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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Kinder der stummen Nachtigall

So kurz nach dem Abendrot lag die weite Ebene im Zwielicht und ließ eine ausgedehnte Wiesenlandschaft in eigenartigem Grün leuchten. Unwirklich, aber irgendwie auch schön. Olivia drehte sich um die eigene Achse und musste feststellen, dass außer einem endlosen Meer aus kurz geschnittenem Gras nichts zu sehen war. Keine Büsche oder Bäume, keine weiteren Gebäude, nur ein altes Landhaus stand in einiger Entfernung. Welche Richtung das sein mochte, wusste die junge Frau nicht zu sagen. Es war auch ohne Bedeutung, denn sie konnte sonst nirgendwo hin und einfach nur hier stehen bleiben kam auch nicht infrage. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand oder wie sie überhaupt an diesen Ort gelangt war.

Alles, woran sie sich erinnern konnte, war die morgendliche Fahrt in der U-Bahn zu ihrer Arbeitsstelle. Jetzt war es auf alle Fälle Abend, aber was hatte sie den ganzen Tag über getrieben und warum stand sie nun plötzlich inmitten dieser Einöde?

Vor etwa drei Jahren hatte sie nach einer Party im Studentenwohnheim schon einmal einen Blackout gehabt. Viel zu viel Alkohol. Diese Zeiten waren heute jedoch längst vorbei, Olivia hatte eine aufstrebende Karriere in einer angesehenen Bank vor sich. Was suchte sie also hier?

Seltsam, aber sie musste schon lange in Trance über die Ebene gewandert sein. Von wo aus sie auch gestartet sein mochte, von dort musste es auch wieder zurück in die Stadt gehen. Ein Wagen würde dort warten oder jemand, der sich einen üblen Scherz mit ihr erlaubt hatte. Ganz gleich, wie die Lösung des Rätsels aussehen mochte, irgendein missgünstiger Kollege hatte etwas mit ihr angestellt und sie würde demjenigen dafür die Hölle auf Erden bereiten.

Das gab es doch immer wieder, gerade wenn der Kampf um höhere Positionen versteckt und manchmal offen ausgefochten wurde. Jeder versuchte, die Konkurrenz aus dem Feld zu drängen. Hin und wieder wurden dazu auch illegale Mittel eingesetzt und genau das musste mit Olivia geschehen sein. Sie war das Opfer einer gemeinen Intrige geworden.

Nun, all das würde warten müssen, denn jetzt brauchte sie Hilfe. In dem Haus mochten Leute wohnen, die ihr sagen konnten, wo sie sich befand und wie sie wieder zurückkommen konnte. Also marschierte sie in der Gewissheit los, dass der Spuk bald ein Ende haben würde.

Unter ihren Füßen war das Gras sehr weich, mit den Pumps kam sie alle paar Schritte ins Straucheln. Mitten im Juli durfte sie es sich wohl erlauben, barfuß über die Wiese zu laufen, warm genug dazu war es allemal.

Mit jedem Schritt, der Olivia näher zu dem Haus bringen sollte, schien sich das Gebäude wieder weiter zu entfernen. Eine optische Täuschung, dachte sie. Vermutlich eine Auswirkung des Zwielichts und ihrer überreizten Nerven.

Um sie herum herrschte Stille, bis auf das leise Säuseln des lauen Windes. Keine Grillen unterhielten sich im Gras über den Sinn ihres Lebens, vermutlich war es auch viel zu kurz geschnitten und bot den Tieren einfach nicht genügend Schutz. Wer sich wohl die Mühe machte und eine solch gigantische Fläche mähte?

Ein Blick in den Himmel half Olivia nicht gerade weiter, denn die wenigen Wolken bewegten sich mal hierhin, mal dorthin. Obwohl der Wind beständig aus einer Richtung kam, ließen sich die weißen Wölkchen davon nicht beeindrucken. Sie hatten wohl ihren eigenen Kopf und taten, was ihnen gefiel. Ihnen war es egal, was die Physik dazu sagte, sie bewegten sich einmal schnell, einmal langsam, mit dem Wind und entgegen dem Wind. Hin und wider sanken sie sogar Richtung Erde hinab, gleich darauf schossen sie wieder in die Höhe.

All das taten sie in einem immerwährenden Tanz, sehr langsam und nur selten schnell.

Ob sie sich in einem Traum befand, herbeigerufen durch eine in einem Drink versteckte Droge? Möglich war alles.

Plötzlich stieß Olivia mit der Zehe ihres linken Fußes schmerzhaft gegen ein Hindernis.

»Au!«, quiekte sie und gleich darauf folgte ein erstauntes »Huch!«

Während ihre Augen an die Wolken geheftet waren, hatte sie gar nicht bemerkt, dass sie das Haus längst erreicht hatte.

Aus der Ferne betrachtet war ihr das schäbige Äußere gar nicht aufgefallen, aber jetzt sah sie die verrotteten Holzschindeln, die wurmstichigen Pfosten und Fensterscheiben, die mit soviel Dreck überzogen waren, dass man unmöglich hindurchsehen konnte. Olivia starrte angewidert auf die dicke Staubschicht, die beide Treppenstufen zur kleinen Veranda bedeckte, und zog ihre Schuhe wieder an. Dann stieg sie nach oben und klopfte gegen die Tür.

Keine Antwort. Vielleicht war das Haus auch gar nicht bewohnt. Es gab keinen Wagen, keinen Vorgarten, nichts. Auf der Grasebene stand es einfach so da, ohne ein Zeichen, dass sich irgendetwas in der Nähe davon je abgespielt hätte. Nicht einmal ein Trampelpfad war zu sehen oder ein kleiner Weg. Das Haus stand da, als hätte man es kurzerhand an dieser Stelle platziert, kurz bevor auch Olivia angekommen war.

Vorsichtig betätigte sie die Klinke. Es war offen. Nun, wenn sie Hilfe erwartete und man auf ihr Klopfen nicht antwortete, musste sie sich eben so bemerkbar machen.

Sie öffnete die Tür gerade weit genug, um hindurchschlüpfen zu können. Dann rief sie, nicht allzu laut: »Hallo?«

Man sollte sie nicht für einen gemeinen Eindringling halten.

Ein kurzer Flur, an dessen anderem Ende eine Treppe nach oben führte und links eine Tür. Keine Bilder hingen an den Wänden, die mit einer langweiligen, vollkommen unmodernen Tapete beklebt war. Olivia hätte Spinnweben erwartet. Nach dem Eindruck, den das Haus von außen machte, wäre das gewiss keine Überraschung gewesen. Aber drinnen herrschte Sauberkeit. Kein Staub.

Als noch immer keine Antwort kam, wagte die junge Frau einen Blick hinter die einzige Tür, die sich in der unteren Etage befand.

Ein winziges, aber hübsch eingerichtetes Zimmer offenbarte sich ihr. Es gab ein Bett, einen Tisch mit Stuhl, zwei Regale mit Büchern und einen Kamin, vor dem ein alter Mann in einem bequemen Ohrensessel saß und in eine leere Tasse starrte.

»Entschuldigen Sie, bitte. Hallo?«

Sie flüsterte fast, sonst hätte sich der alte Mann am Ende noch erschreckt.

Langsam drehte der Mann seinen Kopf und schaute Olivia lächelnd an: »Oh, hallo, meine Liebe. Ich hatte gar nicht mit dir gerechnet. Noch nicht, jedenfalls. Aber wenn du schon einmal da bist, könntest du mir wohl bitte ein wenig Tee nachschenken? Die Kanne steht drüben auf dem Tisch und ich selbst kann dort nicht hin.«

Natürlich konnte er das nicht, stellte Olivia nüchtern fest. Seine Füße – oder besser gesagt, die verkohlten Stümpfe am Ende seiner Beine – lagen im lodernden Kaminfeuer. Wenn er nicht aufpasste, würde er noch ganz in Flammen aufgehen, dachte sie und wunderte sich gleichzeitig darüber, wie gelassen sie diese Situation hinnahm. Hätte sie nicht in Panik ausbrechen müssen? Laut um Hilfe schreien?

Stattdessen nahm sie die Kanne und schenkte dem alten Mann dampfend heißen Tee in seine Tasse, die er fest umklammert hielt. Sie deutete mit einem Nicken auf seine Beine und meinte: »Tut das nicht weh? Sie sollten nicht so nah am Feuer sitzen, sonst verbrennen Sie doch.«

»Ach, Kindchen«, meinte der alte Mann, bevor ihn ein kräftiger Schluck Tee zu einer kurzen Pause zwang, »das passiert eben, wenn man beim Kamin einschläft. Seither habe ich keine Füße mehr, aber es lässt sich auch so gut leben. Meine Nichte kommt ja immer wieder zu mir, schenkt Tee ein und gibt mir ein Buch. So ist das schon in Ordnung. Außerdem ist es jetzt viel ruhiger, seit ich nicht mehr hetzen kann. Man versucht doch immer, schneller als die Zeit zu sein und das schafft man nie. Immer hetzen, rennen, sich beeilen. Damit habe ich nichts mehr am Hut, Kindchen. Ein Leben, ohne rennen zu müssen, ist viel angenehmer.«

»Ja«, stimmt Olivia zu, »das ist angenehm.«

Offensichtlich war der Mann verwirrt. Ihn brauchte Olivia nicht um Hilfe zu bitten, denn wer seine verbrannten Stümpfe ins Feuer hielt, konnte nicht mehr ganz richtig im Kopf sein. Also verabschiedete sie sich höflich von ihm und reichte ihm noch eines der Bücher, bevor sie das Zimmer verließ.

Oben gab es bestimmt jemanden, der ihr helfen konnte. Jemand, der … normal war. Also setzte sie einen Fuß auf die erste Treppenstufe und stieg hinauf.

Eigenartig, Olivia wusste, dass der Alte und die Situation mehr als seltsam waren, doch schien ihr, als wäre alles richtig. Da gab es nichts an dieser Lage, das eigenartig wirken würde. Ihr fehlte das Gefühl, hier etwas vorgefunden zu haben, das bei ihr noch vor einigen Stunden blankes Entsetzen hervorgerufen hätte.

Wenn sie unter Drogen stand, war das ein Stoff, der nicht die eigene Wahrnehmung veränderte, sondern die komplette Realität um einen herum. Nein, sie befand sich nicht in einem Traum, dazu fühlte es sich zu echt an.

Als sie das obere Ende der Treppe erreichte, erstreckte sich ein recht langer Flur vor Olivia. Er war viel länger als er es hätte sein dürfen, bedachte man die äußeren Maße des Hauses, das ohnehin kein weiteres Stockwerk haben dürfte. Weit hinten befanden sich zwei Türen. Eine auf der rechten, die andere auf der linken Seite. Hinter einer fand sie gewiss das, was sie suchte. Hilfe. Aber wieso brauchte sie denn überhaupt Hilfe? War es hier nicht genauso gut oder schlecht wie an jedem anderen Ort? Was lag denn hinter ihr? Ein Leben voller Enttäuschungen und noch nicht ausgetragener Kämpfe.

Die Luft, die sie in diesem Haus einatmete, bedeutete der jungen Frau jedoch, dass sie sich in einem Winkel des Universums oder der Welt befand, in dem es keine Rivalitäten gab. Sie roch es, schmeckte es. Dieses Aroma der Freiheit, die es in der Stadt und zwischen all den Menschen, die einem das Leben schwer machten, niemals geben konnte. Mochte sein, dass der alte Mann dort unten nicht mehr gehen konnte und in gewisser Weise ein Gefangener war, aber als sie in seine Augen geschaut hatte, war dort dieser klare, unverfälschte Ausdruck gewesen, der nur von innerer Freiheit ausgelöst werden konnte.

Auf dem Weg zu den Türen betrachtete Olivia die Gemälde, die an beiden Seiten angebracht waren. Sie zeigten wüste Landschaften, verbrannte Städte und eigenartig missgestaltete Gesichter. Dämonenfratzen, die sie anstarrten und böse grinsten. Dennoch jagten ihr die teuflischen Bilder keine Angst ein. Im Gegenteil, Olivia fühlte sich sogar beschützt. In diesem Haus wurde niemand geduldet, der nicht erwartet wurde oder der nicht hierher gehörte. Dafür sorgten die Gestalten und das, was sich in den Tiefen der Landschaftsgemälde tummelte.

Am Ende des Flurs angelangt fragte sich Olivia, welche Tür sie denn nun versuchen sollte. War es das rechte oder das linke Zimmer? Dann breitete sich eine zuvor unbekannte Leichtigkeit in ihrem Innern aus und sie hatte mit einem Mal die Gewissheit, dass nichts falsch wäre, wofür sie sich auch entscheiden mochte. Nichts konnte sie hier jemals falsch machen. Das Haus war gut zu ihr, überließ ihr jede Entscheidung. Wie sie auch ausfiel, wäre es die richtige Entscheidung. Sie hatte dem alten Mann Tee nachgeschenkt, das war richtig gewesen. Hätte sie es nicht getan – auch gut, denn nichts konnte falsch gemacht werden, wenn man erwartet wurde.

Und sie wurde erwartet, auch das erkannte Olivia, ohne zu wissen, warum ihr dieser Gedanke kam.

Ohne weiter zu überlegen öffnete sie einfach die linke Tür und betrat ein großes, sehr gemütliches Zimmer. Die Einrichtung wirkte alt, aber stilvoll. Auch hier gab es Bücherregale, zudem noch einen alten Schallplattenspieler, ein Buffet mit verschiedenen Speisen und Getränken, ein gemütliches Bett und einen Tisch mit zwei Stühlen.

Auf einem der Stühle saß eine blonde Frau, etwa in Olivias Alter. Sie trug ein blau kariertes Kleid, das vorne bis zum Saum zugeknöpft war. Die Frau lächelte Olivia freundlich an und erhob sich langsam. Ihr Bauch war rund und schwer, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie bald ein Kind erwartete.

»Ach, Schwester«, sagte die Frau, »ich habe schon auf dich gewartet. Glaubte fast, du hättest dich anders entschieden und wärst wieder zurückgegangen.«

»Zurück? Wieso sollte ich zurückgehen?«

Olivia staunte selbst über die Frage, die sie stellte. Natürlich musste sie zurück, aus diesem Grund hatte sie das Haus doch betreten. Sie wollte nach Hilfe suchen, damit sie wieder zurückfand. Ihr altes Leben wartete auf sie, die Arbeit. Jetzt, da es auf der Karriereleiter beständig hinaufging, konnte sie doch nicht einfach in diesem Haus bleiben. Oder etwa doch?

Eine Stimme in ihrem Kopf sagte Olivia, dass sie besser eine Weile bleiben sollte, statt sich wieder in eine überfüllte Welt zu stürzen, in der nur Kälte und Betriebsamkeit den Tagesablauf bestimmten.

»Wieso wurde ich erwartet? Ich bin doch nur durch Zufall in dieser Gegend und weiß nicht einmal, wie ich überhaupt herkam.«

Die Schwangere lachte fröhlich auf: »Ach, das ist doch kein Zufall gewesen, Schwester. Du bist hier, weil du Vergebung möchtest.«

»Vergebung?«, fragte Olivia.

»Aber ja, du möchtest die Ewigkeit nicht mit einem schlechten Gewissen verbringen. Also hast du dich dazu entschlossen, den Preis zu zahlen. Hier kannst du mit uns bleiben und wirst Frieden finden.«

Olivia verstand kaum, von was die Frau redete, die langsam ihr Kleid aufknöpfte und das präsentierte, was sich darunter befand. Ein großes Loch offenbarte einen Einblick in den Bauch der Schwangeren. Dort drinnen lag inmitten der Eingeweide das mumifizierte Kind, das niemals geboren werden würde. Es öffnet ein Auge und betrachtete Olivia.

»Siehst du, Schwester, das ist unsere Mutter. Die stumme Nachtigall. Ich trage sie bei mir, da ich die erste Bewohnerin des Hauses bin. Sie liebt uns, schenkt uns Vergebung für das, was wir getan haben.«

»Aber … ich … was habe ich denn getan, dass man mir vergeben müsste?«

Noch während Olivia sprach, wurde ihr die Antwort bewusst. Etwas juckte an ihren Handgelenken. Sie hob die Arme und sah, dass ihre Hände fehlten. Die Unterarme endeten in blutigen Stümpfen und unwillkürlich musste sie an den alten Mann im unteren Zimmer denken. Wie war das geschehen? Sie hatte nichts gespürt und es schmerzte auch nicht.

»Du wirst in das leere Zimmer gegenüber einziehen, Schwester. Es ist alles schon vorbereitet und eingerichtet. Es wird dir gefallen. Wenn du etwas haben möchtest, denke an mich und ich werde kommen, dich bewirten und dich unterhalten. Was auch immer. Mutter kann es nicht selbst tun, also kümmere ich mich um ihre Kinder. Die älteste Tochter, du verstehst.«

Olivia verstand sehr gut. Sie verstand die Worte der Schwangeren, ihrer Schwester und sie verstand, dass es besser war, ohne die Hände. Denn diese Hände hatten Leben genommen. Nicht direkt, aber mit all den Unterschriften, die durch sie getätigt worden waren, hatten Menschen alles verloren. Ihre Wohnungen und Häuser, ihre Jobs und so viele Träume.

Ja, ohne die Hände, die all das Schlechte getan hatten, war es wirklich besser. Und Olivia erkannte, dass sie Vergebung gesucht hatte, ohne es selbst zu wissen.

Sie lächelte und lauschte dem stillen Lied der stummen Nachtigall, die von Frieden sang.

(ssp)