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Die Geheimnisse Londons – Band 1- Kapitel 7

George W.M. Reynolds
Die Geheimnisse Londons
Band 1

Kapitel 7
Das Boudoir

Es war der Morgen nach den im letzten Kapitel geschilderten Ereignissen.

Die Szene wechselt zu einer schönen kleinen Villa in der Umgebung von Upper Clapton.

Dieser charmante Rückzugsort bestand aus einem zweistöckigen Hauptgebäude und zwei Flügeln mit jeweils nur einer Wohnung. Er war aus gelben Ziegeln gebaut, die ihre ursprüngliche Farbe bewahrt hatten, da das Anwesen zu weit von der Metropole entfernt war, um von deren Rauchausdünstungen beeinträchtigt zu werden.

Die Villa stand inmitten eines kleinen Gartens, der im französischen Stil Ludwigs XV. wundervoll angelegt war. Um sie herum befand sich ein Hain aus immergrünen Bäumen, nur unterbrochen von der Allee, die zur Eingangstür des Wohnhauses führte. Dieser Hain bildete einen vollständigen Kreis und begrenzte den Garten. Das gesamte Gelände war durch einen regelmäßig angeordneten, weiß gestrichenen Lattenzaun geschützt.

Das etwa vier Morgen große Miniaturreich zählte zu den schönsten Orten in der Umgebung von London. Dahinter erstreckten sich grüne Felder, die so freundlich und gepflegt waren wie in der Toskana.

Vor der Villa befand sich eine kleine Rasenfläche, in deren Mitte ein Becken mit klarem, durchsichtigem Wasser lag. Auf dessen Oberfläche schwammen zwei edle Schwäne und andere seltsame Wasservögel.

Von Zeit zu Zeit wurde die Stille des Morgens durch das Bellen mehrerer Jagdhunde unterbrochen. Sie waren im hinteren Teil des Gebäudes in Zwingern untergebracht, die sauberer und gepflegter waren als die Behausungen vieler Millionen Christen.

Und doch mangelte es dem Besitzer dieser Villa nicht an Nächstenliebe. Zeugnis dafür waren die arme Frau und ihre beiden Kinder, die gerade aus den Dienstbotenzimmern kamen und ein Bündel mit Lebensmitteln und anderen notwendigen Dingen trugen.

An der Tür eines Stalls sah man einen Stallburschen von einer reinrassigen Fuchsstute absteigen, die gerade von einem Ausritt zurückgekehrt war. Er warf einen Blick voller Stolz und Zuneigung auf sie.

Die Fenster der Villa waren mit Blumen in kunstvoll gestalteten Töpfen und Vasen geschmückt und vor den Fenstern der Zimmer im ersten Stock hingen Käfige mit wunderschönen Singvögeln.

Wir möchten die Aufmerksamkeit des Lesers auf das Innere eines dieser Zimmer lenken. Es war ein elegantes Boudoir, doch dieser Name war kaum gerechtfertigt, denn unter einem Boudoir verstehen wir etwas vollkommen Feminines, während sich in diesem Zimmer Gegenstände für Männer und Frauen sowie seltsamerweise durcheinandergewürfelte Kleidung befanden.

Auf dem Toilettentisch lagen alle Utensilien, die zur Verschönerung und Verzierung weiblicher Schönheit notwendig sind. Über einen Stuhl waren achtlos ein Mantel, eine Weste und eine Hose geworfen. Ein kleines Paar Lackleder-Wellingtonstiefel stand neben zierlichen Marokko-Schuhen, an denen Sandalen befestigt waren. In einem riesigen, halb geöffneten Kleiderschrank waren wundervolle Kleider aus Seide, Satin und anderen kostbaren Stoffen zu sehen. An einer Reihe von Haken hingen ein scharlachroter Jagdmantel, eine Schießjacke, eine Jockey-Mütze und andere Kleidungsstücke, die mit Feldsportarten und männlichen Freizeitbeschäftigungen in Verbindung stehen. In einer Ecke des Schranks waren Sonnenschirme, Florette, Spazierstöcke, Dandy-Stöcke und Jagdpeitschen wild durcheinander gestellt. Und doch wirkte das Durcheinander dieser verschiedenen und unvereinbaren Gegenstände so geordnet, als hätte eine geschickte Hand sie absichtlich so angeordnet, dass sie ins Auge fielen. So sollte der Eindruck entstehen, dass dieses elegante Boudoir von einem Mann mit seltsamen weiblichen Vorlieben oder einer Frau mit außergewöhnlichen männlichen Vorlieben bewohnt wurde.

In diesem Boudoir gab es keine pompöse oder prunkvolle Zurschaustellung von Reichtum. Seine Einrichtung, wie die der gesamten Villa, zeugte von Kompetenz und Leichtigkeit, von Eleganz und Geschmack, aber ohne unnützen Luxus oder verschwenderische Ausgaben.

Das Fenster des Boudoirs stand halb offen. In einer Kristallschale mit Wasser schwammen Gold- und Silberfische. Sie stand auf einem Tisch in der Nische des Fensters. Das Zwitschern der Vögel hallte durch den Raum, der vom Duft süßer Blumen erfüllt war.

Neben dem Fenster stand ein französisches Bett, an dessen Kopf- und Fußende rosa Satineinfassungen herabfielen. In der Nähe der Decke hing ein vergoldeter Pfeil.

Es war jetzt neun Uhr und die Sonne strahlte goldenes Licht durch das halb geöffnete Fenster auf das üppige und weiche Sofa.

Eine Frau von großer Schönheit, offenbar etwa fünfundzwanzig Jahre alt, las in diesem Bett. Ihr Kopf ruhte auf ihrer Hand, ihr Ellbogen auf dem Kissen. Diese Hand war in einer Fülle üppiger, hellbrauner Haare vergraben, die über ihren Rücken, ihre Schultern und ihren Busen flossen. Sie verdeckten jedoch nicht vollständig die polierte Elfenbeinweißheit der prallen, hellen Haut.

Die bewundernswerte Rundung der Schultern, der schwanengleiche Hals und die exquisite Symmetrie der Brust waren selbst inmitten dieser üppigen und glänzenden Haare zu erkennen.

Eine hohe und breite Stirn, haselnussbraune Augen, eine vollkommen gerade Nase, kleine, aber vorstehende Lippen, strahlende Zähne und ein wohlgeformtes Kinn waren zusätzliche Reize, die die Anziehungskraft dieses entzückenden Bildes noch verstärkten.

Die gesamte Szenerie strahlte eine sanfte Sinnlichkeit aus: die Vögel, die Blumen, die Vase mit den goldenen und silbernen Fischen, die geschmackvolle Einrichtung des Boudoirs, das französische Bett und das schöne Geschöpf, das auf diesem Sofa lag, den Kopf auf den wohlgeformten und glatten Arm gestützt, dessen blendende Weiße kein neidischer Ärmel verdeckte.

Von Zeit zu Zeit hob das süße Geschöpf den Blick von seinem Buch und ließ ihn durch den Raum schweifen. Dies deutete zumindest auf einen nicht ganz unbeschwerten Zustand hin, wenn nicht gar auf seelische Unruhe. Hin und wieder zog auch eine Wolke über die Stirn, die der Inbegriff von Unschuld und Offenheit zu sein schien, und ein Seufzer erschütterte die von Sonnenstrahlen geküsste Brust.

Da wurde die Tür leise geöffnet und eine ältere Frau betrat den Raum. Sie war gut, aber schlicht gekleidet und hatte ein ruhiges und zurückhaltendes Auftreten.

»Mr. Stephens ist unten«, sagte die Dienerin. »Ich habe ihm gesagt, dass Sie noch nicht aufgestanden sind. Er sagt, er werde warten, bis Sie Zeit haben.«

»Ich weiß nicht, wie es kommt«, rief die Dame ungeduldig, »aber ich habe mich noch nie so wenig bereit gefühlt für den Besuch dessen, den ich als meinen Wohltäter betrachte. Ach, Louisa«, fügte sie hinzu, während eine Wolke ihr ganzes Gesicht überschattete, »ich habe das Gefühl, als käme einer dieser schrecklichen Anfälle von Niedergeschlagenheit auf mich zu, einer dieser furchtbaren Anfälle von Angst und Vorahnung, von Vorgefühlen des Bösen.«

»Beruhigen Sie sich bitte«, unterbrach sie die Dienerin mit freundlicher, flehender Stimme. »Denken Sie daran, dass die Wände Ohren haben, dass ein zu laut gesprochenes Wort Ihr Geheimnis verraten könnte und nur der Himmel weiß, was die Folge einer solch schrecklichen Entdeckung wäre!«

»Ja, es ist dieses schreckliche Geheimnis«, rief die Dame aus, »das mich mit den größten Befürchtungen erfüllt. Gezwungen, eine ständige Täuschung aufrechtzuerhalten, das Gefühl zu haben, eine lebende, atmende, sich bewegende Lüge zu sein, eine wandelnde Lüge; gezwungen, alle natürlichen Annehmlichkeiten zu unterdrücken, ja, sogar die liebenswerten Schwächen meines Geschlechts; beherrscht von einer zwingenden Notwendigkeit, gegen die es jetzt unmöglich ist, zu rebellieren – wie könnte ich da nicht Momente unaussprechlicher Qual erleben!«

»Sie müssen noch Geduld haben, nur noch ein paar Monate, drei kurze Monate. Das Ergebnis all dieser Ungewissheit, das Ende all dieser Angst, wird so vorteilhaft, so ungemein wichtig und wohltuend sein, wie man uns glauben machen will.«

»Das ist wahr: Wir müssen einem Mann glauben, der in all seinen Handlungen mir gegenüber so ernsthaft erscheint«, sagte die Dame nach einer kurzen Pause, in der sie in tiefe Gedanken versunken schien. »Aber warum hält er mich über die wahre Natur dieses großartigen Ergebnisses im Unklaren? Warum vertraut er mir nicht, obwohl ich ihm grenzenloses und bedingungsloses Vertrauen entgegenbringe?«

»Er befürchtet, dass ein unachtsamer Moment Ihrerseits das verraten könnte, was er uns als das Wichtigste, das Allerwichtigste, versichert«, antwortete die Hausangestellte in einem freundlich-ermahnenden Ton. »Und wirklich, mein liebes Mädchen«, fügte sie liebevoll hinzu, »verzeihen Sie mir, dass ich Sie so nenne …«

»Ah! Louisa, du bist meine liebste Freundin!«, sagte die Dame energisch. »Du und nur du hast mir in den viereinhalb Jahren, in denen dieser schreckliche Betrug bereits andauert, Mut gemacht. Deine Freundlichkeit …«

»Ich habe nur meine Pflicht getan und so gehandelt, wie es mir mein Herz gebot«, antwortete die Hausangestellte sanft. »Aber wie ich bereits sagte, bist du sehr unvorsichtig. Kannst du erwarten, dass Mr. Stephens dir die kleinsten Details eines Plans verrät, der …«

»Unvorsichtig!«, rief die Dame hastig aus. »Wie kann ich unvorsichtig sein? Befolge ich nicht alle seine Anweisungen, alle Ihre Ratschläge? Habe ich nicht sogar gelernt, mit dem Stallburschen in seiner Sprache über die Pferde und die Hunde zu sprechen? Galoppiere ich nicht auf meiner fuchsfarbenen Stute über das Land, während er mir auf seinem braunen Pferd folgt, als wären wir beide verrückt? Und dann sagen Sie, ich sei unklug, obwohl ich alles tue, um die Rolle, die ich übernommen habe, aufrechtzuerhalten? Abgesehen von diesen Ausritten, wie oft reise ich ins Ausland? Ein halbes Dutzend Namen umfasst alle meine Bekannten und niemand kommt jemals hierher! Dies ist in der Tat eine Einsiedlerbehausung! Wie können Sie behaupten, ich sei unklug?«

»Ohne diesen Raum zu verlassen«, begann Louisa mit einem Lächeln, »könnte ich …«

»Ah, die ewigen Vorwürfe gegen das weibliche Geschlecht!«, rief die Dame aus, zog mit ihrem schneeweißen Arm den Satinvorhang am Kopfende des Bettes zurück und blickte auf den Schrank, in dem die Frauenkleider aufbewahrt wurden. »Immer diese Vorwürfe! Ach! Ich würde sterben – ich könnte diese schreckliche Täuschung nicht ertragen –, wenn ich nicht von Zeit zu Zeit meine weiblichen Gefühle befriedigen würde! Glaubst du, ich könnte mich ganz und gar gegen die Natur auflehnen, ohne die Auswirkungen zu spüren? Und wenn ich gelegentlich meine Seele mit den für mein Geschlecht natürlichen Beschäftigungen beruhige, war ich dann jemals unklug? Wenn ich mein Haar so frisiere, wie es immer frisiert sein sollte, und eines dieser Seiden- oder Musselinkleider anziehe, nur um mich selbst im Spiegel zu betrachten – oh, was für eine verzeihliche Eitelkeit unter solchen Umständen! – War ich dann jemals so unvorsichtig, einen Fuß vor diese Zuflucht zu setzen, in dieses Boudoir, zu dem nur Sie Zutritt haben? Ziehe ich mich jemals an, wenn die Jalousien an den Fenstern hochgezogen sind? Nein, ich habe alles getan, was in meiner Macht steht, um meine Stimmung während dieser traurigen Prüfung aufrechtzuerhalten und den Charakter, den ich angenommen habe, zu bewahren. Aber wenn von mir verlangt wird, dass ich mein Geschlecht gänzlich vergesse und mich an die Kleidung eines Mannes klammere, wenn ich niemals – nicht einmal für eine Stunde am Abend – meiner Fantasie folgen und meine Seele erleichtern darf, indem ich die mir natürliche Kleidung wieder anlege – innerhalb dieser vier Wände, ungesehen von einer Seele außer Ihnen …?«

»Ja, ja, Sie sollen Ihren Willen haben«, unterbrach Louisa sie beruhigend.

»Aber Mr. Stephens wartet. Wollen Sie nicht aufstehen und ihn empfangen?«

»Es ist meine Pflicht«, sagte die Dame resigniert. »Er hat mich mit allem Komfort und Luxus umgeben, den man sich nur wünschen kann und der mit Geld zu kaufen ist. Und wie auch immer er letztendlich von diesem Vorgehen profitieren mag, in der Zwischenzeit bin ich ihm zu Dank verpflichtet.«

»Die Feinfühligkeit seines Verhaltens Ihnen gegenüber entspricht seiner Großzügigkeit«, bemerkte Louisa pointiert.

»Ja, trotz der Besonderheit unserer jeweiligen Position hat er mir vom ersten Moment unserer Bekanntschaft an kein einziges respektloses Wort oder einen einzigen respektlosen Blick zugeworfen. Er hält sich treu an seinen Teil der Vereinbarung, und ich werde mich ebenso gewissenhaft an meinen halten.«

»Sie sprechen weise und konsequent«, sagte Louisa. »Und das Ergebnis Ihres ehrenhaften Verhaltens gegenüber Mr. Stephens wird zweifellos eine Belohnung sein, die Ihr Glück für den Rest Ihres Lebens sichern wird.«

»Diese Hoffnung hält mich aufrecht. Oh, wie glücklich, dreifach glücklich werde ich sein, wenn die Zeit meiner Emanzipation gekommen ist und ich in einen entfernten Teil meines Heimatlandes oder in ein fremdes Land fliehen kann, um wieder die Kleidung meines Geschlechts zu tragen und ein Leben zu führen, das meiner Natur und meinem Geschmack entspricht. In Erwartung dieser goldenen Momente ziehe ich mich von Zeit zu Zeit in das undurchdringliche Geheimnis dieses Boudoirs zurück und kleide mich in die Gewänder, die ich liebe und die mir gehören. Und wenn dieses elysische Zeitalter gekommen sein wird, oh! Wie werde ich dann meine Gedanken mit Rückblicken auf diese langen, müden Wochen und Monate ablenken, in denen ich gezwungen war, Gewohnheiten zu lernen, die meinem Geschmack und meinen Gefühlen zuwiderlaufen? Wie werde ich eine Vorliebe für Pferde und Hunde vortäuschen, um die Aufmerksamkeit von meinem weiblichen Gesicht abzulenken? Wie werde ich jedes Wort, das über meine Lippen kommt, abwägen? Wie werde ich jede Haltung, die ich einnehme, studieren? Und wie werde ich den Beschäftigungen und Tätigkeiten, die mein Geist liebt, aufgeben?«

Die Dame warf sich zurück auf ihr Kissen und gab sich einer köstlichen Träumerei hin. Louisa versuchte einige Minuten lang, sie nicht zu stören. Schließlich murmelte sie etwas davon, dass sie »Mr. Stephens länger als gewöhnlich warten lassen« würde. Ihre Herrin stand, einem plötzlichen Impuls folgend, von ihrer Liege auf.

Dann folgte die geheimnisvolle Toilette.

Seltsam konstruierte Korsetts verliehen dieser exquisit geformten Gestalt so weit wie möglich das Aussehen einer männlichen Figur. Die Wölbung des leicht zusammengedrückten Busens wurde durch geschickt platzierte Polster kaum sichtbar gemacht, sodass die wellige Brust aufgefüllt und geglättet wurde. Die Position der Taille wurde gesenkt und all dies wurde erreicht, ohne dass die Person, die diese Verwandlung durchlief, Schmerzen oder Unbehagen empfand.

Der bis zum Hals zugeknöpfte, halb-militärische blaue Gehrock vervollständigte die Verkleidung. Da diese Art von Kleidungsstück immer etwas auffällig um die Brust herum ist, trug die Machart des Rocks wesentlich zu einer wirksamen Verschleierung bei und lenkte die Aufmerksamkeit von der sanften Ausbuchtung der Brust ab.

Louisa arrangierte das üppige, wallende Haar mit besonderer Sorgfalt und verlieh dem, was einer Königin würdig gewesen wäre, ein möglichst männliches Aussehen.

Nachdem die Toilette somit vollendet war, stieg dieses seltsame Wesen, das wir unseren Lesern vorgestellt haben, in ein Wohnzimmer im Erdgeschoss hinab.

Als Louisa das Boudoir verließ, schloss sie die Tür sorgfältig ab und steckte den Schlüssel in ihre Tasche.

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