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Der Detektiv – Band 30 – Der Stern von Siam – Kapitel 3

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 30
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Stern von Siam

3. Kapitel
Der Kesselreisende

Wir fanden einen plumpen Kahn, ketteten ihn los und ruderten in einem großen Bogen an den Stern von Siam heran. Harst kletterte als Erster auf Deck, wobei er sich der beiden Ruder als Kletterstangen bediente. Nach etwa drei Minuten warf er mir ein Tau zu, zog mich nach oben und ebenso unsere Koffer. Hier auf dem Achterdeck war es bei dem unfreundlichen Wetter völlig leer. Wir schlichen bis zum Mittelaufbau, wo nach Backbord hin Tompsons geräumige Kajüte mit Schlafkabine lag. Sie war unverschlossen. Wir huschten hinein und setzten uns in der Schlafkabine auf das Bett. In der Kajüte selbst hatte Licht gebrannt. Wir befanden uns im Dunkeln. Nach etwa einer Viertelstunde hörten wir Tompson eintreten, dann seine Stimme:

»Verdammt, soll ich die gelbe Bande denn bis Singapur verpflegen!« Er brüllte dies offenbar in heller Wut.

»Die Unkosten werden Ihnen ja ersetzt werden«, erwiderte jemand ebenfalls auf Englisch.

»Hol der Teufel die Scherereien, die das wieder gibt! Ich will es von Ihnen schriftlich haben, dass mir die Verpflegung der Halunken erstattet wird, sonst jage ich die Brut einfach an Land!«

»Aber gewiss, bitte, ich schreibe diese Zusicherung sofort.«

Dann Stille. Harst flüsterte: »Der andere ist ein Polizeibeamter von hier. Tompson wollte ihm die gefangenen Kulis überantworten, soll sie nun aber mit nach Singapur nehmen. Das kostet ihn natürlich eine Menge Proviant und deshalb …«

Da – abermals Tompsons Grogbass nebenan: »Gut denn. Ich bin zufrieden. ’n Abend, Master Primarieux.«

Wir hörten die Tür öffnen und schließen. Dann kam Tompson in die Schlafkabine, warf seinen nassen Ölmantel in eine Ecke und wollte wieder verschwinden.

»He, Tompson!«, flüsterte Harst. »Wir sind es, Harst und Schraut.«

»Alle guten Geister! Wie sind Sie denn wieder an Bord gelangt?!«

»Schreien Sie nicht so, Käpt’n. Wir wollen die blinden Passagiere spielen. Wir konnten uns nicht von Ihnen trennen. Sie fluchen so eigenartig, dass ich einiges davon lernen möchte.«

Tompson hatte die kleine Tür nun ins Schloss gedrückt.

»He, he, Sie scheinen ja bei Laune zu sein, bester Harst! Na, zunächst einmal: Herzlich willkommen! Verdammte Finsternis – ich finde Ihre Hand nicht, aber ich möchte sie Ihnen gern drücken! Schade, Ihre Kabine ist belegt. Ein Plantagenbesitzer mit seinem kranken Sohn, ein Baron de Saint-Lauchere, hat …«

»Wissen wir schon, Tompson. Wir wollen ja hier bei Ihnen bleiben. Kein Mensch darf ahnen, dass wir an Bord sind. Also lassen Sie auch den Steward hier nie herein. Ein paar Hängematten genügen uns als Betten.«

»Was hat Sie denn eigentlich wieder hergeführt? Ich bin mächtig gespannt darauf.«

»Nachher, Tompson. Schließen Sie uns jetzt bitte hier ein und erfinden Sie eine Ausrede gegenüber dem Steward, weshalb ihm dieser Raum versperrt bleibt. Sagen Sie, dass Sie hier wertvolle Post für Singapur aufbewahren, die Ihnen ein hiesiger Kaufmann übergeben hätte.«

»Wird gemacht. Ich werde auch für ein Abendessen für Sie beide sorgen – unauffällig! Um elf Uhr gehen wir wieder in See. Sobald Lakon hinter uns liegt, verhänge ich die Kajütenfenster und dann feiern wir in aller Stille Wiedersehen.«

Es war nun so weit: Thompson schloss die Verbindungstür auf und ließ uns in die behagliche Kajüte ein. Der runde Tisch war bereits gedeckt. Ein Spirituskocher stand darauf. Der Kessel dampfte.

Tompson reichte uns die Hand und flüsterte: »Also nochmals willkommen! Setzen wir uns!«

Harst hatte Mitleid mit der wohlberechtigten Neugier des Kapitäns und erzählte ihm bald darauf die Geschichte von dem Menschen, der in Lakon in den Kessel geklettert war.

»Großartig – verdammt großartig!«, meinte Tompson schmunzelnd. »Dann haben wir das Weibsbild also fest!«

Wir taten den kalten Speisen alle Ehre. Erst um ein Uhr dachten wir ans Zubettgehen. Nachdem die beiden Hängematten im Schlafraum für uns gespannt waren, begannen Tompson und ich, uns zu entkleiden. Harst meinte: »Ich will noch eine Weile aufs Vorschiff. Ich möchte den Kessel beobachten. Vielleicht zeigt sich der Verbündete der Malcapier dort. Sie sagten doch vorhin, dass zwölf neue Passagiere in Lakon an Bord gekommen sind. Aus diesen möchte ich den richtigen herausfinden – eben den Freund der Malcapier. Vielleicht sind es auch mehrere Freunde. Unter den zwölf befinden sich ja fünf Chinesen, wie Sie sagten.«

Harst verschwand, nachdem Tompson ihn noch gewarnt hatte, sich vor der Wache nicht sehen zu lassen.

Er kehrte erst zurück, als ich es schon aufgeben wollte, bis zu seiner Rückkehr munter zu bleiben. Tompson schnarchte längst.

Im Schlafraum brannte nur eine kleine Petroleumpendellampe. Trotzdem bemerkte ich, dass Haralds Gesicht auffallend nachdenklich aussah.

»Nun?«, fragte ich. »Erfolg gehabt?«

»Ja, mein Alter«, flüsterte er zurück. »Trotzdem bin ich etwas enttäuscht, besser gesagt beunruhigt, denn der Helfershelfer der Kesselreisenden ist eine Frau!« Ich kam unbemerkt hinter den Kessel und schmiegte mich neben eines der Balkenstücke, auf denen er liegt. Nach einer halben Stunde hörte ich ein schwaches Geräusch über mir. Zu sehen war nichts. Es war draußen völlig finster. Ich richtete mich auf. Ich vernahm weitere Geräusche. Der Deckel wurde losgeschraubt und dann hörte ich eine weibliche Stimme, die auf Englisch in den Kessel hinein fragte: ›Wie geht es dir?‹

Die Antwort konnte ich nicht hören, aber die Frau, die oben auf dem Kessel ausgestreckt liegen musste, flüsterte: ›Gut, ich verschwinde sofort wieder. Hier hast du eine Flasche Trinkwasser. Auf Wiedersehen. Es wird schon alles gut enden.‹

Das war das gesamte Gespräch, mein Alter. Ich passte nun scharf auf, als die Frau vom Kessel herabstieg, und stellte fest, dass sie recht klein war. Sie muss eine Europäerin sein, eine Engländerin.«

»Hm, und du bist jetzt nicht mehr so fest davon überzeugt, dass die Person im Kessel die Malcapier ist?«, meinte ich gespannt.

»Wer soll es sonst sein?« Morgen muss Thompson diese Frau herausfinden, die ich vorhin belauschte. Sie kann nur in Lakon zugestiegen sein. Wenn wir wissen, wer sie ist, dann …«

Er beendete den Satz nicht, begann sich auszuziehen und flüsterte schließlich: »Gute Nacht! Diese Lagerstätte ist nicht sehr bequem!«

Gegen Morgen wurde Tompson geweckt. Der Erste Offizier meldete, dass im Hinterschiff Brandgeruch zu spüren sei.

Tompson fuhr fluchend in die Kleider und eilte davon. Draußen goss es noch immer in Strömen. Fahl und düster lag das Meer im Regennebel da. Harst und ich standen am kleinen geöffneten Fenster unserer Schlafkabine und atmeten die kühle Luft tief ein.

Es wurde immer heller draußen. Tompson kam für ein paar Sekunden zu uns und erzählte, dass im Laderaum einige Baumwollballen durch Selbsterhitzung in Brand geraten waren. Die Sache sei nicht weiter gefährlich, aber sie verursache Arbeit. Alle Mann seien jetzt beim Löschen beschäftigt.

Dann ging er wieder.

Vielleicht zehn Minuten später gab es plötzlich Lärm an Deck, dann auch Schüsse und Geschrei.

Harst hatte meinen Arm mit einem harten Griff gepackt.

»Die Kulis! Ich wette, man hat die Wachen beseitigt und die Bande herausgelassen! Da – wieder Schüsse!«

»Man? Wer denn?«

»Der Kesselreisende, oder besser: die Kesselreisende!«

Ich nickte und begriff alles. »Ja, es sind die Verbündeten der Malcapier! Sie wird die gelbe Bande …«

Abermals war draußen ein wahnwitziges Geheul und Gebrüll zu hören, als wären dort alle Teufel der Hölle zu einem Rendezvous zusammengekommen.

»Es ist früher passiert, als ich dachte«, murmelte Harst, als es etwas ruhiger geworden war. »Denn ich habe mit dieser Teufelei gerechnet, glaubte allerdings, sie rechtzeitig verhindern zu können. Es lag ja so nahe, dass die Malcapier versuchen würden, die Kulis für ihre Zwecke weiter zu benutzen. Sie dürfte jetzt Herrin des Raddampfers sein. Der Lärm draußen ist verstummt. Hoffentlich ist nicht zu viel Blut geflossen. Wir wären der Besatzung natürlich zu Hilfe geeilt, aber Thompson hat uns hier ja eingeschlossen. Und die Tür einer Kapitänskajüte ohne Axt aufzusprengen, ist unmöglich.«

Er hatte immer langsamer gesprochen. Offenbar waren seine Gedanken seinen Worten weit voraus.

Nun eine kurze Pause. Dann sehr hastig: »Schraut – ein Gedanke! Wir dürfen der Malcapier nicht in die Hände fallen, wenn wir uns und den Dampfer retten wollen. Wenn wir hier in Tompsons Schlafkabine bleiben, sind wir in spätestens einer halben Stunde die Gefangenen dieses Weibes, von dem wir fraglos keine Schonung zu erwarten haben. Schnell, raus mit allem aus unseren Koffern, was darauf hindeutet, dass sie uns gehören! In die See damit! Was wir in den Taschen bergen können, nehmen wir mit!«

»Aber wir können hier doch nicht hinaus!«, wandte ich ein.

»Wir müssen! Tompson hat mit Sicherheit einen Reserveschlüssel zur Tür in seinem Schreibtisch verwahrt. Ich werde ihn schon finden. Da – ein neuer Platzregen! Der kommt uns wie gerufen! Fix, mein Alter, nur fix!«

Er verschwand in der Wohnkajüte. Drei Minuten später erschien er wieder.

»Ich habe den Schlüssel! Schnell, packen wir noch die Reste der gestrigen Abendmahlzeit zusammen. Wir werden sie in unserem Versteck brauchen können.«

»Und dieses Versteck?«

»Der Kessel ist unser Versteck! Er ist jetzt ja leer. Die Malcapier hat dieses Quartier aufgegeben.«

Häufig rannten Leute draußen im Kajütengang auf und ab. Nun wurde an der Tür gerüttelt. Eine quäkende Chinesenstimme verlangte in miserablem Englisch, dass die Tür geöffnet würde.

Wir rührten uns nicht und der Kerl verschwand.

»Vorwärts!«, meinte Harst. »Ein Va-banque-Spiel bleibt es ja, sich hier herauszuwagen. Aber es geht nicht anders! Wir müssen es riskieren. Da – der Regen ist noch stärker geworden.«

Er öffnete die Tür einen Spalt, lugte hinaus und winkte mir zu. In dieser Sintflut konnte man keine drei Schritte weit sehen. Wir krochen auf allen vieren dem Vorschiff zu. Harst war immer ein paar Meter voraus.

Da – ein Chinese war über Harst gestolpert und schlug lang hin.

Harst hatte ihn sofort an der Kehle. Ein Hieb mit dem Pistolenkolben, und der Kerl war bewusstlos.

Weiter ging es. Endlich sahen wir vor uns etwas Dunkles, Massiges, Langgestrecktes: der Dampfkessel!

Wir kauerten uns darunter. Dann schwang sich Harst auf das zwei Meter hohe Ungetüm hinauf. Auch ich kam glücklich nach oben, streckte mich im Reitsitz lang hin, um mit dem Oberkörper nicht zu deutlich sichtbar zu sein.

Harst arbeitete an den Schrauben des Deckelverschlusses herum. Mein Kopf lag dicht vor dem Deckel. Auf der anderen Seite befand sich Harst, sodass wir uns bequem etwas zuflüstern konnten.

»So, offen!«, meinte Harst. Er hob den schweren, ovalen Eisendeckel hoch und schlug ihn zurück.

»Zuerst du!«, raunte er mir aufatmend zu. »Wir haben es geschafft! Wir sind in Sicherheit!«

Ich ließ die Beine in das Loch gleiten, rutschte tiefer und tiefer, hielt mich am Rand fest, sprang dann die kurze Strecke hinab und hatte bald Boden unter den Füßen.

Doch dann kam die Überraschung!

Ein Paar Hände glitten mir an Brust und Rücken entlang und suchten meinen Hals.

Ich wollte schreien, Harst warnen.

Zu spät! Mit einer Kraft, die selbst für einen Athleten ausgereicht hätte, wurde mir die Kehle zugedrückt. Dann riss mich der Unsichtbare zur Seite. Ich schlug mit dem Hinterkopf an die Kesselwand und verlor das Bewusstsein.

Harst hatte infolge des Platzregens das Dröhnen des Kessels bei meinem Aufprall nur ganz undeutlich gehört und keinerlei Argwohn geschöpft, wie er mir später sagte.

Ihm erging es dann genauso wie mir. Kaum hatte er den Kesselboden erreicht, bekam er einen Hieb gegen die Schläfe, der ihn besinnungslos niederstreckte.

Meine Bewusstlosigkeit war nur von kurzer Dauer. Ich kam zu mir, erinnerte mich sofort an die letzten Vorgänge und schlug die Augen auf.

Ich lag halb aufrecht da, mit der gewölbten Kesselwand als Rückenlehne. Es gelang mir auch, meine Gedanken rasch auf das zu vereinen, was um mich herum vorging. Ich sah, dass auf einem kleinen Koffer eine elektrische Lampe jener größeren Art stand, deren Batterie bis zu 50 Stunden Brenndauer hat. Im Lichtkegel dieser Lampe sah ich Harst lang auf dem Boden liegen. Neben ihm kniete mit dem Rücken zu mir ein breitschultriger, europäisch gekleideter Kerl mit einer dunklen Reisemütze auf dem Kopf. Von dessen Gesicht konnte ich nichts erkennen. Der Fremde hielt gerade Harsts Brieftasche in der Hand, blätterte darin, zog dies und das an Papieren heraus, brummte vor sich hin, leuchtete Harst dann ins Gesicht.

Nun verstand ich, was der Mann im Selbstgespräch murmelte: »Teufel, ob es wirklich ein deutscher Detektiv ist?! Na, dann hätte ich ja einem Kollegen übel mitgespielt! Wer hätte auch denken können, dass gerade …«

Das Weitere konnte ich nicht verstehen. Der Mann hatte sich der englischen Sprache bedient.

Und Kollege hatte er gesagt!

Da wandte er den Kopf nach links und ich sah ein scharf geschnittenes Profil, ein bartloses, hageres Gesicht mit einer kühnen, leicht gebogenen Nase und einer breiten, massigen Kinnpartie.

Das war niemals die verkleidete Eugenie Malcapier. Das war ein Detektiv, dessen Schauspielergesicht seinen Beruf verriet.

Inzwischen war mir auch bewusst geworden, dass ich gefesselt war. Meine Handgelenke waren übereinander gebunden und lagen in meinem Schoß. Ein Strick hielt sie am Leib fest, der hinten im Rücken verknotet sein musste.

Ich hielt es nun doch für angebracht, mich zu melden.

»Einen Augenblick, Master«, sagte ich leise auf Englisch.

Der Mann drehte sich ganz gemächlich um. Er hielt die Laterne in der linken Hand und beleuchtete mich. Er wollte etwas sagen, kam jedoch nicht dazu, denn Harst, der sich nur ohnmächtig gestellt hatte und bereits vor Minuten das Bewusstsein wiedererlangt hatte, meldete sich.

»Hier scheint ein großer Irrtum vorzuliegen«, erklärte er und richtete sich halb auf, obwohl auch er gefesselt war. »Mein Name ist Harald Harst. Und weil Sie, Master, soeben den Ausdruck Kollege im Selbstgespräch fallen ließen, dürfte es zweckmäßig sein, dass wir die Sachlage schnell klären.«

Er setzte sich völlig aufrecht.

Der Fremde stellte erst die Laterne weg, fasste dann leicht an die Mütze und sagte:

»Detektivinspektor Jobster aus Singapur. Es tut mir sehr leid, dass ich die Herren so grob behandelt habe. Ich kann nur um Entschuldigung bitten. Die Sachlage ist bereits geklärt.«

Er löste unsere Fesseln. Harst reichte ihm die Hand.

»Ihren Namen kenne ich, Master Jobster. Vor zwei Monaten haben Sie in Singapur den Mörder des Admirals Stevenpole entdeckt. Es stand in den Zeitungen. Der Fall war sehr merkwürdig.«

Jobster seufzte und machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.

»Master Harst, ich hatte damals den Falschen gefasst. Wir mussten den Kerl wieder laufen lassen. Der wahre Mörder wurde noch nicht gefunden. Aber wir setzen uns nun wohl besser bequem hin und besprechen alles in Ruhe. Darf ich den Herren etwas anbieten? Zigarren, Zigaretten, Cognac, etwas Essbares – ich bin mit allem versehen!«

Harst hatte gegen einen Cognac nichts einzuwenden.

»Sie haben sich ja tadellos verproviantiert«, meinte er gut gelaunt.

»Das musste ich wohl. Ich wollte unter Umständen bis Singapur in diesem Versteck bleiben.«

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