Der mysteriöse Doktor Cornelius – Band 1 – Episode 6 – Kapitel 2
Gustave Le Rouge
Der mysteriöse Doktor Cornelius
La Maison du Livre, Paris, 1912 – 1913
Sechste Episode
Die Ritter des Chloroform
Zweites Kapitel
Die Erzählung von Oscar Tournesol
Mit einer autoritären Geste half Fred Jorgell dem zerlumpten Buckligen, der neben ihm stand, in das Taxi, das sofort im dritten Gang in Richtung Stadtzentrum losfuhr.
»Du bist ein mutiger Junge«, sagte der Milliardär plötzlich zu seinem seltsamen Begleiter. »Du hast mir das Leben gerettet. Aber ich schwöre dir, dass du heute Abend deine Zeit nicht verschwendet hast. Und zunächst einmal, wie heißt du?«
»Oscar Tournesol.«
»Du bist kein Amerikaner?«
»Nein, Sir, ich bin Franzose und sogar gebürtiger Pariser.«
»Und was ist dein Beruf?«
Oscar Tournesol senkte den Kopf und errötete.
»Ich bin Schuhputzer«, antwortete er ein wenig beschämt über seinen bescheidenen Beruf.
»Du musst dich für deinen Beruf nicht schämen«, entgegnete Fred Jorgell streng. »Es ist niemals eine Schande zu arbeiten. Ich selbst habe lange Zeit an den Kais von San Francisco die Schuhe von Matrosen geputzt »und dennoch bin ich heute Milliardär.«
Als Oscar große Augen machte, fuhr Fred Jorgell fort: »So ist das, mein Junge. Aber erzähl mir zuerst, wie du auf die Idee gekommen bist, mir zu helfen.«
»Ganz einfach. Ich wohne für zwei Dollar pro Woche in einer Art Keller, der genau auf die Sackgasse hinausgeht, in der Sie angegriffen wurden. Es kommt nicht selten vor, dass ich in der Nachbarschaft Revolverschüsse höre. Aber ich habe mich an dieses Geräusch nie gewöhnen können. Als Sie auf den Mann mit dem langen Bart geschossen haben, bin ich mit einem Ruck aufgewacht, aus dem Bett gesprungen und habe mich in Windeseile angezogen.«
»Du hast gut daran getan, dich zu beeilen«, murmelte der Milliardär mit einem Ausdruck rückblickender Angst. »Aber fahre fort …«
»Ich schaute durch das Kellerfenster. Als ich sah, dass es sich nicht um einen Kampf zwischen Gangstern handelte, sondern um einen regelrechten Mord, zögerte ich nicht. Ich nahm einen Stock »die einzige Waffe, die mir zur Verfügung stand »und versteckte mich im Flur, um auf den richtigen Moment zum Eingreifen zu warten.«
»Aber du hättest unterliegen können …«
»Nun, darüber habe ich nicht nachgedacht. Außerdem hätte ich mein Leben lang Gewissensbisse gehabt, wenn ich zugelassen hätte, dass jemand vor meinen Augen ermordet wird. Ich hätte mich immer als Mittäter gefühlt.«
In diesem Moment hielt das Taxi vor einem Gebäude mit hell erleuchteter Fassade.
»Wir sind da«, erklärte der Milliardär. »Hier ist das Restaurant Delmonico. Ich dachte, es würde uns beiden gut tun, nach einem solchen Schreck etwas Substanzielles zu essen.«
»Aber«, stammelte Oscar, »ich bin kaum vorzeigbar. Man wird sagen, Sie hätten einen Hundefriseur »oder, was ja der Wahrheit entspricht, einen Schuhputzer zum Abendessen eingeladen.«
»Das ist mir völlig egal«, rief Fred Jorgell mit großartiger Lässigkeit. »Weißt du, ich verachte das, was die Leute sagen, zutiefst.«
Während er sprach, schob er den verwirrten Oscar in den großen Saal mit der goldenen Decke und den mit Blumen, Gold und Kristall geschmückten Tischen.
Als sie den Schuhputzer sahen, tauschten die Kassiererin und der Geschäftsführer einen verblüfften Blick aus. Unter den Anwesenden ging ein leises Lachen um, aber das war auch schon alles. Der Milliardär war bekannt, und niemand hätte es gewagt, ihm eine Bemerkung zu machen. Im Gegenteil, einige Gäste empfanden dieses Verhalten als gutartige Exzentrik und als sehr mutig, gerade an diesem Tag, an dem der Name Baruch mit den blutigen Anspielungen der Zeitungen wieder in aller Munde war.
Fred Jorgell und Oscar Tournesol nahmen an einem kleinen, abgelegenen Tisch Platz und sofort gab der Milliardär die Speisekarte vor.
»Wir brauchen«, erklärte er Oscar, der keinerlei Einwände hatte, »einfache und wohltuende Speisen. Daher beschließe ich folgendes Menü:
Kankal-Austern, drei Dutzend;
Hummersalat mit Sellerieherzen und ein paar Trüffeln …
Kentucky-Hähnchen mit Trust-Sauce und …
Und da du Franzose bist: französische Schnecken mit Vanillezucker.
Desserts, Kaffee, Whisky, Canadian Club.
Ist das in Ordnung für dich?«
»Das ist wunderbar, und es passt umso besser, da ich heute sehr sparsam gegessen habe. Ich habe großen Appetit.«
»Was für ein Appetit?«
»Das ist ein französischer Ausdruck, um zu sagen, dass ich sehr guten Appetit habe.«
»Very well! Trinkst du Wein?«
»Sehr gerne, vor allem, wenn er aus meinem Land stammt, Monsieur.«
»Du wirst zufrieden sein.«
Während Fred Jorgell beim Kellner eine spezielle Speisekarte verlangte, schwor sich Oscar insgeheim, die mit Vanille und Zucker überzogenen Schnecken nicht anzurühren. Er hielt sie, ohne sie probiert zu haben, für eine Abscheulichkeit, die die Yankees erfunden hatten, um Burgund zu entehren.
Bald wurde das Abendessen serviert. Der Bucklige verschlang das Essen wie ein hungriger Wolf und der Milliardär sah ihm mit wahrer Begeisterung dabei zu, wie er die Teller leer aß und die Soße mit seinem Brot auftunkte. Er hütete sich wohl, seinen Gast mit unpassenden Fragen zu beunruhigen, und ließ ihn zunächst in aller Ruhe satt werden. Erst beim Dessert ergriff er das Wort und sagte: »Nun, mein lieber Oscar, ich möchte alles über dein bisheriges Leben erfahren. Wenn du es verdienst – und das glaube ich fest – verspreche ich dir, dir in Kürze eine sehr beneidenswerte Position zu verschaffen.«
»Sir«, antwortete der Bucklige, »ich habe keinen Grund, Ihnen meine Vergangenheit zu verheimlichen, und Sie werden alles darüber erfahren. Wie ich Ihnen bereits sagte, wurde ich in Paris geboren. Mein Vater war ein armer Tischler aus dem Faubourg Saint-Antoine. Ich war fünf Jahre alt, als meine Eltern im Abstand von zwei Wochen an einer Typhusepidemie starben. Die Nachbarn wollten mich dem Sozialamt übergeben, aber ich hatte solche Angst, eingesperrt zu werden, dass mir mit etwa zwanzig Sous, die mir meine arme Mutter wenige Tage vor ihrem Tod gegeben hatte, die Flucht gelang. Seitdem lebte ich auf den Straßen von Paris und schlug alle kleinen Berufe aus, die man ausüben kann, wenn man keinen hat.
»Du warst Straßenverkäufer«, präzisierte der Milliardär.
»Genau, ich habe Abendzeitungen verkauft, an Nationalfeiertagen dreifarbige Dekorationen, auf Jahrmärkten armenisches Papier und Plüschaffen und auf Caféterrassen Oliven aus einem kleinen Zedernholzfass. Außerdem habe ich Zigarrenstummel gesammelt und beim Entladen von Obst- und Gemüseladungen geholfen. Ich erinnere mich nie ohne Traurigkeit an diese Zeit. Wie oft musste ich unter Brücken oder in Rohbauten schlafen! Dann lachten mich alle wegen meines Buckels und meiner gelben Haare aus. Ich war über fünfzehn Jahre alt, aber man hätte mir nicht einmal zwölf gegeben, so mickrig und kränklich war ich.«
»Armer Kerl!«, flüsterte Fred Jorgell. »Dann bist du wohl nach Amerika gekommen, um dein Glück zu machen?«
»Wartet noch, ich bin noch nicht fertig. Eines Nachts, als es bitterkalt war, war ich obdachlos und mittellos. Seit dem Vortag hatte ich nichts mehr gegessen. Halb verhungert und erfroren suchte ich Zuflucht unter dem Vordach einer Kutschenrampe am Quai de la Tournelle. Dort fand man mich am nächsten Morgen, ohnmächtig und halb erfroren. Der Besitzer des Hauses, ein berühmter Gelehrter, hatte Mitleid mit mir. Er pflegte mich, gab mir zu essen und behielt mich schließlich bei sich.«
»Wie hieß dieser würdige Gentleman?«, fragte Fred Jorgell mit großem Interesse.
»Er hieß Monsieur de Maubreuil.«
Als Fred Jorgell diesen Namen hörte, der ihm schreckliche Erinnerungen zurückbrachte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er stellte das Glas, das er gerade an die Lippen setzen wollte, unberührt auf den Tisch zurück. Er musste all seine Willenskraft zusammennehmen, um nicht zu zeigen, was in ihm vorging.
»Fahre fort«, sagte er mit dumpfer Stimme zu Oscar, der ganz in seine Erzählung vertieft war und nichts bemerkt hatte.
»Monsieur de Maubreuil und seine Tochter, Mademoiselle Andrée, waren sehr gütig zu mir. Sie behandelten mich fast wie ihr eigenes Kind. Das Unglück schien für mich vorbei zu sein. Ich wurde gekleidet, ernährt und sogar wie ein echter Sohn der Familie unterrichtet. Als Monsieur de Maubreuil, angewidert von Paris, sich in der Bretagne niederließ, nahm er mich mit in sein Schloss, das Manoir aux Diamants genannt wurde. Ich wäre zweifellos noch dort, wenn nicht unglücklicherweise ein Amerikaner namens Baruch zu uns gekommen wäre …«
»Ich kenne diese Geschichte«, unterbrach mich der Milliardär abrupt, »alle Zeitungen haben darüber berichtet! Und was wurde aus dir nach dem Tod deines Beschützers?«
»Ich zog zusammen mit Mlle Andrée zu einem alten Freund von Monsieur de Maubreuil, Monsieur Bondonnat.«
»Dem berühmten Naturforscher?«
»Genau. Aber sehen Sie mein Pech! Mein zweiter Beschützer erlitt fast das gleiche Schicksal wie der erste.«
»Ermordet?«
»Nein, er wurde von Unbekannten mit einem Flugzeug entführt. Wir haben nie erfahren, was aus ihm geworden ist. Es war genau an dem Tag, an dem die Verlobung von Mlle Frédérique, der Tochter meines Herrn, und von Mlle Andrée de Maubreuil gefeiert werden sollte. Während ich auf das Essen wartete, machte ich mit meinem Herrn einen Spaziergang auf der Heide. Wir waren völlig arglos, was ein Fehler war, denn in der Gegend trieben sich Fremde mit verdächtigem Aussehen herum – Engländer oder Amerikaner –, die bereits versucht hatten, unseren Wachhund Pistolet zu töten.
Das hätte uns stutzig machen müssen.
Zweifellos, aber wir waren weit davon entfernt, zu vermuten, dass ein solcher Anschlag möglich wäre. Monsieur Bondonnat amüsierte sich damit, den Hund zu beobachten, dem ich erstaunliche Kunststücke beigebracht hatte. Plötzlich stürzte ein Flugzeug wie ein Geier auf seine Beute auf die Heide herab. Zwei Amerikaner stiegen aus – dieselben, die versucht hatten, Pistolet zu töten. Mit der Browning in der Hand stießen sie M. Bondonnat um und warfen ihn in eine der Wannen des Flugzeugs. Ich versuchte, meinen alten Herrn zu verteidigen, wurde aber mit einem Schlag mit dem Gewehrkolben niedergestreckt, der mir fast den Schädel spaltete. Seitdem war es mir unmöglich, etwas über das Schicksal von Herrn Bondonnat zu erfahren. Er muss noch am Leben sein. Wenn sie ihn hätten töten wollen, wäre das ein Leichtes gewesen.«
»Das ist eine seltsame Geschichte«, murmelte der Milliardär nachdenklich. »Aber was ist aus dir geworden?«
Oscar zeigte auf eine breite weiße Narbe, die seine Stirn zierte.
»Die Schurken haben nicht mit der Faust auf das Auge geschlagen«, sagte er. »Ich schwebte mehr als einen Monat lang zwischen Leben und Tod. Mlle Andrée und Mlle Frédérique haben mich mit unglaublicher Hingabe gepflegt – vielleicht sogar besser, als es meine leiblichen Schwestern getan hätten. Aber als ich wieder aufstehen konnte und man mich als außer Gefahr betrachtete, war ich unendlich traurig und untröstlich. Die Villa von Monsieur Bondonnat, die zuvor so fröhlich gewesen war, wirkte nun traurig und still wie ein Haus, in dem jemand gestorben war. Blass, melancholisch und in Trauerkleidung schienen mir Mademoiselle Andrée und Mademoiselle Frédérique völlig verändert. Der schöne botanische Garten, sich selbst überlassen, glich einem Dickicht und die Geräte, die mein Meister erfunden hatte und mit denen sich die Jahreszeiten nach Belieben verändern ließen, rosteten auf der Klippe vor sich hin. Es war eine Trostlosigkeit!«
»Aber was ist mit den Verlobten der beiden Fräulein?«, fragte Fred Jorgell, den diese Geschichte immer mehr faszinierte.
»M. Ravenel und M. Paganot hatten aus Gründen der Anständigkeit und in Absprache mit den jungen Damen die Hochzeit auf später verschoben. Sie waren nach Paris zurückgekehrt, um abzuwarten, bis das Schicksal von Monsieur Bondonnat geklärt war. Es war eine ausweglose Situation. Zu allem Unglück erkannte der Arzt, der mich behandelte, bei mir die ersten Anzeichen von Tuberkulose. Ich war nie besonders robust gewesen und diese lange Krankheit hatte mir schwer zugesetzt.«
Oscars Stimme stockte. Es schien, als versuche er, die Tränen zurückzuhalten, die ihm in die Augen stiegen.
»Ich konnte nicht länger in der Villa bleiben. Mlle Frédérique schickte mich in ein Sanatorium in Berck-sur-Mer, wo ich sehr gut versorgt wurde. Jede Woche erhielt ich einen tröstlichen Brief von den jungen Damen, dem immer ein Geschenk oder eine Geldanweisung beilag. Ich war sehr glücklich über die Aufmerksamkeit, die sie mir schenkten, aber ich langweilte mich zu Tode. Nach zwei Monaten Behandlung erklärte mich der Chefarzt schließlich für vollständig geheilt.«
»Und bist du in die Villa zurückgekehrt?«
»Nun, nein! Während meiner langen Stunden der Einsamkeit hatte ich Zeit zum Nachdenken. Wie würde meine Zukunft neben zwei jungen Mädchen aussehen, die in Trauer versunken waren? War es würdig für einen Mann mit Herz, bei ihnen zu bleiben, wenn ich eine so dringende Pflicht zu erfüllen hatte? M. Bondonnat war nach Monsieur de Maubreuil mein Wohltäter. Ich schwor mir, ihn wiederzufinden und gesund und munter zu seiner Tochter zurückzubringen.«
»»Das ist sehr gut, mein kleiner Freund«, flüsterte der Milliardär aufrichtig mitleidig. »Aber du scheinst mir kaum gerüstet zu sein, um etwas so Schwieriges zu erreichen.«
»Das kommt darauf an, Sir. Ich habe mir selbst schon bewiesen, dass ich zu etwas fähig bin. Ich bin nach New York gekommen, ohne meine Überfahrt zu bezahlen.«
»Wie hast du das gemacht?«
»Ich habe die kleinen Beträge, die mir meine Wohltäterinnen geschickt haben, sorgfältig gespart. Sobald ich genesen war, nahm ich den Zug nach Le Havre. Das Transatlantikschiff LA TOURAINE lag gerade vor Anker. Als ich um das Schiff herumstreifte, hatte ich das Glück, einen jungen Matrosen zu treffen, den ich in der Bretagne kennengelernt hatte. Dank ihm konnte ich mich als Küchenhilfe, oder um genau zu sein, als Tellerwäscher, als Spülhilfe anheuern lassen. So kam ich nach New York.«
»Aber«, wandte Fred Jorgell misstrauisch ein, »man hätte dich doch nicht von Bord gehen lassen dürfen, da alle Auswanderer, die keine Existenzgrundlage nachweisen können, eine Kaution in Höhe von fünfhundert Francs hinterlegen müssen.«
Oscar Tournesol zwinkerte verschmitzt.
»Entschuldigen Sie«, sagte er, »ich war vorgewarnt und habe daher sorgfältig vermieden zu sagen, dass ich meine Stelle als Tellerwäscher an Bord des Passagierschiffs nicht behalten habe. Ich stand auf der Besatzungsliste und durfte von Bord gehen. Das war alles, was ich wollte. Einmal in den Straßen von New York, wo die Polizei nicht besonders aufdringlich ist, hätte mich niemand finden können. Ich habe mich tapfer als Schuhputzer niedergelassen und sofort mit meinen Ermittlungen begonnen.«
»Und hast du etwas herausgefunden?«
»Leider überhaupt nichts!«, sagte der Bucklige zutiefst entmutigt. »Ich stelle fest, dass die Aufgabe, die ich mir vorgenommen habe, mit Schwierigkeiten verbunden ist.0171
»Bist du schon entmutigt?«
»Nein! Ich werde bis zum Ende durchhalten. Das habe ich mir geschworen und Mlle Andrée und Mlle Frédérique versprochen.«
Der Milliardär schwieg. Trotz aller Sympathie, die Oscar Tournesol ihm einflößte, schwankte er zwischen verschiedenen Optionen. In seinem Inneren tobte ein großer Kampf. Schließlich entschied er sich, seinen Stolz zu überwinden.
»Weißt du, wer ich bin?«, fragte er den Buckligen unvermittelt.
»Nein, Sir, Sie haben es bisher für nicht angebracht gehalten, mir Ihren Namen zu nennen.«
»Ich bin Fred Jorgell, der Milliardär.«
Oscar war blass geworden.
»Der Vater von Baruch?«
»Ja«, antwortete der Milliardär, dessen Traurigkeit und geheime Demütigung sich hinter einer Maske eisiger Gleichgültigkeit verbargen. »Ich bin der Vater dieses Elenden. Das musste ich dir sagen. Aber lass uns nie wieder in unseren Gesprächen von ihm sprechen. Ich habe keinen Sohn mehr. Es ist, als hätte ich nie einen Sohn gehabt!«
Oscar schwieg, völlig verblüfft von dieser unerwarteten Enthüllung.
»Du hast mir das Leben gerettet«, fuhr Fred Jorgell fort. »Außerdem bist du ein energischer und ehrlicher Junge. Das sind zwei Gründe, warum ich mich für deine Zukunft interessiere. Es hängt nur von dir ab, ob sie so glänzend wie möglich wird. Ich verspreche dir außerdem, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um Monsieur Bondonnat zu finden.«
Oscar staunte über die seltsame Verkettung von Ereignissen, die den Vater des Mörders Baruch zweifellos zum Wohltäter von Andrée und Frédérique machen würden. Er bedankte sich überschwänglich, doch der Milliardär unterbrach ihn.
»Das ist gut«, sagte er. »Es ist spät. Es wird Zeit, dass wir uns beide zur Ruhe begeben. Lass uns praktisch reden. Hier ist ein Fünfhundert-Dollar-Schein. Er gehört dir. Es ist eine erste Anzahlung, bis ich sehen kann, was ich ernsthaft für dich tun kann. Morgen wirst du dich etwas anständiger kleiden und dich in den Büros der Schifffahrtsgesellschaft melden, deren Eigentümer ich bin. Hier ist die Adresse. Dort wird man dir eine angemessen bezahlte Stelle zuweisen, bis ich mir überlegt habe, wie ich M. Bondonnat am besten finden kann. Ist das in Ordnung für dich?«
»Sehr. Das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt hätte.«
»Dann fahren wir los. Du steigst mit mir ins Auto, und ich setze dich vor einem geeigneten Hotel ab.«
Fred Jorgell warf dem Kellner einen Geldschein zu, verließ das Restaurant Delmonico, ohne sich um die verschmitzten Lächeln zu kümmern, die beim Anblick seines seltsamen Begleiters auf den Lippen einiger Gäste verschwanden, und stieg in ein Taxi.
Eine halbe Stunde später war Oscar Tournesol, der sich noch immer nicht von seinen nächtlichen Abenteuern erholt hatte, in einem komfortablen Zimmer im Preston-Hotel untergebracht – mit Strom, Zentralheizung, Aufzug, Telefon usw. Ein Wort von Fred Jorgell hatte die arrogante Miene des Hotelmanagers, der zunächst gezögert hatte, einen so schlecht gekleideten Gast aufzunehmen, in unterwürfige Höflichkeit verwandelt.
Bevor er sich zu Bett begab, lehnte sich der Bucklige einen Moment lang an den Balkon seines Zimmers, das auf die völlig menschenleere 33th Avenue hinausging.
In diesem Moment fuhr ein Auto mit ziemlich hoher Geschwindigkeit die Avenue hinunter. Im Schein eines der Scheinwerfer konnte Oscar drei Personen erkennen, die, gemessen an ihren lebhaften Gesten, in eine hitzige Diskussion vertieft waren.
Doch plötzlich entfuhr ihm beinahe ein Schrei der Überraschung.
Er erkannte einen der drei Männer wieder. Dessen Gesichtszüge hatten sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt. Es war der Mann, der ihn auf der bretonischen Heide mit einem Revolverkolben fast tödlich verletzt hatte. Der Mann, der den Hund Liseur töten wollte. Einer der drei Banditen, die an der Entführung von M. Bondonnat mit dem Flugzeug beteiligt waren.
Oscar hätte ihn gerne verfolgt, um ihn festnehmen zu lassen. Doch das Auto war bereits wie ein Meteor am nächtlichen Himmel verschwunden und seine Scheinwerfer waren nur noch zwei kleine Lichtflecken, die am anderen Ende der riesigen Allee schon fast verschwunden waren.
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