Der Welt-Detektiv – Band 12 – 6. Kapitel
Der Welt-Detektiv Nr. 12
Das Grab im Moor
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin
6. Kapitel
Der verräterische Gummiabsatz
Sherlock Holmes und Jonny Buston waren derweil auch nicht untätig gewesen. Mit ungebrochener Energie suchten sie nach dem Rolls-Royce, mit dem in der fraglichen Nacht die drei Toten aus der Leichenhalle geschleppt worden waren.
Bei der Beschattung der übrigen Rolls-Royce-Wagenbesitzer stießen sie auch auf Mr. Jonathan Swifter. Dieser war jedoch von vornherein über jeden Verdacht erhaben. Sherlock Holmes kannte den Mann seit vielen Jahren und war ihm oft begegnet. Dennoch war der Weltdetektiv entschlossen, auch über ihn an Ort und Stelle Erkundigungen einzuziehen.
Jonathan Swifter bewohnte im Westen eine feudale Villa, die von einem parkähnlichen Garten umschlossen war. Hier befand sich auch die Garage, in der der Rolls-Royce seinen Platz gefunden hatte. Obwohl Swifter als Bankier über ein großes Vermögen verfügte und mit achtunddreißig Jahren noch ein vergleichsweise junger Mann war, hatte er sich noch nicht zur Heirat entschließen können. Er führte einen großen Haushalt, den seine um drei Jahre ältere Schwester leitete. Ein Kammerdiener namens Cred Solny begleitete ihn stets, auch auf seinen größeren Fahrten und Reisen im eigenen Flugzeug, wodurch er in London den Beinamen eines fliegenden Bankiers erhalten hatte.
Es war nahezu lächerlich, auch nur einen Augenblick zu glauben, Mr. Swifter könne bei dem Raub aus der Morgue seine Hand im Spiel haben. Aber Sherlock Holmes überging ihn bei seinen Nachforschungen dennoch nicht. Swifter zählte zu den zweiundzwanzig Personen, die einen Rolls-Royce besaßen. Diese Tatsache genügte Holmes, um sich den fliegenden Bankier näher anzusehen.
Gemeinsam mit Jonny verschaffte er sich ungesehen Zutritt zu der Garage. Richtig, da stand der luxuriöse Kraftwagen! Doch plötzlich nahm etwas anderes die Aufmerksamkeit des Weltdetektivs in Anspruch: Im Schein der Taschenlampe hatte er auf dem asphaltierten Boden der Garage Spuren von Gummiabsätzen entdeckt. Sofort kniete er nieder und wusste wenige Minuten später, dass es die gleichen waren, wie jene, die er vor der Morgue entdeckt hatte. Das war eine Feststellung, die nicht mit Gold aufzuwiegen war! Noch einmal verglich er die Maße. Ja, es hatte seine Richtigkeit.
Nunmehr sah er sich nicht mehr gezwungen, daran zu zweifeln, dass es Swifters Kraftwagen war, der die Geraubten weggeschafft hatte. Aber was konnte den Bankier zu einer solch frevlerischen Tat bewegen? Ein Bankier mit Millionen, Flugzeug und Auto als Leichenräuber? Geradezu ein lächerlicher Gedanke! Und dennoch: Hier war der Beweis! Swifters Wagen war derjenige, der für die Tat infrage kam! Hm, Swifters Wagen! Was, wenn Swifter selbst gar keine Ahnung davon hatte, wozu sein Wagen vor wenigen Nächten benutzt worden war?
Eine Fülle neuer Vermutungen durchströmte Sherlock Holmes. Was, wenn zum Beispiel der Chauffeur den Wagen für eine heimliche Schwarzfahrt benutzt hatte? Ließ sich das nicht anhand der Fußspuren feststellen? Es war, als ob eine unbekannte Macht die Nachforschungen des Weltdetektivs beschleunigen wollte, denn plötzlich näherten sich schnelle, leise Schritte der Garage.
»Fort!«, zischte Sherlock Holmes seinem Begleiter zu. Im nächsten Augenblick schwangen sie sich auch schon, die Taschenlampe verlöschend, aus dem seitlichen Fenster in den Garten hinaus. Gleich darauf betrat ein untersetzter Mann die Garage. Er blieb eine Weile vor dem Wagen stehen und betrachtete ihn aufmerksam. Dann murmelte er etwas Unverständliches vor sich hin und begann, den Benzinbehälter aufzufüllen. Es war der Chauffeur, Mr. Swifters! War eine nächtliche Ausfahrt geplant?
Gespannt verfolgte Sherlock Holmes den Vorgang. Nach etwa einer halben Stunde verließ der Mann die Garage jedoch wieder und wandte sich dem Seitengebäude zu, in dem sich die Räume der Bediensteten befanden. Anscheinend begab er sich zur Ruhe. Noch einmal schwang sich Sherlock Holmes in die Garage hinein. Die Zahl der Abdrücke hatte sich vermehrt! Es waren dieselben wie zuvor. Damit war der Beweis erbracht, dass sich unter den drei Personen, die den Raub in der Morgue begangen hatten, auch dieser Mensch, Swifters Chauffeur, befunden hatte. Swifters Chauffeur war der eine, Jack Petray der zweite. Wer war der Dritte? Und welche Absicht lag dem geheimnisvollen Verbrechen zugrunde?
Sherlock Holmes stand lange auf ein und demselben Fleck. Seine Gedanken beschäftigten sich unaufhörlich mit dem Fall. Aber so sehr er sich auch abmühte, eine Erklärung fand er nicht. In dieser Nacht – es ging bereits auf ein Uhr – war nichts mehr zu unternehmen. Überdies wollte er erst abwarten, welche Nachrichten Harry Taxon brachte.
Reicher an Material als zuvor verließen die beiden Männer Mr. Swifters Grundstück und erreichten eine halbe Stunde später die Baker Street. Hatte Sherlock Holmes gehofft, einen Lichtschein in der Wohnung zu sehen, der auf Harry Taxons Anwesenheit schließen ließ, so sah er sich getäuscht: Alle Fenster lagen in tiefster Finsternis.
»Entweder hat sich Harry bereits niedergelegt«, murmelte Sherlock Holmes, »oder er ist noch gar nicht zurückgekehrt!«
Als sie ihre Wohnung betraten, sahen sie, dass Letzteres der Fall war. Sie aßen eine Kleinigkeit und warteten, aber Harry kam nicht. Einmal schrillte das Telefon – es war bereits drei Uhr vorüber. Doch es war nicht Harry Taxon, der eine Nachricht übermittelte, sondern Inspektor Tyst von Scotland Yard. Er meldete, dass er soeben zwei Männer verhaftet habe, die sich in einer Kneipe durch allerlei Reden, die sich auf Leichendiebstahl bezogen, verdächtig gemacht hätten.
Sherlock Holmes horchte auf. Sollte Tyst wirklich …?
»Hm«, machte er. »Was tragen die Verhafteten für Schuhwerk?«
»Stiefel, die halb zerrissen sind«, gab Tyst eilig zurück.
»Haben Sie bereits die Größe der Absätze gemessen?«
»Nein, aber einen Augenblick, ich werde das Versäumte sogleich nachholen.«
Ein Weilchen blieb es in den Drähten still, dann erklang wieder die Stimme des Inspektors. Er nannte Maße, die Sherlock Holmes Kopfschütteln erregten.
»Ich taxiere, dass die beiden Männer mit der Geschichte genauso wenig zu tun haben wie Sie und ich«, meinte er dann. »Aber halten Sie die Burschen ruhig über Nacht fest. Morgen werden wir weitersehen.«
Und wieder strich eine Stunde dahin. Sherlock Holmes konnte sich nun einer immer heftiger werdenden Unruhe nicht erwehren. Warum kam Harry nicht zurück? Warum telefonierte er nicht?
»Wir warten noch bis halb sechs!«, murmelte Sherlock Holmes. »Wenn wir bis dahin keine Nachricht haben, fahren wir zu Petrays Haus.«
Jonny nickte stumm. Die Minuten krochen wie eine Ewigkeit dahin. Zehn Minuten vor halb sechs schrillte die Glocke des Telefons zum zweiten Mal. Im Nu war Sherlock Holmes am Apparat. Aber wieder sah er sich getäuscht. Es meldete sich die Direktion des Flughafens.
»Mr. Holmes persönlich?«, fragte eine Stimme.
»Ja, ich bin es. Was kann ich für Sie tun?«
»Erschrecken Sie nicht. Mr. Holmes, vor etwa zehn Minuten fanden Arbeiter auf der zum Flugplatz führenden Chaussee einen bewusstlosen Menschen. Man brachte ihn hierher und stellte fest, dass er eine, wenn auch nicht schwere, so aber doch immerhin stark blutende Wunde am Kopf hatte. Ich kontrollierte seine Tasche und fand dabei einen amerikanischen Pass auf den Namen Harry Taxon.«
Sherlock Holmes schloss für einige Sekunden die Augen. Dann rief er gefasst:
»Verständigen Sie sofort einen Arzt. Ich komme sogleich hinaus!« Er legte den Hörer zurück, dann verließ er im Sturmschritt mit Jonny das Haus.
Harry war bewusstlos und mit einer Wunde in der Nähe des Londoner Flugplatzes aufgefunden worden! Was für ein Rätsel waltete hier? Aber nun war keine Zeit für unnütze Vermutungen. Mit kurzen Worten informierte er Jonny über das Geschehene. Dann verließen sie im Sturmschritt die Wohnung.
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