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Kaliane Bradley – Das Ministerium der Zeit

Kaliane Bradley
Das Ministerium der Zeit
Originaltitel: The Ministry of Time
Science-Fiction, Zeitreise, gebundene Ausgabe, Penguin-Verlag, München, April 2025, 384 Seiten, 24,00 EUR, Übersetzerin: Sophie Zeitz, ISBN 9783328603535

Eine junge Ministeriumsangestellte und ein verschollener Polarforscher verbringen einen heißen Sommer in einem Backsteinhaus in London. Er ist durch die Zeit gereist, sie soll ihm das Ankommen erleichtern. Doch je näher sich die beiden kommen, desto bedrohlicher wird die Welt um sie herum. Denn das Ministerium hat andere Pläne für ihre Zukunft. Kann ihre Liebe die Geschichte neu schreiben?

Ein Tunnel aus gleißend hellem Licht … Was man gewöhnlich mit dem Tod assoziiert, bedeutet für Graham Gore, Offizier der Royal Navy, einen Neubeginn. Fort aus der erbarmungslosen Umgebung der Antarktis, hinein in eine für uns greifbar nahe Zukunft. Neuer, schöner, besser? Leider nicht: Überall auf dem Globus schwelen Konflikte, Nahrungsressourcen sind knapp und über das Klima legen wir besser den Mantel des Schweigens. Aus dem mutmaßlich im Eis verstorbenen Teilnehmer der zum Scheitern verurteilten Franklin-Expedition von 1845, die einen Seeweg zwischen Atlantik und Pazifik finden sollte, ist ein Expat geworden. So bezeichnet das zuständige Ministerium unfreiwillige Zeitreisende wie Gore. Er teilt sein Schicksal mit einem Krieger aus dem 17. Jahrhundert, einer Dame aus dem Paris unter Robespierre, einer weiteren Dame aus der Zeit der Großen Pest und einem Hauptmann aus dem Ersten Weltkrieg. Welch illustre Riege. Wozu aber das Ganze? Mehr oder weniger, weil man dazu imstande ist. Zumal den Herren und Damen laut den Geschichtsbüchern sowieso keine lange Zukunft beschieden war. Doch ist ein so drastischer Vorstoß in eine fremde Umgebung wirklich eine bessere Alternative? Damit sich die Expats moderat an die Umstände gewöhnen und keiner dem Wahn verfällt, stellt ihnen das Ministerium sogenannte Brücken zur Seite: Begleiter, die Gore und den Rest wetterfest für die Gegenwart machen – in homöopathischen Dosen freilich. Nicht auszumalen, was Bilder von der ersten Atombombe, von Konzentrationslagern oder vom 11. September etwa anzustellen vermögen. Gores Brücke mag auf den ersten Blick kaum etwas mit ihrem Expat gemein haben, doch täuscht dieser Eindruck. Aufgrund ihrer kambodschanischen Wurzeln weiß sie um das Gewicht der Vertreibung, kennt sie die Bürden der Flucht und des Fremdseins in einer neuen Heimat, die oft feindlich gesinnt ist. Man arrangiert sich. Der Arktisforscher passt sich dem Fortschritt an – technologisch wie gesellschaftlich –, wohingegen die junge Bürokratin Gores Manieren und buchstäblich veraltete Ansichten akzeptiert, sie immer wieder hinterfragt und den Expat zum Nachdenken anregt. Gleichzeitig erliegt sie immer mehr dem schroffen, aber ehrlichen Charme des Mannes. Ein Happy End also? Nicht, wenn es nach den Attentätern geht, die Gore um jeden Preis eliminieren wollen – doch in wessen Auftrag? Aus welchem Grund?

Inmitten einer Phase des persönlichen Umbruchs und einer weltweiten Krise dank globaler Pandemie stieß die Autorin Kaliane Bradley auf eine Fernsehserie namens The Terror, die auf dem gleichnamigen Roman von Dan Simmons basiert. Damals, im April 2021, waren Polarforschung und die Franklin-Expedition für Bradley Bücher mit sieben Siegeln. Ein Zustand, der sich nach Beendigung der letzten Folge änderte. Bradleys Neugier wurde geweckt und während sie ihren rein persönlichen Interessen nachging, stieß sie auf einen bemerkenswerten Mann. Richtig, Graham Gore, den der Leiter der Expedition, John Franklin, in höchsten Tönen lobte und wertschätzte. Das Wenige, das sie zusammentrug, ergab das Bild eines gebildeten, unerschrockenen und loyalen Mannes mit jugendlichem Überschwang. Daraus entstand die alles entscheidende Frage, ob sich eine Persönlichkeit von diesem Format auch in der Neuzeit zurechtfinden würde – die zentrale Prämisse vom Ministerium für Zeit war geboren. Es ist kaum begreiflich, dass Kaliane Bradley das Buch ursprünglich nur für sich und maximal den engsten Freundeskreis schrieb, denn der Roman ist schlichtweg ein Triumph. Trotz oder gerade wegen des einen oder anderen unwesentlichen Makels. Die Art und Weise, wie Kaliane Bradley scheinbar unvereinbare Literaturgattungen – Science-Fiction, Romcom, Gesellschaftskritik und nicht zuletzt den klassischen Spionagethriller – harmonisch miteinander kombiniert, ist bewundernswert. All das in einer luftig-leichten Prosa, um die sie so manche gestandene Kollegin oder Kollege gewiss längst bewundert. Bradley schafft spielerisch, woran die hierzulande unter dem Label progressive Phantastik agierenden Schreibenden regelmäßig scheitern: Unterhaltung und Tiefe in Einklang zu bringen. Spaß ist nämlich auch in Zeiten wie diesen keine Schande. Das Ministerium der Zeit ist klug und liest sich dennoch wie ein Pageturner. Der Roman ist keine Sekunde langweilig oder erscheint dem potenziellen Publikum moralisch überlegen. Das ist der richtige Weg. Man spürt, dass Kaliane Bradley möglichst viele Leserinnen und Leser erreichen möchte. Sie spricht dringliche Fragen auf fantasievolle und kluge Weise an, ohne in Hoffnungslosigkeit zu verfallen. Das Leben ist schön und es lohnt sich, dafür zu kämpfen. Das ist womöglich die universelle Botschaft dieses Romans, der in absehbarer Zeit gewiss den Status eines modernen Klassikers innehaben wird. Gegenwärtig arbeitet die Autorin am Nachfolger, der Aspekte der griechischen Mythologie mit Neo-Noir-Elementen verknüpft. Sicherlich bin ich nicht der Einzige, der diesem Werk ungeduldig entgegenfiebert.

(tsch)

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