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Der Welt-Detektiv Band 6

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Friedhof der Namenlosen

Am äußersten Rande von Wien, wo das Auwald- und Wiesengebiet an den Alberner Hafen grenzt, befindet sich der Friedhof der Namenlosen. Bis zur Umleitung des Flusslaufs trieb ein Wasserstrudel die Leichen Ertrunkener an Land, viele wurden nie identifiziert und namenlos verscharrt: Selbstmörder, Unfallopfer und Ermordete. Das alte Gräberfeld, 1840 angelegt, wurde mehrmals überschwemmt und ist heute von Bäumen bewachsen. Eine Gedenktafel erinnert an die 478 Begrabenen. 1900 legte man den heutigen Friedhof an, auf dem 1940 der letzte Tote seine Ruhe fand.
Schlichte, schmiedeeiserne Kreuze kennzeichnen die kleinen, mit üppigem Grün bewachsenen Erdhügel als letzte Ruhestätte dieser armen Seelen. Efeu überwuchert die wenigen Namensschilder, die hier und dort angebracht sind.
Einmal im Jahr, am ersten Sonntag nach Allerseelen, findet eine Gedenkmesse statt. Ein mit Blumenkränzen und brennenden Kerzen geschmücktes Floß wird auf die Reise entlang der Donau geschickt.
Wenn die Sonne über den Dächern Wiens versinkt, macht die Dunkelheit die Geschichten und Tragödien der hier Begrabenen lebendig, doch viele nahmen ihr Geheimnis mit ins Grab.

Herrn Fuchs und seinem Vater, die die Gräber pflegten, ist es zu verdanken, dass die Geschichte von Arnold Moser und seiner Braut Verena nicht in Vergessenheit geriet.
Arnold, Sohn wohlhabender Eltern, verlobte sich heimlich mit Verena, einer jungen, bildhübschen, jedoch armen Frau. Arnolds Eltern kamen dahinter, übten so lange Druck auf ihn aus, bis er sich schließlich schweren Herzens von seiner Braut trennte. Vreni, wie sie genannt wurde, behielt den Verlobungsring, den Ring der Liebe mit der Gravur »A. f. V. Arnold für Vreni.« Ihr Entsetzen war groß, als sie ihre Schwangerschaft bemerkte. Es war ein Kind der Liebe, das sie unterm Herzen trug, aber  ihr Stolz hinderte sie daran, Arnold davon zu erzählen. Ein uneheliches Kind war in dieser konservativen Zeit eine Schande, ein Makel, mit dem sie nicht leben konnte. An einem Novembermorgen 1931 stürzte sie sich in die Fluten und bereitete ihrer Qual ein Ende. In einem Abschiedsbrief an ihren Liebsten bat sie ihn um Verzeihung und versprach, den Verlobungsring zurückzugeben, wenn die Zeit gekommen wäre. Kurze Zeit nach ihrem Verschwinden wurde eine nicht identifizierbare Frauenleiche angeschwemmt. Sie trug einen Goldring mit der Gravur »A. f. V.«.
Für Arnold brach eine Welt zusammen, denn er liebte sie noch immer. Er ging nach Amerika, um seinen Schmerz fern der Heimat besser ertragen zu können, brachte es zu Wohlstand und kehrte nach Jahren wieder nach Wien zurück. Nicht weit vom Friedhof entfernt kaufte er sich ein Haus, um so seiner Liebsten nah zu sein. Seine große Liebe zu einer Toten hinderte ihn daran, jemals zu heiraten. In seiner Vorstellung war Vreni noch immer jung und strahlend schön. Die Jahre vergingen, Arnolds Haar wurde weiß, seine Haut faltig und seine Hände zittrig. Manchmal kehrte er ins nahegelegene Gasthaus ein, erzählte den Gästen seine Geschichte und davon, dass Vreni ihm den Ring zurückgeben wird, denn ihre Versprechen hatte sie immer gehalten.

Im Jahr 1986, Arnold war ein betagter Mann, überraschte ihn ein Gewitter bei seinem Friedhofsbesuch. Ein Fischer bot ihm Quartier für die Nacht, denn das Unwetter wurde immer heftiger und machte es ihm unmöglich, den Heimweg anzutreten. Um Mitternacht erschraken die beiden Männer, als sich das Innere des Hauses erhellte und eine Frauengestalt aus dem Lichtschein trat. Sie zog einen Ring vom Finger und streifte ihn Arnold über. Wie selbstverständlich verließ er mit der Erscheinung das Haus.

Der Fischer blickte aus dem Fenster. Das Gewitter war abgeflaut, die Nacht beleuchtet vom Mondlicht. Die junge Frau und der alte Mann spazierten am Ufer entlang, gingen ins Wasser und versanken in den Fluten. Der Fischer war der letzte, der Arnold Moser lebend gesehen hatte. Wochen später kam eine Meldung aus Ungarn, dass die Donau eine männliche Leiche angeschwemmt hatte. Der Leichnam trug einen Goldring mit den eingravierten Initialen: »A. f. V.«
Vreni hatte ihr Versprechen eingelöst.
Seltsam, doch so wird es erzählt.

Weitere Informationen zum Friedhof der Namenlosen unter www.friedhof-der-namenlosen.at.

Bilder mit freundlicher Genehmigung von Josef Fuchs

Quellen:

  • Ch. Bieberger, A. Gruber, G. Hasmann: Spuk in Wien: Von verborgenen Geistern und Spuren ins Jenseits, Ueberreuter Verlag, 2004
  •  www.friedhof-der-namenlosen.at

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