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Die Gespenster – Vierter Teil – 32. Erzählung

Die Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Vierter Teil

Zweiundreißigste Erzählung

Das Kind des Baruch Wesel in Breslau

Auch in Breslau fehlte es im Winter des Jahres 1798 nicht an frommen Menschen, die bereit waren, einen Scheintoten zu ermorden. Es war die Scheinleiche eines jüdischen Säuglings, der erst vor wenigen Tagen das Licht der Welt erblickt hatte, die man lebendig begraben wollte, wenn nicht die zufällig einbrechende Nacht dies verhindert hätte.

Die Frau des Baruch Wesel kam in der Nacht vom 1. zum 2. November des genannten Jahres mit Drillingen zur Welt. Eines der drei Kinder starb vierundzwanzig Stunden nach der Geburt. Das Jüngste war zwar schwächlich, lebte aber bis zum 13. vollkommen gesund. Am 14. begann es jedoch zu kränkeln und verfiel in einen dem Tod ähnlichen Schlaf. Der herbeigerufene Krankenwärter des Hospitals erklärte es für tot. Nur die bereits eingetretene Nacht verhinderte, dass es nicht gemäß dem bekannten jüdischen Religionsgebrauch in derselben Stunde begraben wurde.

Indessen behandelte man das scheinbar tote Kind wie ein wirklich Gestorbenes. Trotz der Novemberkälte legte man es im bloßen Hemd auf den Boden und bedeckte es mit einem Betttuch.

Im selben Zimmer befand sich auch das dritte, völlig gesunde Kind in einer Wiege. Das Aufschreien eines Kindes weckte die Wärterin. Weit entfernt davon, auch nur zu ahnen, dass dieses klägliche Wimmern von dem auf dem Boden liegenden, totgeglaubten Kind herrühren könnte, lief die Frau zu dem Kind in der Wiege. Als sie dieses im sanften Schlaf erblickte, ging sie ruhig wieder zu Bett. Ein erneutes Wimmern weckte sie erneut. Sie sprang auf und eilte wieder zur Wiege. Dass das Wiegenkind so ruhig und fest schlief, erstaunte, verwirrte und entschloss sie, obwohl sie noch schlaftrunken war.

Zum Glück ertönte das Jammergeschrei des totgeglaubten Kindes nun zum dritten Mal. Sie stutzte äußerst überrascht, denn aus dieser Gegend des Zimmers hatte sie nicht mit den Tönen eines lebendigen Wesens gerechnet. Vernünftigerweise eilte sie dem fast schon ganz erstarrten, längst erkalteten Kind rasch zu Hilfe und legte es in ein warmes Bett. Ein Arzt wurde geholt und das arme Wesen kehrte zwar ins Leben zurück, starb aber nach wenigen Tagen; zweifellos an den Folgen der Erkältung, der es als Leiche ausgesetzt war und welche die Natur eines ohnehin schwachen Säuglings nicht zu übertragen stark genug war.

Glücklicherweise wurde dieser Todesfall zum Anlass genommen, die übereilten Beerdigungen der jüdischen Bürger überhaupt und in Schlesien insbesondere öffentlich zur Sprache zu bringen. Die obrigkeitliche Behörde zog sie in humane Betrachtung. Mehrere jüdische Gemeinden in Schlesien erklärten sich für die Abschaffung der frühen Beerdigungen. Sie baten die Schlesische Kameralbehörde jedoch, nicht sie einzeln dazu anzuhalten, sondern diesen Missbrauch durch ein allgemeines Landespolizeigesetz im ganzen preußischen Staat abzuschaffen, um alles Ärgernis zu vermeiden.

Tatsächlich erließ die Königlich Preußische Breslauische Kriegs- und Domainenkammer am 12. Dezember 1799 ein Zirkular an ihre sämtlichen Land- und Steuerräte, welches die endgültige Abschaffung der frühen Beerdigungen bei den jüdischen Gemeinden betraf. Dieses Zirkular ehrt den Geist unserer humanen Zeit und wird bis in die späteste Zukunft die wohltätigsten Folgen haben.

Dieses Verbot gründet sich auf den § 476 des 11. Titels und den § 692 des 20. Titels des Allgemeinen Landrechts.

Es wurde von der Landespolizei festgesetzt, dass sich alle jüdischen Glaubensgenossen den diesbezüglich feststehenden gesetzlichen Vorschriften ebenso wie die Christen unterwerfen mussten.

Demzufolge durfte keine jüdische Leiche vor Ablauf des dritten Tages nach dem Tod begraben werden, bevor die untrüglichen Zeichen der wirklichen Fäulnis und allgemeinen Auflösung eingetreten waren.

»Wer überführt werden kann«, heißt es in diesem wohltätigen Dekret, »daran schuld zu sein, dass die Beerdigung früher und vor Eintritt untrüglicher Todeszeichen geschehen ist, verwirft die im 778. Paragrafen des 20. Titels des zweiten Teils des Allgemeinen Landrechts festgesetzte Gefängnis- und Festungsstrafe.«

Und zwar von Rechts wegen – könnte man hinzufügen, seitdem ein in den jüdischen Schriften belesener Gelehrter in einem Schreiben aus Groß-Glogau bündig und unwiderlegbar erwiesen hat, dass die dreitägige Aufbewahrung und Bewachung der Toten nicht nur den talmudischen Gesetzen nicht zuwider ist, sondern in ihnen begründet ist.

Einer dieser unumstößlichen Beweise ist so einleuchtend, dass er trotz seiner Kürze hier nicht fehlen darf.

»Man gehe hinaus zur Grabstätte«, heißt es in den Talmudischen Schriften, »und bewache die Toten drei Tage lang.«

Es geschah, dass ein solcher Bewachter, der nur scheintot war, noch 25 Jahre lebte und erst danach wirklich starb. Ein anderer zeugte noch fünf Kinder und starb dann.

Was soll man dazu sagen, wenn Rabbiner, denen die Aussprüche des Talmuds bekannt sind und die ihnen sogar heilig sein müssen, es sich herausnehmen, Mitglieder ihrer Nation zu verunglimpfen und zu verketzern, die lediglich das einführen wollen, was der Talmud mit dürren Worten gutheißt? Was soll man dazu sagen, wenn Unbiegsamkeit und hartnäckiger Dünkel sich erdreisten, mit Menschenliebe zu spielen?

Nur der Gedanke kann das besorgte Gemüt des Menschenfreundes beruhigen, dass in einem wohlgeordneten Staat, in dem unter anderem auch für eine gute medizinische Versorgung gesorgt ist, die weise Regierung sich weder durch die Gründe des Talmuds noch durch die Sophistereien der Rabbiner noch auch durch das Geschrei der einen oder der anderen Partei bestimmen lässt, sondern durch das, was die Weisheit und Staatsordnung für gut erkennen und empfehlen.

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