Das unheimliche Buch – Der wahre Sieg
Das unheimliche Buch
Herausgegeben von Felix Schloemp
Frédéric Boutet:
Der wahre Sieg
Und ich kämpfte verzweifelt mit dem schrecklichen Azrael …
(Edgar Allan Poe: Ligeia)
Es war in der Nacht; auf dem einsamen Kai schritt ein von einem schwarzen Mantel tief umhüllter Wanderer den Fluss entlang.
Rechts am Fuße der das Ufer umgebenden Mauer floss das Wasser tief und ruhig wie in einem Kanal dahin. Hier und dort stieg eine schräg herabführende Treppe zu dem Fluss hinab. Von den verankerten Schiffen leuchteten Stocklaternen wie rote Sterne. Das gegenüberliegende Ufer war nur durch die entfernten Flecken gelblich brennender Laternen und einiger erleuchteter Fenster unsichtbarer Häuser erkennbar.
Links wurde der große Kai durch alte Herrenhäuser begrenzt. Ihre Fassaden waren grau, ihre Türen mit eisernen Riegeln versehen. Die meisten der hohen, schmalen Fenster waren düster oder durch Läden verschlossen. Nur selten drang ein Lichtschimmer durch die dichten Vorhänge oder die Spalten der Jalousien. Hier und da sah man ein halb erleuchtetes, feierliches Zimmer mit ernsten Ahnenbildern und altmodisch geschweiften, schweren Eichenmöbeln. Die Mehrzahl dieser alten Patrizierhäuser war von Gärten umgeben, die sie untereinander trennten. Über deren zerfallende Mauern schienen die Äste der Bäume neugierig auf die Vorübergehenden zu blicken. Von eisernen Trägern herabhängende Laternen verbreiteten ein mattes Licht. Hier und da verrieten das über der Tür angebrachte Wappenschild sowie die vornehmen, großen Verhältnisse eines Gebäudes, dass dies das Stammhaus einer der edelsten Familien der alten Stadt sei.
Die Nacht war hereingebrochen; es war eine neblige, kalte Novembernacht. Die bleifarbenen Wolken jagten wie eine vom Sturmwind getriebene, fantastische Herde über den düsteren Himmel.
So lag dieser alte Stadtteil geheimnisvoll und in ungestörter, tiefer Ruhe im Schatten der Nacht.
Dem schnell daher schreitenden einsamen Wanderer schienen all diese Dinge längst bekannt zu sein; er beschleunigte seinen Gang noch mehr. Er überschritt eine Brücke und blieb dann vor der Schwelle eines schmalen Hauses stehen. Er öffnete die mit Eisenzierat geschmückte Tür mit einem Schlüssel. Er betrat einen geräumigen Flur, der durch eine von der Decke hängende, rötlich schimmernde Lampe erhellt wurde. Im Hintergrund erhob sich eine breite Treppe mit bequemen Stufen. Er stieg hinauf und erreichte die dritte und letzte Etage des Hauses. Vor einer mit feinen Holzskulpturen geschmückten, gewölbten Tür, über der eine Lampe brannte, blieb er stehen und klopfte dreimal. Ein Augenblick verstrich. Er klopfte noch einmal und nahm, als er aus dem Inneren schlürfende Schritte vernahm, Hut und Mantel ab. Das matte Licht der Lampe fiel auf sein sehr blasses Gesicht, während seine Augen, Augenbrauen, sein Bart und sein Haar tiefschwarz waren. Nun wurde in der Tür ein kleines Guckfensterchen geöffnet und man hörte das Geräusch zurückgezogener Riegel und Ketten.
Er trat ein. Vor ihm stand eine alte Frau, die einen Beguinenmantel und ein Kleid aus grobem Wollstoff trug. Sie nahm dem Ankömmling Hut und Mantel ab. Er war ganz schwarz gekleidet und zog die Handschuhe von seinen weißen Händen aus. An diesen funkelten Ringe, die reich mit kostbaren Steinen verziert waren.
Er strich sich das lange, über seine Stirn fallende schwarze Haar aus dem Gesicht und sah die Alte fragend an.
»Ja«, sagte die alte Frau, »ja, sie harrt Ihrer in ihrem Leichentuch.« Aber warum soll ich Ihnen das jedes Mal wiederholen? Wissen Sie denn nicht, dass sie immer in ihrem Leichentuch auf Sie wartet? Dass sie immer bereit ist und dass ich, dieses arme alte Weib, sie immer dazu vorbereite? Dafür muss ich ganz gewiss jahrhundertelang in der Zelle schmachten, in die Sie aber auch unbedingt kommen. Aber wer vermöchte Ihnen zu widerstehen? Warum sage ich Ihnen das? Sie hören ja kaum auf meine Worte. Nehmen Sie sich aber in Acht – es könnte sich ereignen, dass dieses Spiel eines Tages zur vollen Wahrheit wird.«
Ohne ihrer Rede auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken, ging der Gast an der Alten vorbei. Er begab sich in ein kleines Toilettenzimmer, dessen Spiegelwände durch hohe Wachskerzen erhellt wurden. Er entkleidete sich, legte ein langes Gewand aus weicher schwarzer Seide an, parfümierte sich und verließ das Gemach.
Er schien in großer Aufregung zu sein, denn er war noch bleicher als zuvor. Er presste die Lippen fest aufeinander und seine Hände zitterten. Das Opium, das er eingenommen hatte, ehe er hierhergekommen war, übte seine Wirkung aus, verwirrte sein Gehirn und erfüllte ihn mit glühend-fantastischer Begierde.
Nun befand er sich in einem viereckigen Zimmer, das mit großen Diwans und Möbeln aus Ebenholz ausgestattet war. Die Wände und Decke waren mit matt lila, mit silbernen Blumen bestickter Seide bekleidet, und auch die Vorhänge, die Fenster und Türen verhüllten, bestanden aus demselben Stoff. Rechts stand ein großer Spiegel, links eine Standuhr, die jedoch nicht ging. Große Bronzevasen waren mit Rosen gefüllt. Der Teppich, der den Fußboden bedeckte, entsprach der Farbe und dem Muster der Draperien. Auf einer Konsole stand eine mit matt lila und rosa Schleiern verhangene Lampe, die ein dämmriges Licht verbreitete.
Der Mann ging zum Hintergrund des Zimmers, schob die Vorhänge auseinander und enthüllte einen tiefen, mit weißem Samt ausgeschlagenen Alkoven. Dieser wurde beinahe ganz von einem Elfenbeinbett eingenommen, dessen Spitzenkissen, Seidendecke und Batistlaken makellos weiß und rein waren. Auf diesem Bett lag eine junge Frau von überraschender Schönheit.
Die schneeweiße Seidensteppdecke war bis unter die Brust heraufgezogen, deren zarte Wölbung unter einer sie fest umschließenden Tunika aus silberweißer Seide deutlich erkennbar war. Ihr schlanker Hals war von einer dreireihigen Perlenkette umgeben und ihr Haar von einer weißen Seidenbinde umhüllt, die auch das Gesicht umrahmte und dessen durchsichtige Blässe noch erhöhte. Sie lag starr und bewegungslos da, mit gekreuzten Händen, und es schien, als ob kein Atemzug ihre Brust schwellen ließe. Das Bett war mit weißen Rosen bestreut und auf ihrer Brust lag ein elfenbeinernes Kruzifix. Der milde Schein einer silbernen Nachtlampe fiel auf die schöne Frau. Die Luft im Alkoven war sehr warm und mit starken Wohlgerüchen erfüllt.
Der nächtliche Gast betrachtete die junge Frau und empfand einen ungeheuren Schmerz, der mit heißem, sinnlichem Verlangen gepaart war. Denn seine Geliebte war über alle Begriffe begehrenswert und bot das vollkommene Bild des Todes. Es schien, als würden diese lang geschnittenen Augen nie wieder ihre durchsichtigen Lider aufschlagen, als würden sich diese nicht ganz geschlossenen Lippen, hinter denen perlweiße Zähne schimmerten, nie mehr zum Kuss öffnen, als könnten die nackten, von Perlen umwundenen Arme nie die gekreuzten Hände lösen, um den zu umarmen, den sie liebte – den sie geliebt hatte.
Hatte sie nicht unter dem matten Schimmer dieser Lampe ihren letzten Seufzer ausgehaucht? Waren die über ihrem Lager gestreuten Blumen nicht Todesblumen? Sollte sie nicht das Kruzifix, das auf ihrer Brust lag, mit in das Grab nehmen? Hatte man sie nicht zu ihrer Vereinigung mit dem Todesengel geschmückt? Er warf sich vor dem Bett auf die Knie und ließ seine leidenschaftlichen Blicke auf der Geliebten ruhen. Die Wirkung des Opiums, die Hitze im Alkoven und der starke Duft erregten einen schwindelnden Taumel in ihm. Er verlor allmählich das Bewusstsein für die Wirklichkeit. Eine tiefe Verzweiflung erfüllte sein Herz, während gleichzeitig ein glühendes, sinnliches Verlangen in ihm erwachte, das mit jeder Sekunde wuchs. Er weinte. Er hatte eine der Hände des jungen Weibes ergriffen, er küsste und liebkoste ihren nackten Arm. Gefühle der Verzweiflung, der Liebe und der Wollust drängten auf ihn ein.
Nun hatte er die Seidenbinde gelöst, die ihre Stirn und das Gesicht umgab und ihre schwarzen Locken verhüllte. Er betrachtete dieses schöne Gesicht und eine plötzliche Hoffnung erfüllte sein Herz. Diese Hoffnung erhöhte zugleich sein sinnliches Verlangen und erweckte in ihm den frevelhaften Wunsch, die Geliebte sofort zu besitzen. Er warf sich neben sie auf das Lager, küsste ihre leicht geöffneten Lippen und umschlang den zarten Körper leidenschaftlich. Ihre gelösten Locken fielen über die Kissenkante, und die aufgerissene Tunika enthüllte ihre Schönheit. Er dachte: Was kümmert mich das Morgen? In dieser Nacht ist sie noch schön, sie gehört mir ganz, und ich liebe sie so sehr, dass ich den Tod besiegen werde.
In einem durch die Wirkung des Opiums erhöhten, wollüstigen Delirium besaß er sie. Da geschah es, dass sich ihre Lippen leise öffneten, um seine Küsse zu erwidern; dass sie ihre Arme ausstreckte, um ihn liebevoll zu umfangen; dass sich wollüstige Tränen durch ihre Wimpern stahlen; und dass sich ihre großen, klaren Augen weit öffneten! Ihr ganzer göttlich schöner Leib hauchte einen betörenden Liebesduft aus.
Als der Mann das Leben unter seinen glühenden Küssen erwachen fühlte, gab er sich einer schrankenlosen Wollust hin. Ein unerhörter Stolz machte seine Brust schwellen. Er dachte: Meine Liebe ist es, die sie aus dem Grab gerettet hat. Noch einmal habe ich sie zum Leben erweckt! Noch einmal! Ich bin Herr des Todes.
***
Und wie in dieser Nacht hatte dieser Mann es schon viele Nächte lang getrieben. Trunken von Opium war er in diesen weißen Alkoven gedrungen, in dem das arme junge Weib im ganzen Glanz ihrer Jugend wie eine Tote aufgebahrt lag und seinen Kuss erwartete. Er wiederholte dieses seltsame Spiel noch mehrere Male, denn es war erst am letzten Abend dieses Jahres, dass er zum letzten Mal kam.
Es schneite und die Nacht war sehr dunkel. Die weichen Schneeflocken hüllten alles in jungfräuliches Weiß. Sie stürzten sich lautlos in das schwarze Wasser des Flusses, der still wie ein Kanal dahinglitt. Tiefe Ruhe lag über dem alten Stadtteil.
Er schritt durch das Schneegestöber; das Opium, das er heute besonders reichlich genossen hatte, ließ seltsame Visionen vor ihm erstehen.
Er überschritt die Brücke, drang in das Haus ein und ging die Treppe hinauf. Er klopfte und wurde wie gewöhnlich von der alten Frau eingelassen. Sie schien angsterfüllt und aufgeregter als gewöhnlich zu sein. Doch der nächtliche Gast war so in seine Gedanken vertieft, dass er dies nicht bemerkte.
Sie sagte: »Was, Sie sind es? … Ich hatte gehofft, dass Sie heute nicht kommen würden. Ich weiß nicht, warum ich das hoffte, denn ich weiß sehr wohl, dass sie Sie in dieser Nacht erwartete, und ich weiß auch, dass Sie dann immer kamen. Aber heute dürfen Sie nicht zu ihr gehen. Sie liegt wie sonst aufgebahrt und in ihr Leichentuch gehüllt, bereit, zum Grab geführt zu werden – nur ist sie heute Abend wirklich tot. Sie ist vor ganz kurzer Zeit gestorben, ach, mein Gott, vor ganz kurzer Zeit! Und ich, armes altes Weib, habe sie wie sonst aufgebahrt. Aber ach, sie und ich werden der ewigen Verdammnis anheimfallen, wenn ich Ihnen heute den Eintritt zu ihr gewähre. Und doch weiß ich, dass meine Worte vergebens sind. Sie hören mir gar nicht zu und werden zu ihr gehen, denn wer könnte Ihnen widerstehen? Aber verstehen Sie wohl, was ich Ihnen sage? An diesem Abend ist es Wahrheit!«
Er hörte wirklich nicht auf das, was die Alte sagte, und schritt an ihr vorüber. Sie blieb klagend zurück. Er betrat das lila Zimmer und schob die Vorhänge des Alkovens zurück. Alles war genauso geordnet, wie es sonst zu sein pflegte.
Das junge Weib ruhte, vom matten Schein der Silberlampe bestrahlt, regungslos wie eine auf einem Grab liegende marmorne Statue. Sie war bleich wie eine solche und ebenso unbeweglich. Sie war so, wie er sie immer vorgefunden hatte: Ihre Lippen waren weniger rosig, ihre Augenlider waren noch weißer und ihre nackten Arme waren trotz der drückend heißen, mit Wohlgerüchen geschwängerten Luft kälter als sonst. Dies alles bemerkte ihr Geliebter jedoch nicht. Und er tat, wie er immer getan hatte: Er suchte und fand zuerst eine tiefe Verzweiflung, dann ergriff ihn glühendes Verlangen.
Sie lag in seinen Armen, er bedeckte sie mit glühenden Küssen. Aber er versuchte vergebens, seine Lippen mit diesem bleichen Mund zu vermählen; sie wollten sich nicht öffnen. Vergebens bedeckte er ihren schönen Körper mit wollüstigen Liebkosungen; sie zitterte nicht und ihre Arme wollten sich nicht um ihn schlingen. Ihre durchsichtigen Augenlider hafteten fest auf den großen, blauen Augen und ihre kleinen Füße waren kalt wie Eis. Ihre Glieder wurden immer steifer, kälter und schwerer, und ihrer Schönheit blieb unwiderruflich der Stempel des Todes aufgedrückt, des Todes, den sie den perversen Gelüsten dieses seltsamen Mannes zuliebe so oft simuliert hatte.
Vielleicht lag es daran, dass er sie in dieser Nacht trotz seiner wollüstigen Liebkosungen nicht stark genug liebte! Vielleicht, weil sie, die so oft den Tod gespielt hatte, endlich neugierig darauf geworden war, ihn wirklich kennenzulernen. Oder weil sie, dieses schreckliche Spiel leid, wirklich starb, um ihm ein Ende zu machen. Gewiss ist, dass der unglückliche Mann bald genug zu der Erkenntnis kam, dass die Worte der Alten, die er verachtet hatte, keineswegs trügerisch, sondern wahr waren. Er erwachte aus seinem Taumel und erkannte nun erst, was wahre Verzweiflung und Schmerz über einen unersetzlichen Verlust bedeuteten. Alles sinnliche Begehren war verlöscht und erstorben.
So geschah es, dass die letzten Fäden, die diesen Mann noch an das Leben knüpften, zerschnitten wurden. Er schob den Stein eines seiner Ringe zurück und nahm das furchtbare, sofort tödliche Gift heraus, das darin verborgen war. Noch einmal umarmte er sie, die nun nicht mehr den Tod log … Er küsste die Lippen, die er so sehr geliebt hatte. Dann sank sein müdes Haupt im letzten Taumel der Trunkenheit auf ihre nackte Brust.
Der Todesengel aber war es, der den letzten, den wahren Sieg davontrug …
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