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Die Abenteuer des Harry Dickson – Band 2 – Kapitel 1

Die Abenteuer des Harry Dickson
Band 2
Das verrufene Hotel in Kairo
Kapitel 1

An diesem Nachmittag war es in Kairo unerträglich stickig.

Im Salon von Mister Mark Felt, dem englischen Konsul, hatten sich einige Herren versammelt und genossen lässig in Sesseln sitzend eine köstliche Havanna.

Harry Dickson berichtete ausführlich von der wunderbaren Überfahrt über das Mittelmeer, die er gerade zusammen mit seinem Schüler Tom Wills unternommen hatte.

Von Messina bis Alexandria hatten sie herrliches Wetter und unterwegs charmante Reisende getroffen. Der sichtlich besorgte Gastgeber erkundigte sich bei Tom Wills, ob ihm die Zugfahrt von Alexandria nach Kairo gefallen habe.

Tom war voll des Lobes für das alte Land der Pharaonen. Er schwärmte von den wunderschönen Landschaften, den reizvollen Palmenhainen und den grünen Obstgärten, die sich vor ihren Augen ausbreiteten. Und dann war da noch der majestätische Nil mit seinen malerischen Ufern! Und die Einwohner in ihren bunten Gewändern, die das märchenhafte Aussehen der Landschaft noch verstärkten!

»Ich hoffe, dass Ihnen Kairo mit jedem Tag Ihres Aufenthalts hier ein bisschen besser gefällt«, schloss Felt. »In der kurzen Zeit, in der ich das Vergnügen habe, Sie als Gäste zu haben, hatten Sie noch keine Gelegenheit, diese Stadt mit ihrem ausgeprägten orientalischen Charakter kennenzulernen.

Kairo ist äußerst interessant, vor allem für einen Kriminalisten. So beherbergt das arabische Viertel, ein wahres Labyrinth aus engen und widerwärtigen Gassen, Banditen aus aller Welt. Aus diesem Grund rate ich Ihnen, bei Ihren Streifzügen durch diesen Teil der Stadt sehr vorsichtig zu sein. In letzter Zeit wurden dort mehrere Verbrechen und Raubüberfälle begangen, ohne dass die Täter gefasst werden konnten. Die Polizei lässt viel zu wünschen übrig. Vor allem Ausländer müssen auf der Hut sein. Ich werde Ihnen ein Beispiel nennen, dessen Ausgang mir besonders am Herzen liegt. Ich weiß nicht mehr, Mr. Dickson, ob ich Ihnen jemals erzählt habe, dass ich in London noch einen reichen Onkel habe: Mr. Edwin Dudleigh. Einige Tage vor Ihrer Ankunft hier las ich zu meiner großen Überraschung in der BOSPORUS EGYPTIAN, der meistgelesenen Zeitung in Kairo, den Namen dieses eingefleischten Junggesellen unter den kürzlich angekommenen Ausländern. Er weiß genau, dass ich seit vielen Jahren Konsul in Kairo bin. Dennoch hat er sich ohne mich zu benachrichtigen oder mir auch nur die Ehre eines Besuchs zu erweisen, in einem eher obskuren Hotel niedergelassen.

»Sie meinen wohl das Hotel Le Crocodile?«, fragte Harry Dickson, ohne mit der Wimper zu zucken.

Der Konsul war überrascht.

»Bei Gott, woher wissen Sie das?«, fragte er neugierig.

»Oh, das ist ganz einfach«, antwortete der Detektiv amüsiert und blies ihm dicke Wolken duftenden Rauchs entgegen.

»Unsere Seereise nach Alexandria haben wir in Begleitung von Mister Edwin Dudleigh aus London unternommen. Bisher wusste ich allerdings nicht, dass er Ihr Onkel ist. Da er an Schwindsucht leidet, hofft er, in Kairo Heilung zu finden. Was mir jedoch seltsam erscheint, ist, dass er Ihren Namen nicht einmal erwähnt hat. Er sprach nur ziemlich vage von einem Verwandten in Kairo, der ihm das Hotel Le Crocodile empfohlen hatte und den er besuchen wolle.«

»Das übersteigt mein Verständnis!«, rief der Konsul verärgert. »Wer könnte dieser Verwandte sein? Ich müsste ihn doch kennen! Meine Familie ist nicht so groß, dass ich nicht alle Mitglieder kennen würde oder zumindest wüsste, wo sie wohnen. Dass ein Felt oder ein Dudleigh in Kairo lebt, ohne dass ich davon weiß – das kann ich einfach nicht glauben! Aber um auf meine Erzählung zurückzukommen: Sobald ich erfuhr, dass mein Onkel sich hier aufhielt, fand ich keine Ruhe mehr und wollte ihn in seinem Hotel aufsuchen. Ich hatte vor, ihn sofort zu besuchen, nachdem ich seinen Namen auf der Passagierliste gefunden hatte, aber dringende Geschäfte hielten mich davon ab. Ich musste meinen Plan verschieben. Dann kamen Sie, und die Freude, Sie wiederzusehen, ließ mich vorübergehend die Nähe meines Onkels vergessen. Erst heute Morgen erinnerte ich mich wieder daran und begab mich ohne weitere Verzögerung zum Hotel Le Crocodile. Zu meiner großen Überraschung und unbeschreiblichen Bestürzung teilte mir der Besitzer, Mr. Hatton, in gereiztem Ton mit, dass Mr. Edwin Dudleigh das Hotel vor zwei Tagen verlassen habe und seine Koffer und Habseligkeiten zurückgelassen habe. Er sei bis jetzt noch nicht zurückgekehrt, obwohl er die Absicht geäußert habe, einige Stunden später zurückzukommen.

Mister Hatton erinnerte sich, dass Dudleigh von Einkäufen in der Stadt gesprochen hatte. Danach wollte er ins Hotel zurückkehren.

Der Besitzer befürchtete, dass ihm ein Unglück zugestoßen oder er im arabischen Viertel in einen Hinterhalt von Banditen geraten sei, die vor keinem Verbrechen zurückschreckten. Dieses Verschwinden betrübte ihn umso mehr, da vor einigen Wochen bereits ein anderer Gast auf unerklärliche Weise verschwunden war und bis heute nicht gefunden werden konnte. ›Sie müssen sich doch vorstellen können, Monsieur‹, jammerte er, ›dass solche Umstände dem guten Ruf meines Hauses ernsthaft schaden können. Denn letztendlich werde ich dafür verantwortlich gemacht, weil es schon das zweite Mal ist, dass so etwas passiert. Ich kann doch nichts dafür, wenn meine Gäste nicht vorsichtiger sind. Als Mr. Dudleigh letzten Mittwoch gegen zehn Uhr morgens das Hotel verließ, habe ich ihn erneut darauf hingewiesen, nicht mehr Geld mitzunehmen, als er benötigte, da er offenbar die Gewohnheit hatte, sein gesamtes Vermögen in einer Brieftasche bei sich zu tragen.‹«

»In der Tat«, unterbrach ihn Harry Dickson, der bis dahin aufmerksam dem Konsul zugehört hatte. »Auch auf dem Schiff zeigte sich Mr. Dudleigh in dieser Hinsicht nicht besonders umsichtig. Mehr als einmal habe ich ihn darauf hingewiesen. Er schien sich nicht bewusst zu sein, dass es äußerst unvorsichtig war, seine Brieftasche, die nach ihrem Umfang zu urteilen mehrere Tausend-Pfund-Scheine enthielt, einfach in der Tasche seines Jacketts zu tragen. Er lachte über meine Sorgen und ignorierte meine Ratschläge.«

»Ihr Kriminalisten betrachtet alle Menschen durch eure berufliche Brille. Bis zum Beweis des Gegenteils haltet ihr jeden für einen Verbrecher. Seit vielen Jahren lebt mein Vater in Kairo. Auch er ist dorthin gezogen, um sich von einer Brustkrankheit zu erholen, da das Klima aufgrund der konstanten Trockenheit äußerst günstig ist. In keinem seiner zahlreichen Briefe hat er auch nur ansatzweise angedeutet, dass das Leben in Kairo weniger sicher sei als in London, wo täglich in den Zeitungen über Morde und Verbrechen berichtet wird. Dennoch hat er mir oft von seinem Wohnort erzählt. Das ist bemerkenswert«, erwiderte der Konsul mit einem Achselzucken. »Dieser mysteriöse Verwandte lebt also seit vielen Jahren hier und ich habe keine Ahnung von seiner Existenz, obwohl er in regelmäßigem Briefkontakt mit meinem Onkel stand! Ich verstehe das wirklich nicht mehr! Vielleicht hat sich mein Onkel bei diesem Verwandten versteckt oder …«

»… Ihren Onkel verschwinden lassen?«, unterbrach Harry Dickson ihn und sprach die Gedanken seines Gastgebers zu Ende. »Hm, vielleicht sind Ihre Vermutungen begründet. Auf jeden Fall müssen wir uns über diesen mysteriösen Verwandten informieren. Haben Sie bereits in dieser Richtung Nachforschungen angestellt?«

»Nein, Mr. Dickson, mir fehlte die Zeit dazu. Ich bin eilig zurückgekehrt und fest entschlossen, Sie um Ihre Hilfe bei der Aufklärung dieser Angelegenheit zu bitten. Wie Sie sehen, habe ich kaum das Ende des Abendessens abgewartet, um Sie zu informieren.«

»Es war richtig, mich als Vertrauten zu wählen, Mr. Felt«, antwortete Harry Dickson. »Ich werde Ihnen gerne dabei helfen, dieses Rätsel zu lösen.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mr. Dickson«, erwiderte der Konsul mit bewegter Stimme. »Ich wusste, dass Sie mir Ihre wertvolle Hilfe nicht verweigern würden, und meine Dankbarkeit ist mindestens ebenso groß wie Ihr Eifer. Von diesem Moment an sind meine Befürchtungen zerstreut. Der größte Detektiv unserer Zeit wird meinen Onkel sicher finden, tot oder lebendig.«

»Hat einer von Ihnen beiden, der Eigentümer oder Sie selbst, die Polizei über das Verschwinden Ihres Onkels informiert?«, fragte Harry Dickson.

»Ich nicht, aber Mr. Hatton hat diese Pflicht erfüllt.«

»Darf ich fragen, wann?«

»Das ist schon ein paar Tage her … Mittwoch, wenn ich mich nicht irre. Mr. Dudleigh ist letzten Sonntag in seinem Hotel erschienen.«

»Genau«, sagte Harry Dickson. An diesem Tag sind Tom und ich in Alexandria angekommen. Dudleigh wollte noch am selben Tag nach Kairo weiterreisen. Tom und ich sind in Alexandria geblieben und am Montag hier angekommen.

Es ist erstaunlich, dass der alte Mann, nachdem er seine Absicht bekundet hatte, nach seinen Einkäufen ins Hotel zurückzukehren, seitdem nichts mehr von sich hören ließ. Hat die Polizei Spuren gefunden?«

»Dazu konnte der Hotelbesitzer nichts Genaues sagen«, antwortete der Konsul.

»Wusste er nicht, welches Geschäft Mr. Dudleigh besuchen wollte?«

»Doch, es war der Basar der Firma Craigie & Sons, die auf Orientteppiche spezialisiert ist. Ich weiß, dass mein Onkel diese Firma seit vielen Jahren kannte. In seinem Geschäft in London hatte er eine ganze Reihe von Orientteppichen und stand schon zu der Zeit, als ich noch in der Hauptstadt lebte, in regelmäßigem Kontakt mit diesem Lieferanten.«

»Hat er also Mister Hatton gesagt, dass er zu Craigie & Sons gehen würde?«

»Das behauptet Mr. Hatton«, korrigierte Felt.

»Hat man sich erkundigt, ob Mr. Dudleigh wirklich dort war?«

»Hatton hat mir das jedenfalls bestätigt.«

»Und …?«

»Mr. Dudleigh ist nicht erschienen«, seufzte der Konsul. »Der Verkaufsleiter, der meinen Onkel persönlich kennt, hat ihn nicht gesehen. Um ganz sicherzugehen, hat er seine Mitarbeiter befragt und ihnen eine detaillierte Beschreibung von Mister Dudleigh gegeben. Aber niemand hatte einen Mann gesehen, der auch nur annähernd auf diese Beschreibung passte. Allerdings muss man zugeben, dass mein Onkel ein ziemlich markantes Aussehen hat. Er ist groß und schlank, hat scharfe Gesichtszüge und trägt außerdem eine große Narbe im Gesicht, die ihm ein zwielichtiger Typ zugefügt hat, als er sich eines Nachts in ein berüchtigtes Viertel von London gewagt hatte.«

»In der Tat«, bestätigte Harry Dickson mit gerunzelter Stirn. »Er hat mir selbst davon erzählt. Die Narbe war so auffällig, dass sie jedem sofort ins Auge fallen musste. Hatte der Besitzer nichts anderes Interessantes zu berichten?«

»Er sagte mir noch, dass die Polizei alle Krankenhäuser der Stadt durchsucht hat, jedoch ohne Ergebnis.«

»In diesem Fall sollten wir die Ermittlungen besser selbst in die Hand nehmen. Wir haben keine Minute zu verlieren. Wir müssen schnell handeln. Könnten Sie uns noch heute mit dem Polizeichef von Kairo in Verbindung zu setzen? Ohne seine Zustimmung kann ich hier nichts ausrichten. Man könnte mich sogar bei meinen Ermittlungen ernsthaft behindern und sie erfolglos machen. Mit einer kleinen Freikarte von ihm öffnen sich mir hingegen alle Türen.«

»Das ist richtig, Mr. Dickson«, stimmte der Konsul zu. »Ich stehe Ihnen zur Verfügung. Ich begleite Sie und Ihren unzertrennlichen Tom Wills, der sicherlich mit von der Partie sein wird, zur Polizeistation. Ich werde Sie beide persönlich dem Polizeichef vorstellen. Aber … machen Sie sich keine Illusionen über seinen Eifer. Malesh, was auf Deutsch in etwa macht nichts bedeutet, ist das wohl am häufigsten verwendete Wort im Arabischen und gleichzeitig sein Motto.«

»Das ist verständlich!«, meinte Harry Dickson lachend. »Aber wir kommen nicht um einen Besuch bei diesem Herrn herum.«

»Dann lassen Sie uns gleich losgehen.«

Die Herren standen auf, und wenige Augenblicke später waren sie auf dem Weg zum höchsten Polizeibeamten in Kairo. Das will schon etwas heißen!

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