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Mörder und Gespenster – Band 1 – 11. Teil

August Lewald
Mörder und Gespenster
Band 1

Der Erbe des Teufels

Kapitel 1

In der polnischen Stadt Białystok lebte vor Jahren ein guter und freundlicher Kanonikus in seinem schönen Haus nahe der Domkirche. Man erinnerte sich noch an die Zeit, als er als armer Priester gekommen war, blank und bloß wie ein Schwert ohne Scheide. Doch er war ein schöner, kräftiger und gesunder Mann und machte überall und immer seinen Weg. Es kommt eben immer darauf an. Er wurde bald ein sehr gesuchter Beichtvater, denn er hatte für alle eine tröstende Absolution und einen lindernden Balsam parat, sodass sein Ruf schnell wuchs und bald an Wunder grenzte. Seine Bescheidenheit, Demut, Wohltätigkeit, Verschwiegenheit und alle anderen geistlichen Eigenschaften wurden laut gepriesen und die Vornehmsten schätzten ihn deshalb sehr und luden ihn in ihre Häuser ein.

Bei diesem guten Fortgang konnte es jedoch nicht ausbleiben, dass seine frommen Brüder, denen der hohe Grad seiner Heiligkeit abging, Neid empfanden. Sie blickten nicht nur scheel auf seine Vorzüge und Fortschritte, sondern schmiedeten auch verschiedene Ränke, um ihn aus der allgemeinen Gunst zu verdrängen. Während es ihnen bei den Damen schwerfiel, gelang es ihnen bei den Männern umso leichter.

Um diesen störenden Einfluss zu bannen, kam die frömmste und zugleich vornehmste Dame der Stadt, Frau Gräfin S., auf die gute Idee, ihm eine Reliquie zu verehren, der man alle die wunderbaren Erfolge zuschreiben konnte, die durch den Kanonikus vollbracht wurden. Geschah etwas, das in der Stadt Białystok oder der Umgebung Aufsehen erregte, hieß es gleich: »Er besitzt ein Bein des heiligen Victor und vollbringt damit alles!«

Und natürlich durfte niemand widersprechen, denn es wäre unziemlich gewesen, seine Meinung geradeheraus zu sagen.

In seinem Haus lebte der wackere Kanonikus wie ein König. Anstelle von Weihwasser sah man ihn von edlen Flaschen umgeben und anstelle von Kasteiung machte er sich mit delikaten Schüsseln vertraut. Nicht ein Sterbefall ereignete sich weit und breit, ohne dass er in den Testamenten oder Kodizille bedacht worden wäre. Alles ging ihm nach Wunsch. Sicher wäre er schon längst Bischof geworden, wenn ihm einmal eingefallen wäre, am rechten Ort zu sagen: »Mir gehen die Haare aus, und ich wünschte mir eine Bischofsmütze, um mir den Kopf nicht zu erkälten.«

Wahrlich, nichts weiter hätte es bedurft und sein Wunsch wäre erfüllt worden.

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