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Der Welt-Detektiv Band 6

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Jimmy Spider – Folge 29

Jimmy Spider und die Schatten der Vergangenheit

Es war dunkel in dem Schrank. »Die Dunkelheit tut dir nichts, Jimmy«, hatte meine Mutter immer gesagt. »Sie ist dein Freund. Sie bietet dir Schutz. Nichts und niemand kann dir etwas tun, wenn du dich in der Dunkelheit versteckst.«

Diese Worte schossen mir durch den Kopf, als ich versuchte, die dennoch aufkommende Furcht vor dem ungewissen Dunkel zu überwinden. Dann erschienen wieder die Stimmen, die mich in dieses Versteck getrieben hatten.

»Finnegan?«

»Ja?«

»Du übernimmst das Schlafzimmer, ich das Wohnzimmer.«

»Okay.«

Die Stimmen klangen rau. Rau und böse. Das Böse hatte sich in unser Haus geschlichen und keiner war vor ihm sicher. Oder doch?

Der Schrei eines Mannes erklang. »Was zum …«

Ich hörte ein Klatschen, zuckte zusammen, dann herrschte Stille.

Wieder erklang ein erschreckter Schrei, diesmal der einer Frau. »Mommy«, flüsterte ich in die Dunkelheit hinein.

Erneut erklangen Schreie, diesmal aus dem Schmerz geboren. Sie gingen über in ein grausiges Jammern, das mich erneut zusammenzucken ließ.

»Schatz! Oh Gott, was passiert hier …?«, hörte ich die Stimme meiner Mutter.

Wieder klatschte etwas. »Klappe zu!«, rief ein Mann.

Etwas klackte. »Also …«, erklang eine weitere Männerstimme. »Eine Frage: Wo steckt euer Sohn?«

Schweigen. Dann klatschte erneut etwas. »Ich hab euch etwas gefragt.«

»Schon gut … schon gut – bitte!«, beschwichtigte mein Vater. »Er ist bei seinem Freund, Timmy Henderson, in Glasgow … er macht dort Urlaub … bitte!«

»Dein Flennen hilft dir auch nichts.«

Leises Gemurmel erklang. Schließlich sprach wieder einer von ihnen. »Sehr schade. Aber was soll‘s. Verabschiedet euch von eurem armseligen Leben. Möchtest du, Finnegan?«

»Nein, die Ehre überlasse ich dir.«

Jemand lachte. Dann erklang ein Plopp, als hätte jemand eine Flasche geöffnet. Und noch einmal: Plopp.

Ich nahm all meinen Mut zusammen, kroch an die Schranktür heran und versuchte, durch das Schlüsselloch einen Blick nach draußen zu werfen.

In diesem Moment passierte es. Mit brachialer Gewalt wurde die Schranktür aufgerissen. Vor mir erschien ein riesig wirkender Mann mit schulterlangen Haaren und einem triumphalen Grinsen im Gesicht.

Seine linke Hand umfasste ein gewaltiges Messer. »Stirb jetzt, Jimmy Spider!«, rief er und ließ das Messer auf mich niedersausen.

Ich schrie und schrie und schrie und …

***

… wachte auf!

Sofort wusste ich, dass es nur ein Traum gewesen war. Obwohl – eigentlich nur das Ende. Der Rest …

Ich schüttelte mich einmal durch. Dieser Albtraum war eigentlich ein Relikt früherer Jahre, aber die Ereignisse des letzten Falles hatten ihn wieder aus dem Unterbewusstsein hervorgeholt.

Langsam aber sicher fiel mir auch wieder ein, wo ich war und was ich gerade tat. Ich hatte für einen besonderen Gast ein besonderes Essen mit besonderen Zutaten zubereitet. Danach war ich ziemlich müde gewesen, sodass ich mich für ein paar Minuten auf meine Couch gelegt hatte. Da hatte mich die Müdigkeit übermannt und in diesen nicht gerade zur Erheiterung dienenden Traum gezogen.

Nach einer Weile richtete ich mich endlich wieder auf.

Undurchdringliche Finsternis umgab mich. Es war, als würde ich durch das Weltall schweben, ohne Ziel und ohne Richtung. Orientierungslos taumelte ich umher, verzweifelt nach einem Ausweg suchend.

Nicht schon wieder, dachte ich. Aber das war ganz sicher kein Traum.

Von irgendwoher erklang ein schriller Ton. Mit ausgestreckten Armen versuchte ich mich voranzutasten, während der Ton ein zweites Mal erklang.

Nach einer nicht enden wollenden Suche schaffte ich es – ich fand den Lichtschalter.

Der Schein der kleinen Birne erleuchtete mein Wohnzimmer, in dem ich vor wenigen Sekunden noch wie blind umhergeirrt war. Das helle Licht sorgte dafür, dass ich endgültig wach wurde und die düsteren Gedanken aus meinem Kopf vertrieben wurden.

Nun endlich konnte ich mich auch um den schrillen Ton kümmern, bei dem es sich um nichts anderes als die Haustürklingel handelte. Ich betätigte einen Knopf, der die Tür öffnete.

Im Bildausschnitt der Überwachungskamera sah ich meine Besucherin: Tanja Berner.

Ich hatte ihr bereits erklärt, dass sie in den dritten Stock musste.

Langsam bewegte ich mich in Richtung Tür und öffnete sie schließlich. Genau im richtigen Moment, denn in eben dieser Sekunde trat mir die Schweizerin entgegen. Sie trug einen dunkelroten Wollpullover, eine blaue Jeans und weiße Turnschuhe. Möglicherweise nicht die allerüblichste Verkleidung für ein Rendezvous, aber es sollte ja auch ein möglichst natürlicher Abend werden. Ganz im Gegensatz zu unserer Verabredung im Starlight Inn.

Ihre braunen Haare fielen Tanja Berner bis zu den Schultern. Sie ummantelten ein wunderschönes Gesicht, das mich verschmitzt anlächelte.

»Willst du mich nur anstarren oder mich auch hereinlassen, Jimmy?«, fragte sie zur Begrüßung.

»Am liebsten beides«, antwortete ich ebenfalls mit einem Lächeln im Gesicht.

Um auch die andere Hälfte meines Wunsches zu erfüllen, gab ich ihr den Weg frei.

Die Schweizerin trat ein und blickte sich zunächst etwas verwundert um. Währenddessen schloss ich die Tür wieder.

»Was ist los?«, fragte ich meinen Gast.

Die Schweizerin hob die Schultern. »Irgendwie …«, begann sie, »hab ich mir deine Wohnung ganz anders vorgestellt.«

»Wie denn?«

»Naja … etwas chaotischer.«

Chaotisch war meine Wohnung nun wirklich nicht. Ganz im Gegenteil – alles stand sauber an seinem Platz. Die sehr breite schwarze Couch, die prall gefüllten Bücherregale, der beige Teppichboden und die Bilder an den Wänden. Zudem hing an der Decke eine afrikanische Totenmaske, die allerdings von dem Vorbesitzer der Wohnung stammte. Ich hatte die Wohnung damals nur unter der Bedingung beziehen dürfen, dass ich die Maske hängen ließ.

Angeblich hatte sie einem senegalesischen Fruchtbarkeitspriester gehört. Da konnte ich mir meinen Teil denken, warum der Vorbesitzer sie unter die Decke gehängt hatte. Na ja, zu dieser Zeit hatte es noch keine kleinen blauen Pillchen gegeben, stattdessen hatte man auf Hausmannskost zurückgegriffen. Da kam einem natürlich sofort eine uralte Totenmaske in den Sinn.

»Du hättest einfach mal Dave fragen können. Er kennt sich hier bestens aus.« Mein alter Freund und Kollege Dave Logger hatte uns bei unserem letzten Fall begleitet, welcher letztendlich zu diesem Abendessen geführt hatte.

Tanja Berner zwinkerte mir zu. »Ich wollte mich eben überraschen lassen.«

»Möchtest du noch mehr Überraschungen?«

»Immer.«

»Dann zeige ich dir mein Arbeitszimmer.«

Ich ging vor und durchquerte das Wohnzimmer. Danach wandte ich mich nach links, öffnete eine weitere Tür und schaltete das Licht an.

Mein Blick und der meiner Begleiterin fielen auf einen etwa fünfzehn Quadratmeter großen Raum mit einem einzelnen Fenster, vor dem sich mein Schreibtisch befand. Gesäumt wurde er von mehreren gut zwei Meter hohen Schränken, in denen sich teils Akten vergangener Fälle, teils aber auch für die TCA unbrauchbar gewordene Artefakte befanden, die ich nicht unbedingt zum Recycling hatte freigeben wollen.

Besonders interessierte Tanja Berner aber das Poster, das rechts neben dem Schreibtisch hing. Es zeigte mich in einer Hängematte am Strand von Tahiti. Das Bild hatte einst meine (damals noch nicht) Ex-Frau gemacht, während sich unsere kleine Tochter im Wasser vergnügt hatte. Für einen kurzen Moment dachte ich daran, sie mal wieder zu besuchen, aber dann verwarf ich den Gedanken wieder. So wie es war, war es für uns alle besser.

Das Interessante an dem Bild aber war der Text, der im unteren Drittel des Posters zu lesen war: I WANT TO BELIEVE.

»Was soll das denn heißen?«, fragte Tanja Berner etwas verwirrt.

»Dass ich die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben habe, irgendwann mal von der TCA einen Urlaub genehmigt zu bekommen.«

»Dann träum mal schön weiter«, fügte die Schweizerin hinzu.

Das tat ich auch, allerdings wanderten meine Gedanken wieder zu einem anderen Thema: das Essen. In der Küche köchelte eine Weißwein-Garnelen-Suppe vor sich hin, während es sich ein Entenfilet im Solarium darunter gemütlich gemacht hatte. Dazu sollte es eine Polenta geben, wobei ich da noch meine Bedenken hatte, nachdem ich mir infolge meines letzten Versuchs, dieses Gericht zuzubereiten, eine neue Küche hatte zulegen müssen. Das kam eben davon, wenn man vor Wut ob des Nichtgelingens auf einen harmlosen Topf schoss.

Das rieb ich der Schweizerin aber lieber nicht unter die Nase.

Diesen Gedanken folgend, verließ ich mein Arbeitszimmer wieder. »Ich werde mal kurz in die Küche gehen und schauen, was das Essen macht.«

»Dann werde ich mich mal im Esszimmer umsehen«, antwortete Tanja Berner.

Mein Gang in die Küche war schnell erledigt. Die Suppe kochte völlig normal, die Ente würde noch ein wenig Hitze vertragen können und das Dessert im Kühlschrank, eine Schokoladenmousse, war sowieso schon fertig. Eigentlich konnte da gar nichts mehr schiefgehen. Eigentlich.

Ein plötzliches Ping machte mich darauf aufmerksam, dass die Garnelen nun lange genug im Whirlpool gebadet hatten. Ich stellte die Herdplatte aus, griff mir zwei Lappen, hob den Topf an und nahm ihn mit ins Esszimmer.

Wenn man sich über eines bei der TCA nicht beschweren konnte, dann war es die Tatsache, dass man als Mitarbeiter dieser Institution eine geradezu opulent wirkende Wohnung zur Verfügung gestellt bekam. So war es auch zu erklären, warum ich selbst für ein Esszimmer einen Raum frei hatte.

In besagtem Raum saß bereits Tanja Berner und wartete sehnsüchtig – ob auf das Essen, auf mich oder eine Erklärung zu dem letzten Fall, das konnte ich nur raten. Jedenfalls strahlten ihre Augen, als ich den Topf auf einem Untersatz in der Mitte des Tisches abstellte, den Deckel anhob und ihr mit einem großen Löffel eine erste Portion Suppe einschenkte.

»Was gibt es eigentlich Schönes?«, fragte die Schweizerin.

»Ob es etwas Schönes ist, weiß ich nicht, aber in jedem Fall ist es eine Garnelen-Weißwein-Suppe.«

»Klingt nicht schlecht.« »

»Vielleicht würde es noch besser klingen, wenn ich Süppli sagen würde.«

Der Blick, der mich daraufhin traf, hätte selbst die heiße Suppe in einen Eiswürfel verwandelt.

»Nur ein Scherz«, versuchte ich ihre Gemütslage wieder etwas aufzutauen.

Tanja Berner schien davon wenig überzeugt. »Das will ich auch hoffen.«

Schweigend schenkte auch ich mir etwas von der Suppe ein, setzte den Deckel wieder auf den Topf und mich auf meinen Stuhl. »Wohl bekomm‘s«, gab ich noch zum Besten.

Beide begannen wir, die Suppe zu löffeln. Nach den ersten Bissen beziehungsweise Schlucken merkte ich schon, dass mich das Kochbuch nicht betrogen hatte – die Suppe schmeckte wirklich sehr gut.

Tanja Berner sah das offensichtlich genauso. »Kaum zu glauben.«

»Was?«

»Dass das von dir ist. Hast du das wirklich selbst gekocht?«

»Nein, ich hab Gordon Ramsay entführt und in meiner Küche eingesperrt.«

Die Schweizerin schenkte mir einen vielsagenden Blick.

Vor Genuss schweigend aßen wir auch den Rest der Suppe. Bevor ich fragen konnte, ob sie noch Nachschub haben wollte (ich in jedem Fall), hielt sie mich auf.

»So, bevor du weiter gepflegte Ablenkung betreibst, will ich jetzt doch mal ein paar Antworten haben.«

»Zu Gordon Ramsay?«

Auf Tanja Berners Gesicht entstand ein schiefes Lächeln. »Nein, Jimmy«, antwortete sie. »Zu unserem letzten Fall: Wer sind diese von Borghs? Was hat der Name McShady zu bedeuten? Wer war der Geist, mit dem du gesprochen hast? Und warum zum Henker machst du so ein gewaltiges Geheimnis daraus?«

Die Schweizerin hatte sich ein wenig in Rage geredet, merkte das aber sofort und entschuldigte sich.

»Schon gut«, wiegelte ich ab. »Dafür sind wir ja unter anderem hier, damit ich dir alles erkläre.«

»Okay, ich bin gespannt«, sagte die Schweizerin, während sie ihre Arme auf den Tisch legte und die Position einer gespannten Zuhörerin einnahm.

»Wo soll ich anfangen?«

»Am besten am Anfang.«

»Also gut …« Ich atmete einmal tief durch. Besonders gerne redete ich nicht über meine Vergangenheit und vor allen Dingen über diesen Abschnitt, aber zum einen schwebte er immer wie ein Schatten über mir und zum anderen war das wohl die Grundvoraussetzung dafür, dass sich Tanja auch mir öffnete.

»Es war einmal ein …«

»Jimmy!«

»Entschuldige«, versuchte ich meinen kleinen Scherz zu verschleiern. »Also, alles fing im Prinzip damit an, dass sich meine Mutter von meinem leiblichen Vater – unserem herzallerliebsten Sir Gerald Spider – trennte. Mein Vater war und ist, wie du vielleicht schon bemerkt hast, eine ziemlich einnehmende Persönlichkeit. Einnehmend bedeutet hierbei herrschsüchtig, kontrollfanatisch und äußerst arrogant. Zumindest ist er das als Top-Agent der TCA geworden. Der daraus folgende Streit fand sein vorläufiges Ende dadurch, dass sich meine hochschwangere Mutter von ihm trennte.«

Ich unterbrach meine Rede kurz und trank einen Schluck Wasser, um die Spannung zu steigern. »Meine Mutter nahm wieder ihren Geburtsnamen an: Rita McShady.«

Tanja Berner horchte auf. Offenbar hatte ich damit schon eine ihrer Fragen angerissen.

»Sie zog aus Manchester weg und zurück nach Schottland. In einer kleinen Stadt ließ sie sich nieder, gemeinsam mit Quentin Tremaine, einem früheren Freund meines Vaters, der auch zu ihrem besten Freund geworden war. Doch dabei blieb es nicht. Die beiden verliebten sich ineinander und beschlossen, das Kind gemeinsam großzuziehen.

So kam es dann auch: Ich wurde geboren, wuchs heran und sah Quentin Tremaine genauso als meinen Vater an wie Rita McShady als meine Mutter, obwohl sie mir schon früh die Wahrheit gesagt hatten. Alles lief normal, es war eine wunderbare Zeit. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie wohl ich mich gefühlt hatte, bis zu dem Tag, an dem sich alles änderte …«

Die Schweizerin hörte mir offenbar sehr gespannt zu. Aber sie zeigte auch Verständnis für meine Lage. »Wenn du darüber nicht reden willst …«

Ich winkte ab. »Nein, nein. Du bist hier, um die Wahrheit zu hören, und die werde ich dir auch erzählen.«

Ich berichtete ihr von den Ereignissen in jener Nacht, von der ich vor wenigen Minuten noch sehr intensiv geträumt hatte. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass mich der Killer (seinen Namen Victor von Borgh hatte ich im Gegensatz zu dem seines Partners Finnegan erst viel später erfahren) damals nicht in meinem Versteck im Schrank entdeckt hatte.

»Nachdem die beiden gegangen waren, hatte ich mich zwei Tage lang im Schrank versteckt, bis mich schließlich mein leiblicher Vater dort gefunden hat.«

Tanja Berner war sichtlich schockiert von dem, was ich ihr erzählt hatte. »Es … es tut mir so leid.«

»Was denn? Ist etwas mit der Suppe nicht in Ordnung?«

»Nein … ich meine, wenn ich gewusst hätte, was alles dahinter steckt und was ich dich alles gezwungen habe erneut zu durchleben, dann …«

»… hättest du nicht gefragt? Nein, es ist schon besser so. Wir sind ein Team und da sollten wir keine Geheimnisse voreinander haben.«

»Na gut.« Überzeugt schien die Schweizerin von meinen Worten nicht zu sein.

»Und da du nun schon hier bist, werde ich dir auch den Rest meiner Geschichte erzählen.« Ich trank noch einen Schluck Wasser, bevor ich meinen Bericht fortsetzte. »Da meine Eltern tot waren, nahm mich Sir Gerald wieder unter seine Fittiche. Du musst wissen, damals war er noch ein sehr aktiver Agent und Albert Scarfe sein Partner. Beide sorgten dafür, dass mich mein Lebensweg schnurstracks in Richtung TCA führte. Aber mit der Zeit keimte in mir ein Wunsch immer weiter heran: Der Wunsch nach Rache. Mein Vater wusste davon, wollte mich aber immer – zu meinem Wohle – davon abhalten. Aber der Wunsch ließ mich nicht los, selbst als ich schon eine Frau kennengelernt und mich mit ihr verlobt hatte.

Du kennst Dave Logger ja ziemlich gut, er ist mein bester Freund, aber kennst du auch seinen Bruder Andrew?«

Tanja Berner schüttelte den Kopf. »Er hat mir nie von ihm erzählt. Warum?«

»Andrew Logger war Mitglied des MI6. In dieser Funktion besaß er Informationen, die selbst für die TCA zu geheim waren. Informationen über Terroristen, Gangsterbosse, Auftragskiller … und damit auch über diesen Finnegan. Es war bekannt, dass er ein Scharfschütze war und als rechte Hand eines gewissen Victor von Borgh diente. Von Borgh, anfangs nur ein einfacher Killer, hatte sich in den Jahren nach dem Mord an meinen Eltern eine eigene kleine Privatarmee aufgebaut: Die Guardia Azul, die blaue Garde. Als Anführer dieser vor allem, aber nicht nur in Südamerika tätigen Truppe war er in Waffendeals, Auftragsmorde, Menschenhandel und einige weitere Dinge verstrickt.

Als ich ein Foto von ihm sah, wusste ich es sofort: Er war der Mörder meiner Eltern!«

»Und was hast du dann gemacht?«

»Das …« Meine Gedanken begannen zu kreisen, als ich mich an die damaligen Ereignisse erinnerte. »… ist eine andere Geschichte.«

***

Elf Jahre zuvor

Die Hitze war kaum zu ertragen. Die Luft flimmerte förmlich und selbst an den schattigsten Plätzen in diesem Wald fühlte es sich an wie in einem Hochofen.

Im Hintergrund war das monotone Rauschen des Wasserfalls zu hören. Ich nahm das Geräusch hin, denn im Moment interessierte ich mich nur für eine Sache.

In etwa einhundertfünfzig Metern Entfernung war ein Gebäudekomplex, eine ausladende Villa, zu sehen. Dort sollte sich der Mann aufhalten, der mein gesamtes Denken beherrschte: Victor von Borgh.

Und nicht nur er, auch sein Assistent Finnegan, vier weitere Mitglieder der Guardia Azul sowie der Besitzer der Villa, der kolumbianische Drogenbaron Alfonso Hierro und zwei Dutzend seiner Männer (möglicherweise auch Frauen, um nicht diskriminierend zu wirken) befanden sich dort, um einen Drogendeal durchzuziehen.

Das MI6 hatte durch einen Informanten Wind von dem Treffen bekommen und sein bestes Team ausgesandt, um die Guardia Azul und das Hierro-Kartell mit einem einzigen Schlag außer Gefecht zu setzen. Dank meiner Freundschaft mit Dave und auch Andrew Logger – und natürlich meiner Vorgeschichte mit Victor von Borgh – hatte man mich trotz meiner relativen Unerfahrenheit an dieser Mission teilhaben lassen.

Das Team bestand aus insgesamt acht Mitgliedern, Andrew Logger und mich eingeschlossen. Von meinem Freund sah ich zurzeit nur seine kurzen schwarzen Haare und seinen Nacken. Der MI6-Agent und Teamleiter spähte mit einem Fernglas das vor uns liegende Gebäude aus.

Bisher war es noch zu keinem Feindkontakt gekommen, was sich im nächsten Augenblick aber änderte. Eine besonders große und vorwitzige Steckmücke erschien vor meinem Gesicht und suchte sich ausgerechnet meine Nase als Landeplatz aus.

Für einen Moment überlegte ich, ob ich den kleinen Blutsauger mit meiner MAC-10 verscheuchen sollte, aber dann entschied ich mich doch für eine wesentlich unblutigere Version – ich schnippte sie einfach weg.

Der davonfliegende Körper traf ein weiteres Ziel: Das Gesicht einer braunhaarigen Frau. Die MI6-Agentin gab einen leisen Schrei von sich, während sie die Reste des Insekts aus ihrem Gesicht strich.

Andrew Logger drehte sich herum und warf mir einen vielsagenden Blick zu. Sein Gesicht ähnelte dem seines Bruders, allerdings wirkte seines viel straffer und angespannter.

Ich hob die Schultern, wie um zu sagen: Was denn?

Mein Freund schüttelte nur den Kopf und wandte sich wieder in die Richtung der Villa.

Die braunhaarige Schönheit, Alicia Silver, fixierte mich mit einem bösen Blick.

»Entschuldigung«, flüsterte ich. »Dafür gebe ich Ihnen später einen aus.«

»Da müssen Sie aber tief in die Tasche greifen«, flüsterte sie zurück, während sich ihre Gesichtszüge wieder entspannten.

Neben Silver waren noch vier Männer und eine weitere Frau an der Mission beteiligt. Noch versteckten wir uns gemeinsam im Unterholz,  aber schon in wenigen Minuten würden wir uns in zwei Vierergruppen aufteilen. Das hatte Andrew Logger bereits bei der Einsatzbesprechung festgelegt.

Mein Freund steckte das Fernglas wieder weg, drehte sich zu uns herum und gab uns flüsternd seine Beobachtungen wieder. »Wir müssen aufpassen – Hierro hat um die Villa herum mindestens vier und auf deren Dach ebenfalls zumindest vier Wachen postiert, möglicherweise sogar mehr. Unser Ziel ist es, möglichst unbemerkt in die Villa zu gelangen. Das bedeutet, die Wachen im Wald möglichst früh und vor allem leise auszuschalten.«

Dabei warf es ausgerechnet mir einen schiefen Blick zu, dem ich mit einem Zwinkern entgegnete.

»Die Wachen auf dem Dach der Villa sollten nur im Notfall ausgeschaltet werden. Unser Ziel ist es, möglichst unauffällig in das Gebäude zu gelangen. Gruppe 1, also Bell, Simmonds, Spider und ich, werden durch den linken Nebeneingang in das Gebäude eindringen.« Er wies dabei auf eine aus dieser Entfernung nur undeutlich zu erkennende Tür etwas versetzt neben dem Haupttor. »Gruppe 2 mit Gutierrez, Chong, Frost und Silver wird den Lieferanteneingang …« Er wies auf eine weitere Tür. »… nehmen. Gutierrez?«

»Ja, Sir?« Ein braun gebrannter, muskulöser Glatzkopf erhob sich ein wenig.

»Sie übernehmen die Führung der Gruppe. Denken Sie alle immer daran: Beschränken Sie den Funkkontakt auf ein Minimum, denn nur so bleibt das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Und falls jemand fragt – die Überwachungskameras werden durch diesen Sender …«, er hielt ein kleines rechteckiges Gerät in die Höhe, »gestört, sobald ich ihn gleich aktiviere. Das bedeutet, wir haben nur wenige Minuten Zeit, um in das Gebäude einzudringen und die Zielpersonen zu finden, bevor das Sicherheitspersonal eingreifen wird. Noch Fragen?«

Ich hob meine linke Hand.

Andrew Logger verdrehte die Augen. »Was denn noch?«

»Wissen wir, wo ungefähr sich die … Zielpersonen … aufhalten?«

»Eine gute Frage. Den Annahmen des MI6 zufolge findet das Treffen in einem Saal etwa im Zentrum der Villa statt. Da uns jedoch keine genaueren Daten über die Lage dieses Saals vorliegen, werden wir uns wohl oder übel von Raum zu Raum dahin vorarbeiten müssen.«

Wenn das mal keine rosigen Aussichten waren. Acht Agenten gegen zweieinhalb Dutzend bis an die Zähne bewaffnete Gangster. Wenn meine Verlobte davon erfahren würde, würde sie mich wahrscheinlich eigenhändig umbringen. Ich hatte ihr erzählt, die TCA würde einen Betriebsausflug zu den Niagarafällen unternehmen. Nun, genauer betrachtet war das auch nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt.

»Vorrücken auf mein Zeichen«, gab Andrew Logger zu verstehen.

Er machte eine entsprechende Handbewegung. Es begann also.

Die andere Gruppe entfernte sich bereits einige Meter von uns, während wir Baum für Baum vorrückten. Mit einem Seitenblick erspähte ich John Bells von Anspannung gezeichnetes Gesicht. Wie wir alle trug auch er eine kugelsichere Weste, die sich bei diesen hohen Temperaturen sehr positiv auf die Schweißproduktion auswirkte. Bell nickte mir kurz zu, dann rückten wir weiter vor.

Etwas knackte. Alle Teammitglieder verharrten sofort in ihrer Position.

Etwa fünf Meter vor uns erschien ein braun gebrannter Mann in einem braunen Tarnanzug, der eine MP im Anschlag hielt. Ob er uns gesehen hatte, wusste ich nicht, in jedem Fall wirkte er recht nervös. Immer wieder zuckte er herum, auf der Suche nach einem Ziel.

Als er sich wieder in unsere Richtung wandte, passierte es. Ein leiser Schuss erklang, kurz darauf färbte sich die linke Brustseite des Mannes rot. Lautlos brach er zusammen.

»Vorrücken!«, erklang es leise aus dem Mikro in meinem Ohr.

Wer den Mann erschossen hatte, wusste ich nicht, letztendlich war es mir aber auch egal. Hauptsache, er konnte niemandem von unserer Ankunft berichten.

Der Schuss schien nicht gehört worden zu sein. Die MP5 meiner Begleiter waren wie meine MAC-10 mit Schalldämpfern ausgerüstet. Nur die Desert Eagle, die ich in einem Holster an meiner Hüfte trug, besaß dieses Extra nicht. Allerdings hatte ich sie auch nur für eine einzige Person mitgenommen.

Bell, Simmonds, Logger und ich rückten weiter vor. Baum für Baum näherten wir uns der Villa. Die Büsche waren hier zum Glück derartig dicht gewachsen, dass man uns von dem Gebäude aus nur erkennen konnte, wenn man sich ganz genau auf die Bewegungen der Pflanzen konzentrierte. Doch dass sich in der Villa gerade jemand für botanische Merkwürdigkeiten interessierte, bezweifelte ich stark.

Nach etwa zwei Minuten hatten wir den Seiteneingang fast erreicht.

In diesem Moment passierte es – die Tür wurde von innen geöffnet. Sofort hielten wir unsere Waffen im Anschlag.

Der Mann schien uns allerdings nicht zu bemerken. Stattdessen konzentrierte er sich auf seine Hose und versuchte dort, einen bestimmten Reißverschluss aufzubekommen. Dabei sang er sogar noch ein Lied. »Yaleooo, Yaleeeeoohooo …!«

»Ähem«, sagte ich leise, um seine Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.

Der Mann zuckte zusammen und blickte uns mit schreckgeweiteten Augen an. Einen Augenblick später traf ihn eine Kugel mitten in die Stirn. Ohne einen Ton von sich zu geben, kippte er wieder in das Haus zurück, um ebenso stumm liegen zu bleiben.

Andrew Logger, der den Schuss abgegeben hatte, sah mich entgeistert an.

»Das war aber keine freundliche Begrüßung«, flüsterte ich ihm zu.

Unser Teamleiter schüttelte den Kopf. »Dave hat mich davor gewarnt …«

Nach dieser kleinen Unterredung setzten wir unseren Weg fort. Mit Andrew Logger an der Spitze stiegen wir nacheinander über den toten Hobby-Tenor hinweg und betraten die Villa.

Von Luxus war hier zunächst einmal nichts zu sehen. Abgeblätterte weiße Farbe an den Wänden und ein regelrechter Schmutzteppich auf dem Boden erweckten den Eindruck, dass das Hierro-Kartell unter Geldproblemen leiden würde. Oder die Putzfrau war krank.

So leise wie möglich schlichen wir durch den Gang, der nach wenigen Metern einen Knick nach links machte.

Vor mir ging Tara Simmonds, die zweite Frau im Team. Ihr Pferdeschwanz wippte geradezu hypnotisch vor meinem Kopf hin und her. Links – rechts – links – rechts …

Ich wischte mir über die Augen. Nicht die Konzentration verlieren, Jimmy!, sagte ich mir gedanklich.

Mittlerweile hatten wir einen weiteren Gang erreicht. Dieser machte bereits einen saubereren Eindruck. Offenbar schien dieser auch bewohnt zu sein, denn aus einem Raum auf der rechten Seite drang laute Musik. Dieses Mal war es ein englisches Lied. »Hey now, all your killers, put your lights on …”

Den wie die Faust aufs Auge passenden Songtext ließ ich lieber unkommentiert.

Vorsichtig näherten wir uns dem Raum. Die Tür stand halb offen und gewährte uns einen Blick auf einen Holztisch, auf dem mehrere Männer Karten zu spielen schienen. Zumindest sah ich einen von ihnen an einem Fenster sitzen sowie die Hände eines weiteren Mannes.

»Ausschalten oder weitergehen?«, hauchte ich meinem Freund zu.

»Ausschalten. Wir können es uns nicht leisten, Gegner in unserem Rücken zu haben.«

»Okay.«

Logger gab Bell und Simmonds einen Wink. Beide näherten sich der offenen Tür, die Waffen im Anschlag. Andrew und ich gaben ihnen Rückendeckung.

»Go!«, flüsterte Logger.

Bell und Simmonds stürmten in den Raum. Der Gangster am Fenster bekam eine Kugel in den Kopf. Blut spritzte gegen die Scheibe.

Erste Schreie erklangen, gingen aber zum Großteil in der lauten Musik unter.

Ein bärtiger Mann sprang auf und wollte gerade mit seiner Pistole auf uns anlegen, als ihn zwei Geschosse in der Brust trafen. Schreiend fiel er nach hinten und riss seinen Stuhl mit sich zu Boden.

Auch Andrew und ich betraten nun den Raum. Zwei weitere Gangster lagen am Boden und rührten sich nicht mehr. Offenbar hatten wir sie durch unsere Aktion völlig überraschen können.

Als wollte mich jemand Lügen strafen, flog plötzlich eine Tür am anderen Ende des Raumes auf. Eine Frau mit einer Uzi in der Hand erschien und drückte sofort ab.

Die erste Garbe traf John Bell an Kopf und Körper.

Ich reagierte als Erster und schoss zurück. Meine Kugel hieb mitten in ihre Brust. Ihr weißes Hemd wurde blutig aufgerissen, während sie zu Boden stürzte.

Erst jetzt konnten wir uns um John Bell kümmern. Ein Geschoss hatte ihn am Hals getroffen, zwei weitere waren im Brustbereich eingeschlagen. Auch die kugelsichere Weste hatte ihm nicht geholfen. Ich benötigte keinen zweiten Blick, um zu sehen, dass er tot war.

Tara Simmonds war sichtlich geschockt, Andrew Logger umso gefasster. Er nickte mir zu, bevor er uns auf den Boden der Tatsachen zurückbrachte. »John soll nicht umsonst gestorben sein. Wir müssen weiter.«

Simmonds nickte nur zögerlich, bevor sie sich wieder fing und Andrew zurück in den Gang folgte. Ich bildete wieder den Abschluss.

Die Waffen im Anschlag setzten wir unseren Weg fort.

»Status Gruppe 2«, flüsterte Logger ins Mikro, dass er wie wir alle am Kopf trug.

»Wir sind etwa fünf Meter weit in die Villa eingedrungen. Kurzer Feindkontakt, keine Verluste bei uns, drei Gegner ausgeschaltet.«

»Okay, over.«

Wir rückten weiter vor. Nach etwa zehn Metern endete der Gang an einer geschlossenen braunen Tür.

Logger schickte Tara Simmonds nach vorne. Sie sollte prüfen, ob die Tür abgeschlossen war. Währenddessen brachten Andrew und ich unsere Waffen in Stellung.

Durch den Druck von Simmonds‘ linker Hand glitt die Klinke nach unten. Ein leises Geräusch erklang. Vorsichtig zog die Agentin an der Tür. Tatsächlich – sie ließ sich öffnen.

»Auf mein Zeichnen reißen Sie die Tür auf«, flüsterte Andrew Logger.

Einen Moment wartete er noch ab. »Jetzt!«

Die Tür wurde aufgerissen, wir machten uns auf einen Schusswechsel gefasst – doch es geschah nichts. Kein mordlüsterner Drogendealer sprang uns schreiend entgegen. Allgemein herrschte hier eine geradezu unnatürliche Stille.

Andrew Logger rückte als Erste vor, danach folgten Tara Simmonds und ich.

Vorsichtig betraten wir einen Raum, den man wohl am besten als Heimkino bezeichnen konnte. Eine weiße Leinwand zierte die gegenüberliegende Wand, während sich auf unserer Seite eine ausladende Couch befand, davor ein leerer Marmortisch.

Eines musste man Alfonso Hierro lassen: Geschmack hatte er.

Mein Blick fiel auf die umfangreiche Video- und DVD-Sammlung, die sich links und rechts neben der Leinwand aufbaute. Vielleicht hätte ich mit meiner Geschmacks-Gratulation nicht so voreilig sein sollen, denn was sich da an Pornofilmen angesammelt hatte, hätte selbst Hugh Hefner vor Neid erblassen lassen.

»Jimmy!«, zischte mir Andrew Logger zu.

»Was ist?«

»Du bist verlobt, schon vergessen?«

»Ich war nur neugierig.« Was Andrew wohl von mir dachte? Ich verdrängte diesen Gedanken schnell wieder.

Mit einem Rundblick erkannte ich am anderen Ende des Raumes eine weitere Tür, die allerdings offen stand.

Andrew Logger durchschritt sie als Erster. In diesem Raum befand sich eine Art Bücherei, denn die Schränke waren vollgestopft mit dicken und dünnen Wälzern, die teilweise schon einige Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte auf dem Buckel zu haben schienen.

Mittlerweile schienen wir dem Zentrum der Villa ein gutes Stück näher gerückt zu sein, denn die Mini-Bibliothek lag an einer Fensterwand, die mutmaßlich in den Hof der Villa führte. Genau konnten wir es nicht sagen, da ein wenig lichtdurchlässiger Vorhang die Scheiben verdeckte.

Die kurze Phase der Entspannung nutzte Logger, um sich noch einmal mit Gruppe 2 in Verbindung zu setzen. »Status Gruppe 2.«

Zunächst entstand nur ein kurzes Rauschen, dann kam doch noch eine Antwort. »Haben zwei weitere Gegner ausschalten können. Möglicherweise haben wir den Saal gefunden. Vor uns dringen laute Stimmen aus einem Raum.«

»Position halten und auf mein Kommando warten. Over«, wies Logger seinen Agenten Gutierrez an.

»Okay, over.«

Mein Freund drehte sich zu Simmonds und mir um. »Ihr habt es gehört. Da Gruppe 2 links von uns in das Gebäude eingedrungen ist, muss sich das Ziel in der Richtung befinden, in die wir uns bewegen. Also, weiter vorrücken.«

Wir nickten und machten uns wieder bereit.

Vorsichtig öffnete Simmonds die nächste Tür. Auch sie ließ sich ohne Probleme öffnen.

Als vor Andrew und mir die Tür aufflog, fiel unser Blick diesmal nicht in einen leeren Raum. Stattdessen starrten wir in das von Schreck erstarrte Gesicht eines bewaffneten Mannes. Bevor er sich erholen und seine Pistole hochreißen konnte, drückten Logger und ich gleichzeitig ab. Unseren Kugeln hieben in seine Brust und ließen ihn zusammenbrechen.

Hinter dem Mann erklangen Stimmen. Offensichtlich war das Geschehen bemerkt worden.

Ich versuchte, einen Blick in den anderen Raum zu erhaschen. Kaum dass ich etwas sehen konnte, flog auch schon eine Kugelgarbe über mich hinweg.

Eines der Geschosse zischte so nahe über meinen Kopf, dass ich seinen Luftzug spüren konnte.

Im nächsten Moment schoss ich zurück. Die erste Kugel schlug irgendwo in der gegenüberliegenden Wand ein, die zweite aber traf. Blut spritzte, während ein mit einer MP bewaffneter Mann zu Boden stürzte.

Mit der MAC-10 im Anschlag spähte ich in den Raum hinein. Ich erkannte ein paar Schränke und ein Sofa, aber keinen weiteren Gegner.

Vorsichtig bewegte ich mich auf den am Boden liegenden Mann zu. Ich wusste nicht, ob ich ihn tödlich getroffen hatte. Um die schauspielerische Qualität einiger Südländer richtig einschätzen zu können, brauchte man sich nur mal ein Fußballspiel anzusehen.

Plötzlich kam er tatsächlich wieder hoch. Schreiend legte der Mann mit seiner MP auf mich an, doch noch bevor er zum Schuss kam, drückte ich selbst ab. Diesmal traf ihn die Kugel in den Kopf. Ein zweites Mal würde er seinen Trick sicher nicht versuchen.

Nun betraten auch Andrew Logger und Tara Simmonds den Raum.

»Gute Arbeit, Jimmy«, meinte mein Freund. »Ich befürchte nur, dass man uns diesmal gehört hat.«

»Wenigstens hat auch der Gangster eine MP mit Schalldämpfer benutzt«, gab Simmonds zu bedenken.

»Sie hat recht«, stimmte ich ihr zu. »Und selbst wenn man uns gehört hat, ist es jetzt für eine Flucht zu spät.«

Während Andrew Logger mir zunickte, strich ich mit meiner linken Hand über meine Desert Eagle. Was auch mit uns passierte, Victor von Borgh sollte meine Rache zu spüren bekommen …

Wir einigten uns darauf, unseren Weg durch das Gebäude fortzusetzen.

Wieder öffnete Tara Simmonds vorsichtig eine Tür. Diesmal empfing uns kein Gangster, dafür fiel unser Blick auf eine Art Lobby, an deren Ende mehrere Türen zu sehen waren. Und genau an der mittleren von ihnen standen Silver, Gutierrez und Chong. Als sie uns sahen, entspannten sich ihre Körper.

So leise wie möglich gingen wir zu unseren Kollegen.

»Wo ist Frost?«, war die erste Frage, die Andrew Logger stellte.

Gutierrez schüttelte den Kopf. »Er hat es leider nicht geschafft. Eine Frau hat ihn mit einem Messer ins Herz getroffen. Wir konnten sie und drei weitere Gegner zum Glück ausschalten, bevor sie noch mehr Schaden anrichten konnten.«

»Und wie ist die Lage jetzt?«

Der braun gebrannte Agent wies auf drei Türen vor uns. »Alle diese Türen scheinen in diesen ominösen Saal zu führen. Wir konnten Stimmen hören. Offensichtlich ist der Deal gerade in vollem Gange.«

Logger nickte ihm zu. »Also gut«, begann er an uns alle gewandt. »Ab hier gibt es kein Zurück mehr. Es bleibt uns nur eine Möglichkeit: Wir müssen den Saal stürmen. Dazu werden wir Zweiergruppen bilden, jede Gruppe übernimmt eine der Türen. Spider und Gutierrez übernehmen die linke Tür, Chong und ich …« Er nickte einem recht kleinen dunkelhaarigen Mann zu, dem man seine asiatische Herkunft sofort ansah. »… übernehmen die mittlere, Silver und Simmonds die rechte. Noch Fragen?« Dabei sah er ausgerechnet mich an.

Ich gab keinen Ton von mir. Kurz darauf nahmen wir unsere Plätze ein.

In diesem Moment der Ruhe strich ich noch einmal über meine Desert Eagle. Endlich war es so weit. Nun würden von Borgh und Finnegan endlich für das bezahlen, was sie Mum, Dad und mir angetan hatten. Endlich …

Aufgeregte Stimmen aus dem Saal rissen mich aus meinen Gedanken. Mehrere Männer sprachen laut miteinander, dazwischen erklang hin und wieder ein Lachen.

»Jetzt!«, schrie Logger.

Fast gleichzeitig rissen wir die Türen auf.

Vor uns erschienen zwei Wachen mit Maschinenpistolen im Anschlag. Bevor sie reagieren konnten, drückten wir ab. Die Einschläge der Kugeln warfen die Männer zurück.

Gemeinsam stürmten Gutierrez und ich in den Saal – und spürten plötzlich den kalten Stahl an unseren Schläfen. Eine Falle!, schoss es mir durch den Kopf.

Den Anderen erging es wohl ähnlich. Überall an den Türen hatten sich Männer und Frauen postiert, die das gesamte Team mit ihren Waffen in Schach hielten.

Kein Schuss fiel mehr, stattdessen herrschte eine angespannte Ruhe.

Erst jetzt gelang mir ein Blick in den Saal. Und das war dieser Raum tatsächlich. Vor mir führte eine ausladende Marmortreppe in die kreisrunde Mitte des Saals, auf dessen Boden sich ein Fresko abzeichnete, das mich an die Mandalas erinnerte, die ich in der Schule hatte zeichnen müssen. Von allen Seiten führte diese Treppe leicht nach unten.

Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine Bar mit einem breit gefächerten Getränkesortiment. Sogar ein Barmann stand hinter dem Tresen und mixte seelenruhig Cocktails. Vor der Bar hatten sich ein halbes Dutzend Männer aufgebaut, drei von ihnen in dunkelblauen Uniformen. Die Guardia Azul war also tatsächlich hier vertreten.

Links neben diesen Typen erkannte ich jemanden. Ich hatte ihn bereits auf einem Fahndungsfoto gesehen. Es war Finnegan, Victor von Borghs Partner. Ein recht dünner glatzköpfiger Mann, der als Zierde noch einen braunen Ziegenbart an seinem Kinn trug. Das Hawaiihemd an seinem Oberkörper und die kurze Hose an seinen Beinen ließen ihn eher wie einen Touristen wirken und nicht wie einen kaltblütigen Mörder, der er in Wirklichkeit war. Nur sein verächtliches Grinsen wies ihn als solchen aus.

In der Mitte des Raumes standen zwei weitere Männer. Einer von ihnen war ein etwa zwei Meter großer Latino, der einen feinen, weißen Anzug trug. Sein Gesicht zierte ein schwarzer Dreitagebart. Das musste Alfonso Hierro sein, doch wo befand sich mein eigentliches Ziel?

Bei einem weiteren Rundblick erkannte ich es. Victor von Borgh stand am Fuße der Treppe zwischen einem von Hierros Leibwächtern und dem vierten Mitglied der Guardia Azul. Von Borgh musste etwa ein Meter neunzig groß sein. Anders als sein Partner Finnegan trug er eine Art lockere Uniform – ein dunkelblaues, fast schwarzes Hemd mit einem nicht definierbaren Muster sowie eine etwas hellere Hose. Seinen Oberkörper umspannte der Haltegurt einer KBP A-91, ein Sturmgewehr mit einem eingebauten Granatwerfer. Zusätzlich erkannte ich sein langes, gewelltes schwarzes Haar, eine Art Markenzeichen von ihm, das ihm bis über die Schultern fiel.

Sein muskulöses, aber dennoch fein geschnittenes Gesicht machte einen entspannten Eindruck. Sein Blick wanderte über die sechs Gefangenen, wobei ich nicht das Gefühl hatte, dass er mich erkannte. Dafür ich ihn umso mehr. In meinem Inneren stieg eine heiße Wut empor und für einen Moment dachte ich daran, einfach abzudrücken, denn die MAC-10 befand sich noch immer in meiner Hand. Die Konsequenzen – meinen eigenen Tod eingeschlossen – wären mir egal gewesen.

Doch dieses Gefühl verging schon nach kurzer Zeit. Allmählich wurde mir wieder bewusst, dass der Lauf einer Pistole gegen meine Schläfe drückte.

Mein Blick wanderte über einen breiten Marmortisch, der direkt vor mir stand und den ich bisher nicht bemerkt hatte. Vor den anderen Agenten standen ebenfalls solche Tische. Wenn ich nur irgendwie unsere Bewacher ausschalten könnte, wären sie die ideale Deckung bei einem Schusswechsel …

Ein Klatschen riss mich aus meinen Gedanken. Es war Alfonso Hierro, der seine Hände aufeinander geschlagen hatte. »Meine sehr verehrten Damen und Herren«, begrüßte er uns in recht normalem Englisch, wobei man dennoch einen spanischen Akzent heraushören konnte. »Es freut mich wirklich ungemein, dass auch Sie sich auf unserer kleinen Sommerparty eingefunden haben. Ich habe Sie schon sehnsüchtig erwartet.«

Er nickte in unsere Richtung. Plötzlich nahm Alicia Silvers Bewacher seine Waffe von ihrer Schläfe. Daraufhin hob sie selbst ihre MP5 an und richtete sie auf Tara Simmonds. »Was zum …«, drang noch aus ihrem Mund hervor, bevor Silver abdrückte.

Die Kugel hieb in Tara Simmonds Kopf und ließ sie augenblicklich zusammenbrechen.

Ich schloss für einen Moment die Augen.

Als ich sie wieder öffnete, sah ich das verächtliche Grinsen in Alicia Silvers Gesicht. Gemächlich löste sie sich aus unserer Reihe und stieg die Treppe hinab. Unten angekommen, gab ihr Alfonso Hierro einen Kuss auf den Mund.

»Danke für deine Hilfe, meine Liebe«, fuhr er fort. »Wie Sie sehen, bin ich bereits frühzeitig von ihrem Eintreffen informiert worden. Es geht doch nichts über Beziehungen, nicht wahr? Sie werden sich sicher fragen, warum Sie überhaupt bis hierhin vordringen konnten. Wie Sie wissen, ist das Drogengeschäft eine sehr unkonstante Branche, und hin und wieder fühle auch ich mich genötigt, einigen überschüssigen Ballast, sprich überflüssig gewordene Mitarbeiter, abzuwerfen. Und da ich Sie so oder so hier erwartete, bestand für mich nie eine Gefahr. Nun, meine Freunde von der Guardia Azul waren über diesen Umstand vielleicht nicht informiert, aber zu einer guten Party gehören doch auch freudige Überraschungen, nicht wahr?« Er nickte Victor von Borgh zu, doch dieser zeigte keine Regung.

»Wie dem auch sei, ich möchte Sie, meine Gäste, nun darauf einstimmen, was Sie in den kommenden Minuten erwartet …«

Während sich Hierro detailliert in der Beschreibung unseres Todes erging, beugte ich mich leicht zu meinem Partner Gutierrez herüber. »Wenn ich gleich mit der Zunge schnalze …«, flüsterte ich, »werfen Sie sich nach vorne, schmeißen den Tisch um und versuchen so viele Gegner wie möglich auszuschalten. Um unsere beiden Freunde kümmere ich mich.«

Ob er nickte, bekam ich nicht mit, denn plötzlich drückte der Waffenlauf wieder stärker gegen meine Schläfe. »Hey, hier wird nicht geflüstert!«, zischte mir mein Nebenmann ins Ohr.

»Schon gut, Amigo!«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.

»Ich bin nicht dein Amigo

»Dann hab ich Sie wohl verwechselt.«

Bevor mein Bewacher mir etwas entgegnen konnte, erklang vor uns ein Hüsteln.

»Meine Herren, ich darf doch bitten!« Hierro klatschte wieder mit seinen Händen. »Nun, da Sie sich alle Ihrer aussichtslosen Lage bewusst geworden sind, möchte ich Sie freundlichst bitten, Ihre Waffen langsam abzulegen und …«

»Nein!«, fiel ihm Tommy Chong ins Wort.

»Bitte, Mr. Marin, halten Sie Ihren Gefangenen doch unter Kontrolle.

Der Angesprochene reagierte sofort und schlug mit dem Lauf seiner Waffe zu.

Der schwarzhaarige Agent wurde am Kopf getroffen, taumelte nach vorne, hielt sich aber auf den Beinen. Mir gelang ein kurzer Blick in sein Gesicht. Ich sah seine Entschlossenheit, er zwinkerte mir zu und ich wusste sofort, was er vorhatte.

Vorsichtig wanderte meine linke Hand zum Halfter meiner Desert Eagle, entsicherte sie leise und …

Plötzlich riss Chong seine MP5 hoch. Im selben Moment schnalzte ich mit der Zunge.

Gutierrez reagierte sofort und warf sich nach vorne.

Ich riss die Desert Eagle aus dem Halfter, erhob auch die MAC-10 und drückte sofort ab.

Der Gangster links von uns wurde voll am Kopf getroffen, der zweite rechts neben mir bekam die Kugeln meiner MAC-10 in die Seite. Augenblicklich brach er zusammen, wodurch er die Schussbahn zu seinem Nebenmann freimachte.

Bevor der Kerl reagieren konnte, schoss ich erneut. Wieder schlugen die Kugeln in den Körper ein.

Während er fiel, warf auch ich mich zu Boden. Im nächsten Moment schon brach ein wahres Schussgewitter über mich herein. Die Wand hinter mir wurde von den Geschossen regelrecht zersiebt.

Mich traf keines von ihnen, denn Ramon Gutierrez hatte ebenso gedankenschnell reagiert und den Marmortisch umgestoßen. So gab er uns eine fast perfekte Deckung.

Ich stellte meine MAC-10 auf Dauerfeuer um.

Neben mir erklangen schlimme Schreie. Tommy Chong hatte seine MP5 erhoben, aber seine Kugeln trafen nur die Decke. Gleichzeitig wurde er selbst von einem halben Dutzend Geschossen getroffen. Schließlich brach er blutüberströmt zusammen.

Auch die anderen Bewacher lagen tot am Boden. Andrew Logger musste sie erwischt haben. Er selbst lag halb am Boden, da er keine eigene Deckung besaß. Die würde ich ihm geben.

Ich sprang zur rechten Seite aus unserem Schutz hervor und drückte sofort ab. Die Kugelgarbe aus der MAC-10 wurde zu einem Volltreffer. Die drei Mitglieder der Guardia Azul an der Bar wurden voll getroffen. Gleich mehrere Kugeleinschläge schüttelten sie durch und ließen sie zusammenbrechen. Auch einer von Hierros Leuten wurde von den Geschossen erwischt.

Ein plötzliches Klacken ließ mich fast zu Eis erstarren. Keine Munition mehr! Aber bevor ich zur lebenden Zielscheibe wurde, erschien Andrew Logger neben mir und warf den zweiten Marmortisch um. Sofort rollte ich mich zu ihm.

Nur Sekundenbruchteile später schlugen an der Stelle, an der ich eben noch gehockt hatte, mehr als ein Dutzend Kugeln ein.

Ich nutzte die Deckung sofort und wechselte das Magazin. Danach stellte ich wieder auf Einzelschuss um.

»Jimmy!«, schrie mir Andrew Logger ins Ohr.

»Was denn?«

»Dave hat mir einiges von deinen Verrücktheiten erzählt. Anfangs dachte ich, es wäre ein großer Fehler, dich mitzunehmen, aber jetzt …«

»Sprich dich ruhig aus. Wir haben doch alle Zeit der Welt.«

»Jetzt bin ich mehr als froh, dass du mitgekommen bist. Ohne dich …«

»Vergiss es«, fiel ich ihm ins Wort. »Bedank dich, wenn wir es stehend und nicht mit den Füßen voran hier raus geschafft haben.«

Er nickte mir zu, danach kümmerten wir uns wieder um unsere Gegner.

Mit einem kurzen Blick an unserer Deckung vorbei erkannte ich, dass einige Gangster hinter dem Bartresen Schutz gesucht hatten.

Auch der Cocktail-Mixer beteiligte sich nun an der Schießerei. Statt uns mit Bloody Marys zu bewerfen oder uns einen Zombie auf den Hals zu hetzen, hob er eine Schrotflinte an.

Sofort ging ich wieder in Deckung. Im nächsten Moment erklang über uns ein wahrer Donnerknall. Die linke obere Ecke des Tisches wurde förmlich weggerissen.

Ohne mich weiter darum zu kümmern, tauchte ich wieder aus der Deckung auf und schoss zurück. Zwei meiner Kugeln trafen den mörderischen Mixer in die Brust und schleuderten ihn zurück.

Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz an meinem linken Ohr. Eine Kugel musste nur haarscharf an meinem Kopf vorbeigesegelt sein. Ein kurzer Blick nach links reichte mir, um zu sehen, dass Finnegan der Schütze war.

Während er erneut abdrückte, duckte ich mich instinktiv und schoss zurück.

Die Kugel traf ihn an der rechten Schulter. Von Borghs Assistent schrie auf, wurde zurückgestoßen und fiel durch die Glastür hinter sich, die unter dem Druck seines Körpers zusammenbrach.

Um ihn konnte ich mich nicht weiter kümmern, denn die restlichen Gangster schossen zurück. Sofort ging ich wieder in Deckung.

»Die haben sich hinter dem Tresen verschanzt!«, schrie mir Gutierrez zu.

»Ist mir noch gar nicht aufgefallen«, rief ich zurück.

Der Agent grinste, wenn auch ziemlich verspannt. »Wenn die glauben, dass das eine sichere Deckung wäre, haben sie sich aber geschnitten.«

Während weitere Kugeln über uns hinwegpfiffen, holte der braun gebrannte Mann eine Handgranate hervor und zog den Stift heraus. Lachend richtete er sich kurz auf und warf das explosive Ei in Richtung unserer Gegner. Die Granate landete zielgenau hinter dem Tresen.

Einer der Gangster sprang sofort auf und versuchte noch zu fliehen, aber es war bereits zu spät. Die gewaltige Explosion zerriss förmlich die gesamte Bar und mit ihr eine Handvoll Gangster. Der Fliehende wurde durch die Druckwelle durch den Saal geschleudert und landete schließlich reglos auf der Marmortreppe.

Ich lugte vorsichtig aus der Deckung hervor. Sofort stellte ich fest, dass wir keine Gegner mehr hatten. Viele waren eindeutig tot, aber einigen musste die Flucht gelungen sein.

Ich gab meinen Begleitern ein Zeichen. Gemeinsam erhoben wir uns, die Waffen im Anschlag. Doch es gab kein Ziel, auf dass wir schießen konnten.

Nun übernahm Andrew Logger wieder die Führung. Er gab Gutierrez einen Wink, damit er sich einen Überblick über die linke Seite des Saals machte, während mein Freund und ich die rechte Seite übernahmen.

Wir gingen die Treppe herunter und wieder hoch.

Von der Bar war außer einigen Trümmern nicht mehr allzu viel übrig. Das alkoholische Blut welcher edlen Tropfen mochte wohl hier vergossen worden sein? Neben den dahingeschiedenen Spirituosen gab es noch zahlreiche menschliche Leichen. Mit den Gangstern, die sich hinter der Bar versteckt hatten, mochten es gut ein Dutzend sein. Allerdings befanden sich darunter weder Victor von Borgh noch Alfonso Hierro oder Alicia Silver. Es sei denn, sie hätten sich hinter der Bar versteckt gehalten, aber daran glaubte ich irgendwie nicht.

Auch Ramon Gutierrez trat wieder zu uns. »Nichts zu sehen von den restlichen Gangstern.«

Mir brannte eine Frage auf der Zunge. »Haben Sie den Kerl gesehen, der in der zerbrochenen Glastür lag?«

»Er ist weg. Da war nur ein großer Blutfleck.«

Ich stieß ein paar Verwünschungen aus. Also war auch Finnegan entkommen. Oder doch nicht? Noch hatten wir vielleicht eine Chance, ihn und seine Komplizen zu erwischen.

»Verdammt, das hätte ich nicht gedacht«, murmelte Andrew Logger vor sich hin.

»Was denn?«, fragte ich.

Er warf mir einen leicht geschockten Blick zu. »Alicia Silver. Wir … wir waren seit einem Monat ein Paar. Ich hab ihr alles erzählt, einfach alles. Mein Gott, ich hätte sehen müssen, was für eine falsche Schlange sie war.«

Ich legte ihm meine linke Hand, in der sich immer noch die Desert Eagle befand, auf die Schulter. »Und wenn schon. Wir sind vom Sternzeichen doch Mungos, also lass sie uns noch schnappen.«

»Mungo?«, fragte er entgeistert.

»Ähm, vergiss es. Holen wir uns Hierro und seine Bande!«

»Das klingt schon besser.«

Wir nickten uns zu und bewegten uns langsam auf eine aus Glas bestehende Doppeltür zu, die offensichtlich zum Hof der Villa führte.

Plötzlich erklangen wieder Schüsse. Die Glastür vor uns wurde durch eine Kugelgarbe förmlich zerrissen. Sofort duckten wir uns, aber einige Glassplitter trafen uns trotzdem und hinterließen ein paar kleine Risswunden.

Ein erster Blick nach vorne gewährte mir die Sicht auf den Schützen. Es war Victor von Borgh! Er versteckte sich halb hinter einer Säule, seine A-91 im Anschlag.

Als ich ihn sah, hob ich meine Desert Eagle an und schoss zurück. So eine Chance bekam ich vielleicht kein zweites Mal.

Einige der Kugeln hieben in die Marmorsäule, eine aber traf den Waffenarm. Der Anführer der Guardia Azul schrie schmerzerfüllt auf, ließ die A-91 fallen und ging wieder in Deckung.

»Das war es, Victor! Gib auf!«

»Niemals!«, schrie er zurück und trat aus dem Schutz der Säule hervor. Erst jetzt erkannte ich, dass sich auf dem Hof eine ganze Allee von Säulen befand, die eine Dachkonstruktion hielten, die sich fast bis zum Tor der Villa wand. An Geld schien es Hierro wahrlich nicht zu mangeln. Es hätte mich auch nicht überrascht, wenn sich unter uns eine Marmorgrotte mit Schwimmmöglichkeiten befunden hätte. Aber dieses Vergnügen konnte ich im Moment leider nicht auskosten.

Ich legte auf von Borgh an. Er war unbewaffnet, aber das war mir im Moment egal. Es zählte nur, dass ich endlich den Mord an meinen Eltern rächen konnte.

»Jetzt hast du mich, wer immer du auch bist«, brüllte er mir entgegen. »Willst du mir nicht wenigstens noch deinen Namen sagen, bevor du mich in die ewigen Jagdgründe schickst?«

Ich wollte ihm gerade antworten, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung auf dem Hof erspähte. Es war Finnegan – und er drückte sofort ab.

Ich ließ mich einfach fallen, sodass seine Kugeln über mich hinwegsausten.

Auch Victor von Borgh zog wieder eine Pistole hervor und schoss.

Plötzlich erklang Gegenfeuer. Gleich mehrere Kugeln schlugen neben von Borgh in die Säule ein. Sofort sprang er wieder hinter seine Deckung.

Neben mir erschienen Ramon Gutierrez und Andrew Logger. Sie hatten mir mit ihren Kugeln vielleicht das Leben gerettet.

Gemeinsam wagten wir uns auf den Hof. Als wir hinter der ersten Säule in Deckung gehen wollten, schrie Logger plötzlich: »Achtung!«

Gutierrez und ich duckten uns, während nur Zentimeter neben uns eine Kugelgarbe in den Boden schlug.

Andrew Logger schoss zurück. Der Gangster, der auf dem Dach rechts von uns gelauert hatte, bekam gleich mehrere Geschosse ab. Seine blaue Guardia-Azul-Uniform färbte sich rot. Schreiend stürzte er vom Dach hinab. Doch sofort tauchte hinter ihm der nächste Gegner – oder in diesem Fall eine Gegnerin – auf und feuerte auf uns.

Diesmal schossen wir alle zugleich. Wo die Frau getroffen wurde, sahen wir nicht, aber sofort nach den Einschlägen brach sie zusammen.

Über uns spritzte erneut Marmor. Wieder wurde auf uns geschossen. Diesmal waren es Victor von Borgh und sein Partner Finnegan.

Wir schossen zurück, trafen aber nicht. Der Vorsprung der beiden, deren Ziel eindeutig das Tor der Villa war, wurde immer größer. Zugleich nahmen wir die Verfolgung auf.

Es war wie vor wenigen Minuten im Wald. Statt von Baum zu Baum arbeiteten wir uns diesmal von Säule zu Säule vorwärts.

Irgendwo hinter uns erklang plötzlich ein lautes Summen, das schließlich in ein Rattern überging. Im nächsten Moment erschien am Himmel links von uns ein Hubschrauber.

»Ich …« Was auch immer mir Gutierrez sagen wollte, er nahm es mit ins Grab. Eine ganze Kugelgarbe traf ihn und zerriss ihm förmlich den Kopf. Blut und Gehirnmasse spritzten hervor und trafen mich zum Teil im Gesicht.

Sofort ließ ich mich fallen, doch das war mehr ein Reflex. Zu stark hatte mich der Tod des Agenten mitgenommen.

Für einen Augenblick gelang mir ein Blick auf die Besatzung des Hubschraubers. Ich sah eine Frau mit wehenden braunen Haaren, die ein in den Hubschrauber eingebautes Maschinengewehr auf uns gerichtet hatte. Neben ihr stand ein Mann in einem weißen Anzug und schoss mit seiner eigenen Pistole auf uns. Das mussten Alicia Silver und Alfonso Hierro sein.

Es war wie ein Film, der vor meinen Augen ablief und an dem ich nicht beteiligt zu sein schien. Alles war plötzlich so weit weg. Die Welt schien so entrückt. Für einige Sekunden dachte ich, all das wäre nur ein böser Traum, der mich ereilt hatte, als ich neben Vanessa auf der Couch eingenickt war.

Jemand schrie meinen Namen. Schüsse erklangen, Marmorbrocken spritzten umher, aber auch der Hubschrauber wurde getroffen.

Wieder hörte ich jemanden meinen Namen schreien. »Jimmy! Komm zu dir!«

Jemand packte mich an der Schulter und im nächsten Moment hatte mich die Realität wieder. »Was denn, verdammt?«, schrie ich Andrew Logger an.

Sofort erschien ein Grinsen auf dem Gesicht meines Freundes. »Nichts. Alles ist gut.«

»Schön wär‘s.«

Jetzt erinnerte ich mich wieder daran, dass ich auf dem Boden lag. Meine Hände hielten wie im Krampf immer noch die beiden Waffen fest.

Plötzlich fiel mein Blick auf eine weitere Waffe, die wie weggeworfen am Boden lag. Es war Victor von Borghs KBP A-91. Ein Sturmgewehr mit eingebautem Granatwerfer. Eingebautem Granatwerfer …

Natürlich, das war die Rettung. Während erneut vom Hubschrauber aus auf uns gefeuert wurde, ließ ich die MAC-10 fallen, steckte die Desert Eagle wieder in das Holster und robbte auf die A-91 zu.

Die Besatzung des Hubschraubers schien meinen Plan nicht bemerkt zu haben und konzentrierte ihr Feuer weiter auf Andrew Logger. Das gab mir die Chance, unbemerkt mein Ziel zu erreichen.

Ich griff nach der Waffe und stand vorsichtig wieder auf.

Der Hubschrauber schlug gerade einen Bogen und kam von rechts wieder auf uns zugeflogen. Der Pilot drehte sein Fluggerät, sodass er uns dessen breite Seite zeigte. Nun war die Schussbahn für Alfonso Hierro und Alicia Silver frei.

Doch nicht nur für sie, auch für mich. Die Welt um mich herum schien für einen Moment erstarrt, als ich die A-91 anhob und mein Finger auf den Granaten-Abzug glitt.

Vor mir erschienen die Gesichter von Hierro und Silver wie in Zeitlupe. Ich sah sie triumphal lachen, bevor ich mein Ziel anvisierte und feuerte.

Das Geschoss war zwar lange unterwegs, aber der auf der Stelle schwebende Hubschrauber bot dennoch ein perfektes Ziel. Bildete ich es mir nur ein oder wich der Triumph in den Gesichtern meiner Gegner blankem Entsetzen? Oder hatte ich ihre Gesichter überhaupt nur in meiner Fantasie gesehen?

Einen Augenblick später traf die Granate. Ein gewaltiger Feuerball erschien am Himmel, gefolgt von einer starken Druckwelle, die mich fast von den Beinen riss.

Währenddessen stürzte der Hubschrauber dem Boden entgegen, wie eine Marionette, der man die Fäden gekappt hatte. Mit einem gewaltigen Krachen schlug er auf dem Dach der Villa auf und setzte auch das Gebäude in Brand.

Neben mir erschien Andrew Logger mit einem Lächeln im Gesicht. »Jetzt holen wir uns endlich Borgh und Finnegan.«

»Ja!«, antwortete ich lediglich, während ich wieder meine Desert Eagle zog.

Am Tor entstand Bewegung. Dort versuchte jemand zu fliehen.

Sofort sprinteten wir los, unsere Waffen weiterhin im Anschlag.

Etwa eine halbe Minute später hatten auch wir das halb offen stehende zweiflüglige Tor erreicht. Vorsichtig spähten wir hinaus.

Außer der Straße, Wald und einem herumstreunenden Hund, der an einem Busch gerade sein Geschäft verrichtete, war nichts zu sehen.

Vorsichtig traten Andrew Logger und ich hinaus – und gerieten sofort unter Feuer. Links von uns lauerte etwa zehn Meter entfernt ein Mann im Hawaiihemd hinter einem Baum.

Die Kugeln, die auch von einer anderen Stelle abgefeuert wurden, verfehlten uns nur haarscharf.

Mein Partner schoss zurück. Der Baum, hinter dem Finnegan gelauert hatte, wurde regelrecht zerrissen.

Auch rechts von uns lauerte jemand im Wald. Bei einer schnellen Bewegung sah ich langes schwarzes Haar im Wind flattern. Das musste er sein – Victor von Borgh!

»Das war es endgültig, Victor! Jetzt bist du dran!«, schrie ich ihm zu.

»Komm und hol mich«, antwortete er, während ich seine Silhouette durch den Wald huschen sah.

Wieder trat Andrew Logger neben mich. »Ich übernehme Finnegan und du holst dir Victor von Borgh.«

Ich nickte ihm zu. »Wir sehen uns.«

Ohne seine Antwort abzuwarten tauchte ich in den Wald ein und machte mich auf die Jagd nach dem Mörder meiner Eltern …

***

»Wie wäre es jetzt mit einer Ente?«

Tanja Berner sah mich verdutzt an. »Wie … bitte?«

Ich hob die Schultern. »Naja, es gibt noch einen Hauptgang, dieser Tatsache kannst du nicht entrinnen.«

Die Schweizerin wischte sich über die Augen, als hätte ich sie gerade aus einem tiefen Schlaf geweckt. »Du … du kannst doch nicht einfach an der spannendsten Stelle aufhören. Ich, ich – ich war gerade so gefesselt von deiner Erzählung. Und dann kommst du plötzlich mit einer Ente.«

»Keine Sorge, es wird noch besser. Aber erst mal kommt jetzt Werbung – in eigener Sache, beziehungsweise in Sachen meiner Kochkünste.«

Ich stand auf, griff nach dem Topf mit der Garnelen-Weißwein-Suppe und brachte ihn zurück in die Küche. Dort stellte ich zunächst einmal den Ofen aus und zog die bereits erwähnte Ente hervor. Obwohl ich mich mitten England befand, hatte ich darauf verzichtet, sie auch englisch zu braten.

Aus einem Holzblock zog ich ein Messer hervor und begann, den Vogel zu tranchieren. Das Fleisch war so zart, dass es sich nicht im Geringsten gegen meine Schnitte wehrte. Wenn doch, hätte ich vielleicht die Dämonenjäger-Abteilung alarmieren müssen.

Auch die Polenta hatte sich ohne große Widerstände zubereiten lassen, sodass ich mich diesmal nicht gezwungen sah, die Küche auseinanderzunehmen.

Nachdem ich unsere beiden Teller reich belegt hatte, goss ich noch etwas Rotweinsoße neben Polenta und Ente.

Mit den Tellern in den Händen begab ich mich zurück ins Esszimmer, wo Tanja Berner schon gespannt wartete. Sowohl auf das Essen als auch auf die Fortsetzung der Geschichte, nahm ich zumindest an.

»Also, wohl bekomm‘s – zum Zweiten.«

»Ja, dir auch«, antwortete die Schweizerin.

Schon nach dem ersten Bissen konnte ich mir gedanklich auf die Schulter klopfen. Besser ging es nicht. Vielleicht sollte ich Gordon Ramsay ein Dankesschreiben zukommen lassen.

Auch Tanja Berner war von dem Essen begeistert. »Das schmeckt wirklich … fantastisch.«

»Du klingst überrascht.«

»Naja …«, antwortete sie etwas verlegen. »Irgendwie hatte ich bisher nicht den Eindruck, dass du so gut kochen könntest. Aber jetzt … erst die Suppe, dann das Entenbrustfilet. Und diese Polenta – hmmmm …«

»Und es kommt noch ein Dessert.«

»Da bin ich sicher.« Dabei warf sie mir einen vielsagenden Blick zu.

Ich lächelte zurück, wobei ich nicht hundertprozentig sicher war, dass wir an dieselbe Form von Dessert dachten.

Nach einigen Minuten hatten wir beide unsere Teller förmlich leergekratzt.

»Noch Nachschlag gefällig?«, fragte ich.

»Ja … aber vor allem einen Nachschlag bei deiner Erzählung. Wie ging es weiter, nachdem du in den Wald gelaufen bist?«

Ich trank noch einen Schluck Wasser und wischte mir danach den Mund ab. »Also gut, du sollst auch den Rest erfahren …«

***

Als ich den Wald betrat, fühlte es sich an, als wäre ich gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Die schwüle Luft hatte sich zwischen den Bäumen förmlich angestaut. Hinzu kamen meine eigene Anstrengung und die kugelsichere Weste, die ich noch immer an meinem Oberkörper trug. Wenn ich nicht genau gewusst hätte, dass mir noch die eine oder andere Kugel um die Ohren fliegen würde, hätte ich sie am liebsten ausgezogen und weggeworfen.

So aber lief ich in voller Montur zwischen den hohen Bäumen und dichten Büschen hindurch.

Victor von Borgh selbst war zwar nicht mehr zu sehen, aber dafür konnte ich seinen Fluchtweg durch die Bewegungen der Pflanzen erahnen. Wenn er weiter in diese Richtung lief, würde er bald den Fluss erreichen. Wollte er vielleicht eine Wildwasserfahrt durch die Niagarafälle unternehmen?

Plötzlich war vor mir keine Bewegung der Pflanzen mehr zu erkennen. Ich stoppte meinen Lauf und ging hinter einem der Bäume in Deckung.

Genau zum richtigen Zeitpunkt, denn im nächsten Moment fielen zwei Schüsse. Einer ging in die Büsche, der Zweite schlug in den Stamm des Baumes ein.

Ohne ein Ziel zu sehen schoss ich zurück. Kein Schmerzensschrei erklang, weder von den Pflanzen noch von meinem Gegner. Dafür kam vor mir wieder Bewegung in die Büsche.

Sofort setzte ich die Verfolgung fort. Während des Laufens wechselte ich das Magazin meiner Desert Eagle.

Für einen Moment dachte ich daran, dass das TCA-Labor in Timbuktu gerade an irgendwelchen Spezialkugeln arbeitete. Die wären in diesem Fall vielleicht auch nicht schlecht gewesen, aber da sie noch in der Experimentierphase waren, blieben mir nur meine normalen Kugeln.

Vor mir lichtete sich langsam der Wald. Hinter einem der letzten Bäume ging ich wieder in Deckung.

Mit einem Seitenblick erspähte ich, dass es von hier bis zum Ufer nur noch etwas zwanzig Meter waren. An einer kleinen Anlegestelle hatte die Guardia Azul offensichtlich ihre Mitfahrgelegenheit vertäut – ein zweigeschossiges, recht großes Motorboot. Victor von Borgh war gerade dabei, das Tau zu lösen.

Als ich den Wald verließ, sprang mein Gegner gerade auf seinen fahrbaren Untersatz.

Auf diese Weise wollte ich ihn nicht davonkommen lassen. So nahe wie jetzt würde ich dem Mörder meiner Eltern vielleicht nie wieder kommen.

Ich wollte ihm gerade auf das Boot folgen, als er erneut das Feuer eröffnete. Ich warf mich zu Boden und schoss sofort zurück. Meine Kugeln durchschlugen jedoch lediglich ein Fenster auf dem Boot.

Von Borgh selbst ging in Deckung. Wo er sich versteckt hielt, konnte ich nicht sehen, aber mir blieb jetzt nur noch die Flucht nach vorne, sonst war das Boot zu weit vom Ufer entfernt.

Mit großen Schritten sprintete ich los, das Boot immer im Auge behaltend. Sein Kapitän zeigte sich jedoch nicht, und schließlich gelang es mir mit einem gewaltigen Sprung, das Deck doch noch zu erreichen.

Plötzlich erklang ein Rattern. Der Motor war angeworfen worden.

Ich schlich nach links. Dort irgendwo vermutete ich die Tür zum Maschinen- und Steuerraum.

Als ich den Backbord-Bereich des Bootes erreicht hatte, lugte ich vorsichtig nach rechts. Außer einer ziemlich toten Ratte war nichts zu sehen. Aber irgendwie traute ich dem Braten nicht. Trotzdem schlich ich vorsichtig weiter.

Endlich hatte ich die Tür zum Innenraum erreicht. Passenderweise besaß ausgerechnet diese Tür kein Fenster. Dafür war sie aber nicht verschlossen, sondern nur angelehnt. Ich gab ihr mit meiner rechten Hand einen kleinen Schubser.

Vorsichtig warf ich einen Blick in den Innenraum, doch es war niemand zu sehen. Ich ging einen Schritt hinein, um zu sehen, ob sich mein Gegner hier irgendwo versteckt hielt.

Genau das war mein Fehler. Plötzlich erschien eine Gestalt in einem der Fenster auf der linken Seite. Eine Gestalt mit einer Pistole in der Hand.

Von Borgh drückte sofort ab. Die Scheibe flog auseinander. Instinktiv warf ich mich rückwärts, sodass mich keine der Kugeln treffen konnte. Stattdessen hieben die Geschosse in den Rahmen der Tür. Gleichzeitig schoss ich zurück, doch im Fallen hatte ich nicht groß zielen können. Meine Kugeln trafen lediglich die Innenverkleidung.

Plötzlich begann der Motor zu stottern, um schließlich ganz abzusterben. Offenbar hatten meine Kugeln ein lebenswichtiges Organ des Bootes getroffen. Was bedeutete, dass es nun langsam aber sicher von der Strömung mitgerissen wurde.

Es wurde also immer schöner. Wenn ich nicht bald Victor von Borgh erwischen, den Motor wieder in Gang bringen oder auf eine andere Weise von dem Boot verschwinden würde, würde ich mitsamt meinem Erzfeind den mächtigsten Wasserfall der Welt herunterstürzen.

Zumindest im Duell mit meinem menschlichen Gegner lagen die Vorteile auf meiner Seite, denn immerhin wusste ich nun, wo er sich ungefähr befand.

Langsam richtete ich mich wieder auf und schlich zur anderen Seite des Bootes. Dort machte das Deck einen Knick nach rechts. Ohne um die Ecke zu schauen, hielt ich meine Desert Eagle in die Richtung, in der ich Victor von Borgh vermutete, und drückte mehrmals ab.

Die Schussgeräusche übertönten kaum das Rauschen des riesigen Wasserfalls, der sich nur etwa einen Kilometer von uns entfernt befand. Den Schrei, der plötzlich erklang, hörte ich trotzdem, wie auch die sich hastig entfernenden Schritte.

Mit einem Auge spähte ich um die Ecke. Von Victor von Borgh war nichts zu sehen, dafür lag eine Pistole auf dem Deck.

Die Waffe noch immer im Anschlag näherte ich mich der herumliegenden Waffe. Neben ihr fand ich ein paar Blutstropfen. Also hatte ich ihn nun schon zum zweiten Mal getroffen. Trotzdem gab der Kerl noch immer nicht auf.

Ich kickte die Waffe einfach weg. Mit einem leisen Platschen fiel sie ins Wasser.

Von Borgh war jetzt – mutmaßlich – waffenlos, aber wo zum Henker steckte er?

Im selben Moment, in dem ich mir die Frage stellte, wurde die Luft plötzlich von einem Rattern erfüllt. Sollte sich Hierros Hubschrauber etwa regeneriert haben?

Ich warf einen Blick zum Himmel und tatsächlich tauchte erneut ein Hubschrauber auf, diesmal aber ein deutlich kleinerer. Aus einer Öffnung wurde eine Leiter heruntergelassen.

Wahrscheinlich war das der eigentliche Fluchtweg für Victor von Borgh. Aber diese Suppe würde ich ihm noch versalzen – oder sie selbst auslöffeln …

Da ich vermeiden wollte, durch eines der Fenster gesehen zu werden, schlich ich geduckt weiter vorwärts. Die Pistole dabei hochzuhalten erwies sich als echte Herausforderung.

Endlich hatte ich die Ecke erreicht. Vorsichtig richtete ich mich auf. Wieder warf ich einen Blick um sie herum, doch erneut war nichts zu sehen. Wie oft sollten wir hier noch im Kreis laufen?

Plötzlich tauchte über mir ein großer Schatten auf. Erst dachte ich an einen Vogel, aber dann traf mich etwas Schweres an den Schultern. Das schiere Gewicht schleuderte mich zu Boden.

Sofort drehte ich mich auf den Rücken – und damit genau in den Tritt meines Gegners hinein. Der Stiefel traf meine linke Hand. Der folgende Schmerz schoss mir durch den gesamten Arm, während die Desert Eagle im hohen Bogen davonflog.

Mein Gegner musste auf dem Dach des Aufbaus gelauert haben. Nun stand er vor mir, mit einer Machete in der linken Hand und einem triumphalen Grinsen im Gesicht.

»Jetzt bist du dran!«, brüllte er mir entgegen. Im nächsten Moment holte er mit seiner Waffe aus und stürzte sich auf mich.

Gedankenschnell zog ich beide Beine an und trat sie ihm entgegen. Von Borgh wurde voll am Bauch getroffen. Schreiend flog er wieder zurück.

Sofort richtete ich mich wieder auf, aber auch mein Gegner sprang sofort wieder auf die Beine. Bevor er mit der Machete zuschlagen konnte, griff ich nach seinem Waffenarm und versuchte, ihm die Klinge zu entreißen.

Victor von Borgh konnte darüber nur lachen. Während ich versuchte, die Machete aus seiner Faust hervorzuziehen, schlug er mit seiner freien Hand zu.

Der Faustschlag traf mich voll am Kinn und ließ mich zurücktaumeln. Ich versuchte mich an der Reling festzuhalten, doch mein Gegner setzte sofort nach. Ein Schlag traf mich an der Brust, der nächste am Kopf.

Wieder taumelte ich zurück und fiel schließlich zu Boden. Für einige Augenblicke sah ich nichts als Sonne, Mond und Sterne.

Meine Hände irrten umher, auf der Suche nach einer Stütze – und fanden etwas, das wie achtlos weggeworfen am Boden lag: Meine Desert Eagle.

Sofort ergriff ich meine Waffe und riss sie hoch. Von Borgh, der seine Machete gerade zum entscheidenden Schlag erhoben hatte, erstarrte.

»Erwischt!«, sagte ich nur, während ich mühevoll versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Dabei behielt ich meinen Gegner genau im Auge, der sich einige Schritte zurück bewegte. Wahrscheinlich wollte er mit einem Sprint um die Ecke entkommen.

»Stopp!«, schrie ich ihm entgegen. Von Borgh blieb tatsächlich stehen. Obwohl er direkt in den Waffenlauf starrte, grinste er noch immer.

»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet, Kleiner. Wie ist dein Name?«, fragte er.

»Jimmy Spider!«

Sein Grinsen verschwand, offenbar dachte er nach. Kurze Zeit später kehrte es wieder zurück, nur nicht mehr so selbstsicher wie zuvor.

Über uns hinweg kreiste noch immer der Hubschrauber. Immer wieder näherte sich die Leiter dem Boot, um dann wieder weggeschwenkt zu werden. Offenbar war sich der Pilot nicht sicher, wer von uns sein Passagier werden sollte. Gleichzeitig trieb das Boot immer weiter den Niagarafällen entgegen. Wenn mir nicht bald etwas einfiel, war das mein Ende. Aber immerhin hätte ich zuvor noch den Mörder meiner Eltern in die ewigen Jagdgründe geschickt.

»Jimmy Spider also …«, riss mich Victor von Borgh aus meinen Gedanken. »Ich hatte mir schon gedacht, dass du dich für irgendetwas rächen willst. Zu dumm, dass ich dich damals nicht zu Gesicht bekommen habe, dann hätte ich uns beiden einige Probleme erspart.«

Ich stand kurz davor, einfach abzudrücken, aber etwas lag mir noch auf dem Herzen. »Du hast mich nicht gesehen, aber ich dafür dich. Und dieses Gesicht habe ich bis heute nicht vergessen.«

Sein hämisches Grinsen wurde wieder etwas breiter. Entspannt nahm er den Griff der Machete von einer Hand in die andere. Die Schmerzen und der Blutverlust durch seine Schusswunden schienen ihm nichts auszumachen. »Na komm, schieß doch, oder traust du dich nicht?«

»Mach dir darüber keine Gedanken. Ich will nur eines wissen – warum?«

»Warum was?«

»Warum hast du meine Eltern umgebracht?«

Mein Gegenüber lachte auf. »Das ist ein Betriebsgeheimnis und dieses Betriebsgeheimnis nehme ich notfalls auch mit ins Grab. Nur so viel: Es war eine Familienangelegenheit.«

Während seines letzten Wortes riss mein Gegner plötzlich die Machete hoch und schleuderte sie mir einfach entgegen.

In dem Moment, in dem die Waffe seine Hand verließ, schoss ich. Meine Kugel hieb ihm mitten in die Stirn. Mit weit aufgerissenen Augen wankte Victor von Borgh zurück.

Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner linken Schulter. Die Machete – sie hatte meinen Kopf knapp verfehlt und stattdessen meine Schulter gestreift. Wo sie danach landete, wusste ich nicht. Es war mir letztendlich auch egal.

Vor mir hielt sich Victor von Borgh noch immer auf den Beinen. Aber nur noch für eine Sekunde, dann kippte er einfach nach hinten um. Ich hatte es geschafft!

Das Triumphgefühl, das in mir hochstieg, wurde im nächsten Moment von einem gewaltigen Rauschen zurückgedrängt. Der Wasserfall – das Boot war kurz davor, hinunterzustürzen.

Wie der berühmte Rettungsanker erschien plötzlich wieder der Hubschrauber mit der heruntergelassenen Leiter. Erneut näherte er sich dem Boot.

Augenblicklich steckte ich meine Waffe weg, stieg auf die Reling – und griff zu.

Die Leiter riss mich mit sich. Nur zwei Sekunden später hatte das Boot den Wasserfall erreicht. Lautlos kippte es dem Abgrund entgegen und mit ihm der Mörder meiner Eltern, Victor von Borgh.

Im Moment aber hatte ich andere Probleme. Ich versuchte, meine Schmerzen zu ignorieren und klettere die Leiter hoch. Die Kerle in dem Hubschrauber würden vielleicht Augen machen, wenn ich oben angekommen war …

***

»… und das haben sie dann auch«, beendete ich meinen Bericht der damaligen Ereignisse. »Statt ihren Boss in die Arme zu schließen, schauten sie direkt in den Lauf meiner Desert Eagle. Und so flogen wir gemeinsam dem Sonnenuntergang entgegen.«

Tanja Berner war wohl so in meiner Geschichte gefangen, dass sie erst einmal gar nichts sagte. Nach einer Weile schien sie dann aber doch aus ihrem tranceartigen Zustand zu erwachen. »Wow … einfach nur wow.«

»Du meinst wahrscheinlich nicht das Essen.«

Sie schüttelte etwas verwirrt den Kopf. »Nein, … halt, ich meine – auch, aber vor allem – das ist alles wirklich so passiert?«

»Ganz genau so.«

»Und …« Sie war wohl noch immer etwas gefesselt von meinem Bericht. »… was wurde aus Andrew Logger und Finnegan?«

Ich hob die Schultern. »Andrew hat alles gut überstanden. Naja, zumindest körperlich. Nachdem wir nach England zurückgekehrt waren, hat er beim MI6 gekündigt. Als ich ihn vor zwei Jahren das letzte Mal getroffen habe, arbeitete er als Privatdetektiv in Edinburgh – als gut bezahlter Privatdetektiv, wohlgemerkt. Finnegan dagegen … er ist ihm leider entwischt. Entwischt oder tot. Vielleicht ist er damals an seinen Wunden verblutet und rottet immer noch in diesem Wald vor sich hin. Jedenfalls ist er seitdem nie mehr aufgetaucht, ebenso wie die Guardia Azul. Das Hierro-Kartell hat sich danach auch buchstäblich in Rauch aufgelöst.«

»Und – hast du irgendeine Idee, was Victor von Borgh mit Familienangelegenheit meinte?«

Ich trank noch einen Schluck Wein, bevor ich antwortete. »Bis vor Kurzem habe ich noch immer darüber gerätselt – obwohl ich zugeben muss, dass ich schon lange nicht mehr daran gedacht habe. Aber als mir Alexis von Borgh die Zusammenhänge zwischen der Familie McShady und ihm selbst erklärt hatte, wurde mir klar, dass nur diese Familienangelegenheit gemeint gewesen sein konnte.«

»Und welche Zusammenhänge wären das?«

In den nächsten Minuten berichtete ich ihr ausführlich von dem, was mir Alexis von Borgh und Geoffrey McShady erzählt hatten.

»Das wird ja immer undurchsichtiger«, kommentierte sie das soeben Erfahrene.

»Du hast gefragt – ich habe geantwortet. Und jetzt … werde ich mich mal um das Dessert kümmern.«

Ich war schon aufgestanden, da rief die Schweizerin plötzlich »Stopp!«

Nun stand auch sie auf und kam langsam auf mich zu. Dabei erschien auf ihrem Gesicht wieder ihr verschmitztes Lächeln. »Ich denke, wir sollten uns gemeinsam um das Dessert kümmern.«

Also hatte ich sie vorhin doch nicht falsch verstanden.

Auch ich musste lächeln, als die Schweizerin immer näher kam. Ihre Lippen trafen auf meine, und für einen Moment schlossen wir beide die Augen.

Als wir sie wieder öffneten, befand sich Tanja Berners Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ihre Hände glitten über meinen Oberkörper, während sich meine Hände auf ihre Schultern legten.

Der nun folgende Kuss war um einiges inniger als der erste – aber kein Vergleich zu dem, was noch in dieser Nacht folgte. Da verzichtete ich doch gerne auf eine eisgekühlte Schokoladenmousse …

Copyright © 2012 by Raphael Marques