Einer, der in den Mülltonnen nach Fleischresten wühlt. Das war immerhin möglich. Straßenköter waren in dieser Gegend nicht selten. Sie fanden in den engen Gassen und verwinkelten Hinterhöfen immer etwas zum Fressen. Andererseits: Besonders wahrscheinlich war es nicht – denn die Hunde waren in der Regel klüger als die Prediger. Bei dem Wetter hatten sie sich lange vor den Betbrüdern in irgendwelche geschützten Ecken verzogen. Gott, wie er sie beneidete!

Dort! Vor Hartlefield wurde es heller. Einige Schritte weiter wichen die Häuser zurück. Der Marktplatz. Der erstickende Nebel verhüllte die große Fläche zwischen den desolaten Häuserfronten des Chester Market Square und gab dem Flüchtenden das Gefühl, ins Nichts zu laufen. Links! Er stolperte über das Kopfsteinpflaster zur nächsten der gusseisernen Laternen und von dort aus weiter zur übernächsten. Die Lampen hingen wie grüne, flackernde Irrlichter im Dunst. Die Schwaden glitten beiseite, für einen Augenblick nur, und gaben den Blick auf zwei oder drei Holzbuden frei, die sich wie die Höcker von urzeitlichen Leviatanen in der Dunkelheit abzeichneten. Dann wallte die nächste Nebelwand heran, sodass Hartlefield beinahe in einen der Brunnen gestolpert wäre. Er prallte gegen den schmiedeeisernen Zaun und stieß sich wieder davon ab, ohne auf die Schrammen zu achten, die die rostigen Verzierungen an seinen Händen hinterließen. Ein gigantischer Bronzeengel ragte über ihm auf und schien ihn teilnahmslos aus dem Dunst zu mustern. Weiter, nur weiter! Irgendwo vor ihm musste der Polizist Wache stehen. Wo, verdammt noch eins? Hartlefield ließ alle Vorsicht fahren. Hilfe!, brüllte er. Oder wollte er brüllen. Was sich seiner Kehle entrang, war ein Krächzen, das selbst in seinen Ohren lächerlich dünn klang. Der Nebel verschluckte den Laut. Eine neue Welle der Angst durchflutete ihn. Was, wenn er den Verfolgern verraten hatte, wo er war? Sofern sie ihm noch auf den Fersen waren. Sofern? Im Grunde seines Herzens wusste er, dass sie ihn noch immer verfolgten. Sie würden nicht aufgeben. Das taten sie nie.

Denk logisch, John! Der Polizist steht wahrscheinlich vor der Bakers Hall. Die Gilde bezahlte schließlich gut genug dafür, dass die Schutzleute ein zusätzliches Auge auf ihre Besitztümer warfen. Links! Wieder hörte er ein Geräusch hinter sich. Näher diesmal. Von wegen Hunde! Um diese Zeit ist doch kein Köter auf dem Platz! Unwillkürlich warf Hartlefield einen Blick über die Schulter. Nichts! Er stolperte, ruderte mit den Armen, suchte verzweifelt nach Halt und schlug der Länge nach hin. Sein Fuß hatte sich zwischen zwei Pflastersteinen verkeilt. Schmerzhaft klatschte er auf das Kopfsteinpflaster und schürfte sich Hände und Knie auf. Der Aufschlag trieb ihm die Luft aus den Lungen und ließ Funken vor seinen Augen tanzen. Das Gesicht landete in einer Pfütze aus brackigem Abwasser. Er schmeckte Fäulnis und Blut.

Aufschluchzend schüttelte er die Benommenheit ab und rappelte sich wieder auf die Füße. Vorwärts! Er stolperte über die glitschigen Steine auf die nächste Insel aus grünlichem Licht zu. Immer nur weiter. Nicht umsehen! Nur ein paar Schritte noch und du hast es geschafft! Tränen liefen Hartlefield über die Wangen und mischten sich mit dem Blut, das ihm aus der Nase rann. Wo ist dieser verfluchte Polizist?! Im gleichen Moment lichtete sich der Nebel und Hartlefield erblickte die vertraute Silhouette: Schutzhelm, Uniform, Schlagstock. An der Koppel baumelten Handschellen und das Holster der Dienstwaffe. »Dank sei dem Herrn!« Er war gerettet.

Der Polizist drehte sich zu ihm um und tippte grüßend an seinen Helm. »Sie sind ja völlig außer Atem«, stellte er fest, als Hartlefield vor ihm auf die Knie fiel. »Ein paar Leibesübungen hätten Ihnen beizeiten bestimmt gut getan, John.«

Hartlefield lachte auf. Das Geräusch ähnelte eher einem Gurgeln. »Das hätten sie, mit Sicherheit.« Keuchend rang er nach Atem. »Sie … Sie müssen mir …« Er stockte. John? Grauen wallte in ihm auf, dicker als der Nebel um ihn herum. Ein Wimmern entrang sich Hartlefields Kehle, als ihm klar wurde, dass der Schutzmann ihn mit seinem Namen angesprochen hatte. Plötzlich verstand er. Langsam sah er in das Gesicht des Polizisten, der über ihm aufragte. Warme Nässe durchtränkte seine Hose und eine hauchfeine Dampfwolke vermischte sich mit dem herankriechenden Dunst.

Das letzte, was Hartlefield in seinem Leben sah, waren die stechenden Augen des Polizisten, die ihn unbarmherzig musterten. Ebenso endgültig und dunkel wie das Mündungsloch der Dienstwaffe, das auf seine Brust gerichtet war.

 

Kapitel I

Der Tote von Bakers Hall

 

Mit lautem Knarren öffnete sich die Eingangstür der Spelunke. Das Geräusch ließ eine Welle der Stille durch den schummrigen Raum schwappen, als Dutzende Gespräche erlahmten und nervöse Blicke zur Tür huschten. Hier und da fuhr eine Hand reflexartig unter Wams oder Mantel, wohl, um nach einer Waffe zu tasten. Dann erkannten die Gäste den Neuankömmling, der jetzt in das diffuse Halbdunkel der »Buckligen Ratte« trat. Die Stimmung entspannte sich merklich. Augenblicke später flammten die Gespräche wieder auf, durchsetzt mit rauem Gelächter. Die mehr als halbseidenen Gestalten, die sich dicht um die verrauchten Tische drängten, hatten den Ankömmling als einen der Ihren erkannt und wandten sich wieder den eigenen Geschäften zu. Geschäfte der Art vermutlich, von denen das Ministerium die wenigsten auch nur halbwegs als legal einstufen würde. Wenn Grand es sich recht überlegte, wahrscheinlich nicht mal ein Einziges. Nicht, dass es ihn sonderlich interessiert hätte. Was noch gelinde ausgedrückt war – eigentlich ging es ihm gepflegt am Arsch vorbei. Er war hier, um seinen Feierabend zu genießen. Allein und ohne Störung. Und dafür war das der perfekte Ort.

Pater Siberius Grand sog den Geruch von billigem Fusel und saurem Schweiß ein, der ihn wie einen alten Freund umarmte. Er ließ die Tür zufallen und bahnte sich seinen Weg zu der Eichentheke, welche die gesamte linke Seite des Raumes einnahm. Über ihm an der Decke drohte ein ehemals opulenter Kronleuchter, Zeichen der Pracht vergangener Tage. Vereinzelte, grünlich flackernde Plasmalichter glimmten inmitten von Spinnweben und sorgten für schummrige Beleuchtung.

Der Pater suchte sich ein freies Fleckchen an der Bar, schob einen Betrunkenen rüde beiseite und musterte ihn flüchtig. Der Mann war einer der üblichen Verlierer an diesem Ort. Sein Kopf war auf die Theke gesunken, seine Rechte umklammerte jedoch weiterhin das Glas. Grand seufzte und zog sich einen schmierigen Barhocker heran. Er nickte der leicht bekleideten Animierdame zu. An diesem Abend hielten sich zwei von ihnen in der Buckligen Ratte auf. Sicherlich waren sie weder ihre Ehre noch ihr Geld wert. Die neben ihm war korpulent, mit tiefem Ausschnitt über dem wogenden Busen und kurzen, kastanienbraunen Locken, die gerade einmal bis zu den Ohren herabfielen. Ihr Lächeln erreichte die Augen nicht. Die andere war eine magere Rothaarige, die ihn mit einem koketten Winken begrüßte. »Da ist ja mein Süßer. Bereit für ein Abenteuer, Pater?«

»Heute nicht, Lilly. Ich hatte einen schweren Tag.«

»Wie immer, Sib. Wie immer. Aber falls du es dir doch anders überlegst …« Sie zwinkerte Grand versöhnlich zu. Als er nicht reagierte, runzelte sie leicht die Stirn. Dann zuckte sie mit den Schultern und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Schaumwein in ihrem Glas und einem etwas vielversprechenderen Gast zu.

Bleiern ließ sich Pater Siberius auf den Hocker fallen. Der Betrunkene nahm das zum Anlass, zur Seite zu kippen und sich mit einem Grunzen an seine Schulter zu lehnen. Einen Moment sah der Pater auf ihn hinab. Dann drehte er das breite Kreuz, das einem Preisboxer zweifellos zum Neid gereicht hätte, zur Seite. Der Betrunkene rutschte ab, verlor das Gleichgewicht und plumpste geräuschvoll zu Boden. Er machte etwa genauso viele Anstalten, von alleine wieder aufzustehen, wie Pater Siberius, ihm aufzuhelfen. Also gar keine. An diesem Ort war sich jeder selbst der Nächste.

Grand gab dem Barkeeper ein Zeichen. Gus OBrian, der am anderen Ende der Theke geschäftig Gläser in einer angelaufenen Messingspüle wusch, war der Besitzer der verräucherten Spelunke. Eine Bezeichnung, die hier am Rande von Orums Lot, der berüchtigten Hafengegend der Stadt Steamtown, beinahe für ein gehobenes Etablissement stand. »Hey, Gus.« Ein Nicken und ein Grinsen von tabakfleckigen Zähnen. »Einen Branntwein, wenn es keine Mühe macht.«

Der Wirt stellte das garantiert unsaubere Glas beiseite. Immer noch grinsend kam er zu Pater Siberius herüber. Sein fetter Schädel glänzte vor Schweiß und vor dem fassartigen Bauch spannte sich eine fleckige Schürze, deren weiße Tage schon Ewigkeiten zurückliegen mussten. Genau an dieser wischte er sich die Hand ab, bevor er sie über die Theke reichte. »Mühe? Doch nicht für einen alten Freund, Sib. Ich mach dir gleich nen Doppelten. Wirst ihn brauchen, wies aussieht. Kommst direkt von der Schicht, he?« Gus deutete auf den schwarzen Mantel und das ebenso schwarze Hemd des Paters, das am Kragen mit dem Kollar seines geistlichen Standes versehen war.

Siberius nickte. Eigentlich war er mit knapp über fünfzig Jahren viel zu alt, um für die Kirche den Handlanger in den Straßen zu spielen. Sich um verkommene Subjekte kümmern, sie auf den rechten Weg des Glaubens zurückbringen und all diesen Scheiß. Pah. Aber was tat man nicht alles, um über die Runden zu kommen. Er warf einen Blick in den fleckigen Spiegel hinter der Bar und bemerkte, dass er seinen Zylinder auf dem Kopf trug. Daran befestigt war ein Plasmaokular, das ihm bei der Arbeit half. Höhnisch funkelte es ihn an. Zumindest kam es Pater Grand so vor. Er nahm den Zylinder mit einer fahrigen Bewegung ab, legte ihn vor sich auf die Theke und drehte ihn so herum, dass das Okular in eine andere Richtung wies. Er hatte heute einfach keine Lust, es anzuschauen.

Gus hatte inzwischen ein großes Glas mit dem georderten karamellfarbenen Getränk vor ihm abgestellt und der Pater stürzte es in einem Zug herunter. »Noch einen.«

»Kommt sofort, mein Alter.«

Als er das zweite Glas in der Hand hielt, schaute sich Pater Siberius um, so wie er es stets tat, wenn er hier war. Wie immer blieb sein Blick an dem ebenso riesigen wie hässlichen, ausgestopften Kopf der Dämonenratte hängen, der seit dem Tag der Eröffnung des Etablissements an der Wand hing. Und so wie jedes Mal würde Gus nicht zögern, ihm die Geschichte der Ratte zu erzählen, die für den blumigen Namen der Spelunke verantwortlich war. An einer Hand zählte Pater Siberius die Sekunden herunter, bis der dicke Mann von seinem damaligen »Abenteuer« zu berichten begann. Fünf, vier, drei, zwei …

»Hey, Sib, hab ich dir eigentlich mal erzählt, wie ich an diesen hübschen Schädel gekommen bin?«

Ungefähr eintausend Mal, dachte Siberius, aber er sagte es nicht. Er wollte seinem Freund nicht den Spaß verderben. Dafür hatte er nicht genug davon. Also Freunde. Am einfachsten war es, sich für die Zeit, bis der Wirt zum Ende kam, stupide auszublenden, den Kopf abzuschalten, nicht zu denken. Irgendwie erholsam, wenn man es genau nahm. Das monotone Dröhnen von Gus Stimme, zusammen mit dem warmen Brennen des Alkohols, machte es leichter, zu verdrängen. Zu vergessen. Besonders Emilie, seine Frau … Falscher Gedanke. Ganz falsch. Lieber die Ratte.

Unwillkürlich glitt sein Blick erneut zu dem entstellten Rattenschädel, dem man, auch wenn der restliche Körper fehlte, die ungeheure Masse der Kreatur noch immer ansah. Das Vieh musste einmal die Größe eines Ebers gehabt haben. Dazu eitrige und verwucherte Beulen und Ekzeme, wie die meisten ihrer verfluchten Art. Wo immer diese Drecksmonster herkamen – oder anders gesagt: aus welchem Pfuhl sie entstiegen –, eins hatten sie alle gemeinsam: Man begegnete ihnen besser nicht allein und auf keinen Fall unbewaffnet. Niemand wusste, was die Dämonenratten einst in die Kanalisation und inzwischen in die dunkleren Ecken der heruntergekommenen Viertel gelockt hatte. Nicht einmal das Ministerium, das die bloße Existenz solcher Biester lange verleugnet hatte. Klar, in den Upper Quartern der Reichen gab es sie ja auch nicht. Noch nicht. Vorerst waren die Ratten ein Problem der armen Leute.

»… und dann sprang mich das Scheißvieh mit ihren glühenden Augen ohne Rücksicht auf Verluste an. Ich sag dir, groß wie ein kleines Pony und ebenso schwer. Dass ich unter diesem Fleischberg überhaupt rausgekommen bin, war ein absolutes Wunder. Ich war ja schließlich allein in dem beschissenen Keller. Ich habe es also gerade noch geschafft, mein Messer nach vorne zu bringen, bevor …«

Gus unterbrach sich selbst und Siberius war von einer Sekunde auf die andere wieder da. Es war bestimmt das erste Mal, dass der Wirt seine Geschichte nicht zu Ende brachte. Und das konnte nichts Gutes bedeuten. »Was fällt dir ein, du Arschloch? Sib, pass auf! Hinter dir!«

Siberius warf sich instinktiv zur Seite. Eine halb volle Flasche verfehlte um Haaresbreite seinen Kopf und zerbarst auf der Theke. Splitter und Branntwein prasselten auf den Pater nieder und er konnte gerade eben den Arm schützend vor das Gesicht reißen. Trotzdem hinterließ eine der Scherben eine glühende Spur auf seiner Wange.

»D … duu Sch … Scheißßßkerl«, nuschelte der Betrunkene von vorhin. Er hatte es irgendwie geschafft, zurück ins Bewusstsein zu finden und sich schwankend auf die Füße zu bringen. »Isch h … h … habe disch sof … sofort erkannt. Schl … Schläch … Schlächter vvvon Arminton. D … du hascht mmmeine Familie auf … auf … dem Gewissen. Du elen … elendiger Wischser.« Der Mann hieb mit einer Kohlenschaufel-großen Faust nach dem Pater.

Jetzt, da er die volle Aufmerksamkeit des Geistlichen gewonnen hatte, stellte der Angreifer kein Problem mehr dar. Mit einem Seufzen wich der Pater dem unbeholfenen Schwinger aus und verpasste dem Mann seinerseits einen Treffer am Kinn. Vor allem, um ihn wieder auf Abstand zu bekommen. Die Vorsicht war unnötig. Der Säufer verlor das Gleichgewicht, stürzte und krachte mit dem Kopf gegen das harte Thekenholz. Mit einem trockenen Pochen prallte er von der Theke zurück und brach wie vom Blitz gefällt zusammen. Schlaff kam er schließlich auf den Holzbohlen zu liegen. Der Geräuschpegel wogte ununterbrochen weiter. Niemand schien etwas mitbekommen zu haben. Oder niemand ließ sich etwas anmerken. Betrunkene und Schlägereien gehörten nun mal in jede anständige Kneipe. Und wenn der Pater zuschlug – dann sah man ohnehin besser weg.

»Verdammt«, fluchte Siberius. »Was für ein Vollidiot. Was wollte das Arschloch überhaupt hier? Der ist nicht aus der Gegend.«

Gus kam hinter der Theke hervor und beugte sich prüfend über den Gestürzten. Er zuckte mit den Schultern und sah den Pater an. »Den hast du gründlich aus den Socken gehauen. Komplett weggetreten. Mann, Sib, musste das sein?«

Der Pater musterte den Bewusstlosen. Er hatte sich geirrt. Der Kerl war keiner der üblichen Trinker der »Ratte«. Dazu war seine Kleidung zu ordentlich. Nicht aus der Gegend. Und er hatte Arminton erwähnt. Das verfluchte, verdammte, beschissene scheiß Arminton. »Scheiße, Gus! Du weißt, dass das keine Absicht war. Und jetzt? Ich habe echt keine Lust, das meiner Dienststelle zu melden, nur für den Fall, dass der Penner nachher zur Polizei läuft, weil ihn der Schlä…«, er zögerte und spürte einen Geschmack von bitterer Galle auf der Zunge, »… ein Pater angegriffen hat. Verdammt, ich habe Feierabend. Ist es denn zu viel verlangt, einfach mal ungestört zu sein?«

»Reg dich nicht auf, Sib«, beschwichtigte ihn der Wirt. »Ich kümmere mich darum. Cutter Pew ist der richtige Mann für diesen Job. Er wird ihn überzeugen, die Klappe zu halten. Wenn er wieder nüchtern ist. Du wirst sehen, niemand wird dich deswegen belangen. Vertrau dem alten Gus.« Er sah Siberius an. »Aber dafür schuldest du mir was.«

»Geht klar.« Pater Grand schnaubte ungehalten. Er wusste genau, was er davon zu halten hatte, wenn der Wirt von Schulden sprach. Es würde sicher nicht angenehm werden, eine solche Verpflichtung wieder gutzumachen. Aber was sollte es. Er hatte genug Probleme, um sich darüber auch noch zu ärgern.

Was für ein verdammter Scheißtag. Siberius stürzte den Rest Branntwein aus seinem Glas hinunter, schob ein paar Münzen auf die Theke und verließ die »Bucklige Ratte«. Er hatte genug für heute. Mehr als genug. Um den Betrunkenen und sein Schicksal tat es ihm nicht leid. Davon gab es schließlich jeden Tag ausreichend. Sogar welche, die deutlich mieser dran waren als dieses Arschloch. Aber es würde wieder Gerüchte geben und das konnte er wirklich nicht gebrauchen. Meist dauerte es nicht lange, bis das Ministerium von so einer Sache Wind bekam. Spätestens dann würde er beim Boss vorbeitraben und eine Erklärung abgeben dürfen. Echt beschissen dieser Tag. Und das Schlimmste: Siberius war sich sicher, dass der folgende Tag keinen Deut besser werden würde.

 

***

 

Ich weiß, was Sie jetzt denken. Aber Sie haben unrecht. Ich besuche diesen Ort nicht, weil ich einer der Verlierer dieser wunderschönen, verkommenen Stadt bin. Weil ich wie so viele ihrer glückloseren Bewohner meine vergeblichen Hoffnungen in das Glücksspiel setze, um meinem Elend zu entkommen. Nur um gerade dadurch unverrückbar in meinem Schicksal am Rand der Gosse festgehalten zu werden. Dem schmutzigeren und verdammt glitschigen Rand, an dem sich der Abschaum sammelt und man jeden Augenblick in der Gefahr ist, losgerissen oder getreten zu werden und haltlos und endgültig im vernichtenden Strudel des nächsten Kanals zu verschwinden.

Nein, meine Beweggründe sind anderer Art. Ich bin aus rein beruflichen Gründen hier. Fragen Sie nicht, was mein Beruf ist. Ich könnte es Ihnen sagen, aber dann müsste ich Sie töten. Also – um mir die Mühe zu sparen und Ihnen eine Chance zu geben, sich als schlauer zu erweisen, als Sie aussehen, überlasse ich den Gegenstand meiner Profession ganz Ihren Spekulationen. Jedenfalls halte ich mich heute hier in diesem paradiesischen Fleckchen von Steamtown auf, um einen Auftrag zu erledigen. Einen Auftrag, der mir …

»Halts Maul, Trottel!«

Der dünne Mann unterbrach seinen inneren Monolog mit der plötzlichen Erkenntnis, dass er einen äußeren Monolog gehalten hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ein schneller Seitenblick vergewisserte ihm allerdings, dass sich der Kerl neben ihm zwar gestört gefühlt, jedoch nicht wirklich auf seine Worte geachtet hatte. Erleichtert ließ er die Schultern hängen. Es war eine schlechte Angewohnheit, die Sache mit dem inneren Monolog. Das war ihm klar. Aber er konnte nicht viel dagegen tun. Das passierte ihm jedes Mal, wenn er nervös war. Und zur Nervosität hatte er Grund genug. Denn einen Auftrag hatte er tatsächlich. Und wenn er den in den Sand setzte … Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und beschloss, lieber nicht über diese Option nachzudenken.

Vorsichtig schob sich der dünne Mann von seinem ungehaltenen Nachbarn fort und bemühte sich so unauffällig wie möglich, einen günstigeren Standort zu finden. Unauffälligkeit fiel ihm nicht sonderlich schwer. Zum einen, da an seiner Gestalt ohnehin alles durchschnittlich schien – der abgetragene Wollmantel, der zu gewaltig für seine mageren Schultern wirkte, der fadenscheinige Bowler, der altmodische braune Anzug, die bleiche Haut, die seine knochigen Hände überspannte. Zum anderen brodelte hier ein chaotisches Gemisch von Gestalten, die in den meisten Fällen ebenso heruntergekommen und nahezu ausnahmslos doppelt so gefährlich aussahen wie er.

Die lärmende, lachende, streitende und grölende Menge um den unscheinbaren Mann herum war in eine fast greifbare Wolke aus beißendem Tabakqualm gehüllt. Dezent abgeschmeckt mit billigem Parfum, dem scharfen Geruch nasser Wolle, der sauren Note von vergossenem Bier und ungewaschenen Menschen und einem deutlichen Hauch von Exkrementen und Tieren. All das schien der dünne Mann jedoch nicht wahrzunehmen. Den Kopf samt Bowler tief zwischen die Schultern gezogen schob er sich durch die Menge in den hinteren Teil des Raumes. Hier wirkte die Luft – wenn das möglich war – sogar noch stickiger, und ein feiner Dampf stieg von den feuchten Kleidern der Menschen auf. Draußen regnete es – schon seit Stunden. Nein, es war für jemanden wie den dünnen Mann wirklich nicht schwer, hier unauffällig zu sein.

Eine der mit einem schmierigen Film überzogenen Lampen flackerte und legte ungesunde, grüne Schatten auf die Gesichter. Die Mundwinkel des dünnen Mannes zuckten zu so etwas Ähnlichem wie einem Lächeln. Ein guter Platz. Vorsichtig schob er sich zwischen den Leibern der anderen bis an die Bande der Grube vor, genau an jene Stelle, die sich direkt unter der flackernden Lampe befand. Das unstete Licht würde den zufälligen Beobachter ablenken und seine Bewegungen zusätzlich verbergen.

Der dünne Mann warf einen schnellen Blick in die Grube, die dieser Lokalität hier ihren Namen gab. Noch war nicht viel mehr zu sehen, als ein mannstiefer Kreis mit einem Durchmesser von gut acht Metern, ausgestattet mit Sandboden, glatten Wänden und einer rostigen Brüstung, die Zuschauer am Hineinfallen hindern sollte. Die Luken in diesen Wänden waren im Moment geschlossen. Der Mann hob seinen Blick und begann, das Publikum Person für Person zu mustern.

Die meisten der Anwesenden waren gewöhnliche Arbeiter der umliegenden Manufakturen, Fabriken und Mietskasernen, die sich hier zu einer abendlichen Zerstreuung eingefunden hatten; um ihren Tageslohn aufzubessern oder ihn, was weit wahrscheinlicher war, zu verspielen und sich sinnlos zu besaufen, um ihr Elend zu vergessen. Abgehärmte, raue, unwichtige Gesichter mit lautem Lachen und resignierten Augen.

Hier und da gab es aber auch andere.

Dort, der Kerl im tiefgrünen Anzug zum Beispiel. Die Ringe an seiner Hand waren mehr wert, als all die übrigen Besucher in einem Monat verdienen mochten. Zusammen. Der dünne Mann musterte die Umgebung des Grünen und nickte. Gleich drei der Gestalten in seiner Nähe konnte er unzweifelhaft als Leibwächter identifizieren. Seine Augen wanderten weiter. Die hübsche, blonde Frau mit dem Muttermal am Hals kannte er. Constance DeGuin. Und da war ihr Bruder, ein schweigsamer Albino, der in gewissen Kreisen als einer der tödlichsten Duellanten der Stadt berüchtigt war.

Der Besucher im modisch geschnittenen, grauen Anzug und dem Spazierstock, genau gegenüber, auf der anderen Seite der Grube, kam ihm ebenfalls vage bekannt vor. Der dünne Mann beobachtete ihn für einige Augenblicke, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Jedenfalls sah auch dieser Gast nach Geld aus. Und allein die selbstsichere Art, wie er sich bewegte, ließ vermuten, dass er sich selbst zu verteidigen wusste.

Weiter links stand ein Pulk aufgeregt schwatzender Adeliger. Die geckenhaften Herren mimten die souveränen Männer von Welt, die Damen hingegen pressten parfümierte Spitzentücher vor ihre Gesichter und musterten ihre Umgebung mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination. Es war offensichtlich, dass die Gesellschaft zu einem extravaganten Abenteuer in die verruchten Niederungen von Orums Lot herabgestiegen war. Der dünne Mann schnaubte. Leichte Beute für Taschendiebe.

Wenige Schritte daneben fiel sein Blick auf einen bulligen Mann, der aufmerksam zu ihm herübersah. Teurer, schlecht sitzender Anzug, rotfleckiges, verschwitztes Gesicht, Goldzähne im darin aufblitzenden Grinsen. Layton Thurgood. Der Gastgeber der »Grube« und damit der Betreiber der berüchtigtsten Arena für illegale Tierkämpfe und Wetten von Orums Lot. Nicht zu vergessen sein Arbeitgeber für den heutigen Abend. Der dünne Mann nickte kaum merklich und hob die Handfläche seiner Linken wie zum Gruß. Thurgoods Grinsen verbreiterte sich um eine Spur. Dann wandte er sich wieder seinem Ehrengast zu, einer in dunklem Samt und Spitze gekleideten Dame, deren verschleiertes Gesicht nicht zu erkennen war.

Der dünne Mann senkte die Hand und blickte sich verstohlen um. Seine Nervosität nahm weiter zu. Wenn er den Auftrag erfolgreich hinter sich brachte, würde er seine Schulden bei Thurgood beglichen haben. Wäre da nicht dieses nagende Gefühl, das sich wie ein Wurm durch seine Eingeweide zu fressen schien. Von dem miesen Prickeln im Nacken ganz zu schweigen. Er konnte förmlich spüren, dass er beobachtet wurde. Irgendwie glaubte er nicht, dass der heutige Tag zu seinen Glückstagen gehörte.

Mit einem Seufzen brach der dünne Mann die rast- und fruchtlose Suche seiner im Schatten der Hutkrempe verborgenen Augen ab. Falls ihn jemand beobachtete, so tat er es derart geschickt, dass wenig Hoffnung bestand, ihn von seinem Platz aus auszumachen. Falls nicht, bestand immer noch die Möglichkeit, dass er einfach nur paranoid war.

Ein Pfiff und das unmittelbar darauffolgende Rasseln versteckter Ketten lenkten seine Aufmerksamkeit zurück auf die Grube. Dort öffneten sich zwei der Luken. Aus dem Dunkel dahinter huschten die beiden Hauptakteure des Abends und reckten ihre zitternden, fleischfarbenen Nasen in die Luft. Ein Trenngitter in der Mitte verhinderte, dass sie zu früh aufeinander losgingen. Ein Raunen ging durch die Menge, vermischt mit einigen Ohs und Ahs und dem spitzen Schrei einer der Damen.

Der dünne Mann hatte kaum einen Blick für die hässlichen Wesen übrig. Wie die meisten der ernsthaft Wettenden hatte er die Tiere schon zu Beginn des Abends in ihren Käfigen begutachtet. Das kleinere hatte die Größe eines Kampfhundes und zeigte das graue, borstige Fell und die überlangen Zähne einer typischen Kanalratte der Docks von Steamtown. Diese Biester waren für ihre außerordentliche Wendigkeit und Intelligenz bekannt und in Gruppen selbst für erfahrene Jäger gefährlich. Und das hier war ein ungewöhnlich beeindruckendes Exemplar.

Ihr Gegner allerdings war beinahe dreimal so groß. Ein von schmutzig weißem Fell bedeckter, unförmiger Klumpen aus Muskeln und Zähnen, dessen rechte Körperhälfte von unansehnlichen Wucherungen gräulichen Fleisches verunziert waren. Nur der nackte Schwanz vom Umfang eines Kinderarmes wies auch dieses Tier als Ratte aus. Eine Mutation aus den Tunneln unter den Fabriken von Tanners Flats. Ekelhafte Viecher, die in letzter Zeit immer häufiger in Erscheinung traten.

Der dünne Mann hatte die beiden Kontrahenten vor dem Kampf ausgiebig studiert und war zu dem Schluss gekommen, dass der Mutant ohne Zweifel überlegen war. Die Arena war schlicht nicht groß genug, als dass die andere Ratte ihre Gewandtheit hätte ausspielen können. Oh, es würde sicherlich ein denkwürdiges Schauspiel werden – am Ende jedoch musste die gesunde Ratte unterliegen. Aber was wichtiger war: Ernsthaft Wettende mussten zum selben Schluss gekommen sein. Unerfahrenere Zuschauer setzten vielleicht auf die Wendigkeit und Intelligenz der kleineren – aber wer immer bereit war, größere Summen in diesem Spiel zu riskieren, wusste, dass diese Mutationen nie müde wurden. Und genau darum ging es heute.

Die richtigen Leute mussten auf die richtige Ratte setzen. Dieser Teil war Thurgoods Sache. Ein Wort hier, ein Zwinkern da, ein Nicken dort und Geld, unverschämt viel Geld, würde fließen. Der dünne Mann sollte dafür sorgen, dass es am Ende in die richtige Richtung floss. Während die letzten Wetten getätigt wurden, überprüfte er zum wiederholten Male den Sitz des kleinen Gerätes in seinem linken Ärmel. Sein Blick begegnete dem Thurgoods, welcher ihm kaum merklich zunickte. Der dünne Mann verzichtete auf eine Reaktion und konzentrierte sich stattdessen auf das Geschehen. Auf einen Wink des Hausherrn wurde das Trenngitter hochgezogen und der Kampf begann.

Die starren, schwarzen Augen des dünnen Mannes, die so sehr denen der Ratten unten in der Arena glichen, waren unverrückbar auf ihr Ziel gerichtet. Es würde ein außerordentlich schwieriger Schuss werden. Und er hatte nur einen Versuch.

Von einem allgemeinen Aufbranden des Lärmpegels begleitet, prallten die Kontrahenten in der Grube aufeinander. Johlend beugten sich die gewöhnlicheren unter den Zuschauern über die Brüstung, begierig, kein noch so kleines Detail des blutigen Schauspiels zu versäumen. Aufgepeitscht, hungrig und vor dem Kampf zusätzlich bis zur Wut gereizt, fielen die beiden so unterschiedlichen Ratten übereinander her und rollten in einem knurrenden, geifernden Knäuel durch die Arena. Gelbe Zähne blitzten und schnappten, Krallen rissen tiefe Furchen in Fell, Haut und Muskeln. Vereinzelte Blutstropfen sprühten hinauf bis auf die Jacken, Gesichter und Dekolletés der Zuschauer.

Eine der feinen Damen am Grubenrand fiel in Ohnmacht, aber der dünne Mann war sich nicht sicher, ob das der Furcht, dem Ekel oder einfach nur der Aufregung und einem zu eng geschnürten Korsett zuzurechnen war. Unauffällig löste er seine linke Manschette. In der Grube trennten sich die Gegner für einen Moment des gegenseitigen Taxierens voneinander. Beide bluteten bereits aus mehreren Wunden und der kleineren Kanalratte war eines ihrer Ohren zum größten Teil abhandengekommen. Die Tiere umschlichen sich knurrend und schrill quiekend. Besser gesagt: Die graue Ratte schlich – immer an der Wand des kreisrunden Kampfplatzes entlang, ohne ihren größeren Gegner aus den Augen zu lassen, der sich in der Mitte der Arena um die eigene Achse drehte. Mit einem Zischen huschte der Mutant vor und versuchte, seine krummen Zähne in die Seite des anderen Tieres zu schlagen. Doch der flinkere Gegner sprang, landete auf ihrem Rücken und hinterließ eine weitere klaffende Wunde in der Flanke des Kolosses.

Murren brandete rings um ihn auf, das meiste geäußert von den zahlreichen Arbeitern. Interessiert stellte der dünne Mann fest, dass das Fräulein DeGuin voller Unmut die Stirn krauszog und der Pulk der jungen Adeligen in das allgemeine Buhen einfiel. Der Gesichtsausdruck des Grauen Anzuges ihm gegenüber blieb unlesbar und der dünne Mann wandte seinen Blick dem Ringträger in Grün zu. Auch dieser Mann trug das stoische Gesicht des professionellen Spielers zur Schau. Und doch vermeinte er, eine gewisse Anspannung in seinen Kiefermuskeln zu erkennen. Nun, der Mann konnte es nicht wissen, aber seine Besorgnis war durchaus berechtigt.

Der Mutantin war noch immer kein Zeichen der Ermüdung anzusehen. Jede der furchtbaren Verwundungen, die ihr die kleinere Gegnerin zufügte, steckte sie weg, als wären es nur oberflächliche Kratzer. Ihr nächster Angriff erfolgte so heftig, dass die graue Ratte nur mit äußerster Mühe ausweichen konnte – und auch nur, indem sie die Wand der Grube hinaufsprang, wobei sie beinahe die Brüstung erreicht hätte. Ihre Flucht wurde allerdings von einem der Männer Thurgoods durch eine bereitgehaltene Eisenstange vereitelt und sie stürzte wieder in den blutgetränkten Sand hinab. Fast sofort war der Koloss über ihr, und als sich der beißende, tretende, kreischende Knoten aus Rattenkörpern das nächste Mal löste, hinkte die kleinere Ratte auf einem der Vorderläufe. Der Großteil ihres Schwanzes hing lose an einem blutigen Fetzen Fleisch.

Johlende Zustimmung brandete auf und übertönte das Protestieren der wenigen Zuschauer, die wider besseren Wissens oder aus purer Verzweiflung auf die kleinere Ratte gesetzt hatten. Allem Anschein nach erlahmten die Kräfte der Grauen. Ihr Blut strömte aus zahlreichen Wunden und auch die beiden folgenden Vorstöße der Mutantin hatten weitere Verletzungen zur Folge. Auf den Gesichtern der wohlhabenden Wettenden machte sich Zufriedenheit breit und der Ringträger schien bereit, sich abzuwenden, um seine Gewinne abzuholen, noch bevor der Kampf beendet war.

Es wurde Zeit für den dünnen Mann. Beiläufig umfasste er mir der rechten Hand den linken Unterarm und tastete nach dem Knopf, den er unter dem Stoff seines Ärmels verborgen wusste. Gleichzeitig winkelte er die Linke unauffällig ab, bis sich aus der jetzt geöffneten Manschette ein kurzes Messingrohr hervorschob. Ein letztes Mal überprüfte er sorgfältig sein Ziel. Die Mechanik an seinem Arm war von unvergleichlicher Präzision und Wucht. Jedoch enthielt sie nur ein einziges Projektil – um nachzuladen, hätte er Mantel und Hemd ausziehen müssen. Er hatte also nur diesen einen Versuch. Trotz der geringen Entfernung war es beileibe kein einfacher Schuss. Aber genau dieses Handicap war es, weswegen Thurgood ihn beauftragt hatte. Der dünne Mann zitterte nie und seine unheimlichen, schwarzen Augen verloren nie ihr Ziel.

Grinsend bleckte er die vorstehenden Zähne und betätigte den Auslöser. In diesem Moment johlte die Menge erneut vor Begeisterung auf. Ein Ellenbogen traf den dünnen Mann an der Schulter und lies ihn beiseite taumeln. Er stolperte in den Arbeiter neben ihm, dann gegen das Geländer. Verdammt! Sein unfehlbarer Schuss war fehlgegangen! Eine der jungen Adeligen auf der anderen Seite der Grube betastete verwirrt das winzige Projektil aus Kupfer und Glas, das über ihrem Korsett aus der seidenen Bluse ragte. Schließlich erfasste ein Zittern ihren Arm und der seltsame Pfeil entglitt den plötzlich verkrampfenden Händen. Mit starrer Miene verfolgte der dünne Mann, wie das Beben auf den ganzen Körper der Frau übergriff. Ihr Kiefer verkrampfte, ihr Gesicht nahm eine zusehends ungesunde Färbung an und zwischen glitzernden Schweißperlen traten die Adern deutlich sichtbar auf ihre Haut.

Das war … nun, das war nicht gut. Nein, ganz gewiss nicht. Thurgood deutete ihm unwirsch, endlich zu schießen. Nein, Thurgood konnte nicht wissen, dass der Schuss vertan war. Noch nicht. Leider würde sich das jeden Moment ändern. Der Blick des dünnen Mannes huschte zu der jungen Dame zurück. Ihre Augen waren blutunterlaufen und Schaum trat in Flocken über die blutrot geschminkten Lippen. Endlich bemerkte einer ihrer Begleiter ihren Zustand und ergriff besorgt ihren Arm.

Da brach mit einem gellenden Aufkreischen die Starre der Getroffenen und wie entfesselt stürzte sie sich auf den Adeligen und fuhr ihm mit ihren manikürten Nägeln ins Gesicht. Der Adelige fiel zu Boden und die Frau warf sich auf eine ihrer Gefährtinnen, riss sie an den Haaren zur Seite, schmetterte einem anderen ihrer Begleiter den Ellbogen auf die Nase und schleuderte beide von sich, als seien sie bloße Stoffpuppen. Dann sprang sie mit ausgestreckten Krallenfingern und gebleckten Zähnen auf den nächststehenden Zuschauer.

Der dünne Mann fluchte leise. Langsam und unauffällig wich er von der Brüstung zurück. Es wurde Zeit zu verschwinden. Die junge Dame würde nicht innehalten, alles anzugreifen, was sich bewegte, bis sie bewusstlos oder tot wäre. Und unter dem Einfluss der Droge war beides nur mit Einsatz schwerer Bewaffnung zu bewerkstelligen. Ein Desaster! Das Projektil war für eine Ratte bestimmt gewesen! Die kleinere Ratte, die mit seiner Hilfe ihre größere Konkurrentin bis zur Unkenntlichkeit zerfleischt und damit Layton Thurgood unermessliche Wettgewinne eingebracht hätte. Jenem Layton Thurgood, der mit plötzlichem Erkennen im Blick zu ihm herüber sah, als oben die junge Frau im wachsenden Tumult ihr nächstes Opfer anfiel und unten in der Grube die Mutantin ihre Gegnerin und ein gutes Stück von Thurgoods Vermögen zerfetzte.

Oh, er war so was von erledigt, wenn er nicht sofort hier herauskam. Der dünne Mann wirbelte herum, drückte den Bowler fest auf seinen Kopf und quetschte sich zwischen den hinter ihm Stehenden hindurch Richtung Ausgang. Aber kaum hatte er ein halbes Dutzend Schritte getan, legte sich eine Hand auf seine Schulter und eine kühle Stimme sagte dicht neben seinem Ohr: »Mister Ferret, nehme ich an.«

Der dünne Mann ächzte und seine gerade Haltung fiel in sich zusammen. Doch als er den Kopf wandte, entdeckte er zu seiner Verwunderung keinen der strategisch verteilten Schläger Thurgoods, sondern den Herrn im grauen Anzug. In diesem Moment flankierten ihn zwei weitere Männer mit ähnlicher Bekleidung. Mister Ferret nickte nervös. »Sie haben mich beobachtet«, stellte er kleinlaut fest.

Die beiden Flankenmänner grinsten und einer deutete einen Ellenbogenstoß an und zwinkerte. Der dünne Mann erstarrte, als er plötzlich verstand. »Natürlich«, sagte der Graue Anzug. »Das ist unsere Aufgabe. Mister Ferret, wir haben Ihnen ein Angebot zu machen, dass Sie, vermute ich …«, und dabei blickte er in Thurgoods Richtung zurück, »… nicht abzulehnen in der Lage oder wenigstens willens sind. Habe ich recht?«

Mister Ferrets Blick war auf den Knauf des Gehstocks in der Hand des Unbekannten gefallen und hätte er noch blasser werden können, so hätte er es jetzt getan. In diesem Augenblick wusste er, woher er das Gesicht des Mannes kannte. Mit einem sinkenden Gefühl im Bauch nickte er.

»Ausgezeichnet, Mister Ferret«, sagte der andere und schob ihn in Richtung Ausgang. »Wir haben einen Auftrag für Sie.«

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages

Quellen:

Autorenfoto Carsten Steenbergen © Pixel&Korn

(wb)