Die Abenteuer des Harry Dickson – Band 1 – Kapitel 7
Die Abenteuer des Harry Dickson
Band 1
Einem schrecklichen Tod entkommen
Kapitel 7
Die besondere Ballnacht
Tom Wills war bereits seit sechs Tagen der treue Diener von Aglaja Fedorsky. Hatte er geglaubt, ihr Vertrauen in wenigen Tagen gewinnen zu können, so hatte er sich getäuscht. Sie verließ das Haus nicht, empfing keinen Besuch, schrieb jedoch zahlreiche Briefe, die sie von ihrer Gastgeberin in den Briefkasten werfen ließ.
Am siebten Tag war sie nach Erhalt einer Nachricht sichtlich aufgeregt.
Schließlich konnte sie sich nicht mehr zurückhalten.
»Tom«, sagte sie zu ihrem Diener, »Sie waren ein Schüler des berühmten Harry Dickson. Sie haben zweifellos eine gewisse Geschicklichkeit in besonderen Nachforschungen erworben.«
»Das schmeichelt mir«, antwortete Tom, während sein Blick aufblitzte und im selben Moment wieder erlosch.
»Es handelt sich um eine recht einfache Angelegenheit«, fuhr die Russin fort. »Sie müssen lediglich herausfinden, ob es möglich ist, heimlich in den Garten der Esplanade Uggenta Nr. 16 zu gelangen, sei es durch Klettern oder auf andere Weise.
Das dürfte für Sie nicht allzu schwer sein.«
»Das nehme ich an«, antwortete Tom Wills, »aber sollte ich nicht gleichzeitig sicherstellen, dass Sie genauso leicht wieder herauskommen wie hinein? Denn es gibt Fälle, in denen es schwieriger ist, herauszukommen als hineinzukommen.«
Aglaja Fedorsky sah ihn überrascht an.
»Sie sind ein schlauer Junge«, sagte sie bewundernd. »Sie wollen sich also den Rückzug sichern, bevor Sie in den Garten eindringen. Aber beeilen Sie sich, es wird langsam dunkel.«
Tom Wills machte sich bald auf den Weg. Nach einem halbstündigen Spaziergang kam er vor dem angegebenen Gebäude an.
»Wem gehört diese prächtige Villa?«, fragte er einen Polizisten aus der Nachbarschaft.
»Prinz Nischkoff«, antwortete der Ordnungshüter.
Mein Verdacht bestätigt sich, dachte Tom Wills. Es handelt sich also um ein Attentat der Patrioten. Aber das ist mir im Moment egal, ich muss meine Mission erfüllen, damit meine Herrin keinen Verdacht schöpft.
Er schlenderte an der Seitenmauer entlang, bis er eine Hintertür erreichte.
»Das ist eine ausgezeichnete Gelegenheit, um in den Garten zu gelangen«, jubelte er.
Er holte einen Satz Dietriche aus seiner Tasche und versuchte, das Schloss zu öffnen. Nach einigen erfolglosen Versuchen spürte er, dass die Tür wackelte. Trotz seiner wiederholten Bemühungen ließ sie sich jedoch nicht öffnen.
Mit aller Kraft stemmte er sich gegen das Gitter, doch obwohl es knarrte, bewegte es sich nicht. »Ja«, schloss Tom, »das Schloss funktioniert, aber ein in die Wand eingelassener Riegel hindert mich daran, die Tür zu öffnen. Rechts und links von der Tür, genau auf Höhe des Riegels, gibt es Öffnungen, aber selbst ein Fuchs würde kaum hindurchpassen. Schade! Wenn ich zehn Jahre jünger wäre, wäre es ein Kinderspiel, zwischen den Gittern hindurchzukriechen und den Riegel zu ziehen. Ich werde jetzt auf die Buche dort klettern und einen Blick hineinwerfen.«
Gesagt, getan. Wenige Augenblicke später saß Tom Wills auf einem der Hauptäste des dichten Baumes und ließ seinen Blick über den Garten auf der anderen Seite der Mauer schweifen.
»Bei Gott, was für ein Reichtum an Blumen, Körben und Büschen«, rief er erstaunt.
Es würde sich wirklich lohnen, hinunterzuklettern, um es mir aus der Nähe anzusehen.
Er machte sich gerade bereit, Schwung zu holen, als er plötzlich Stimmen hörte. Es mussten zwei Männer sein, die miteinander sprachen. Die Mauer, die eine leichte Biegung machte, versperrte ihm noch die Sicht auf die Männer. Ihre Stimmen kamen jedoch hörbar näher. Nun hörte er sie fast unter sich. Tom Wills musste sich an einem Ast festhalten, um nicht vor Erstaunen rückwärts zu fallen. Es waren nicht zwei erwachsene Männer, wie er aufgrund ihrer Stimmen angenommen hatte, sondern ein erwachsener Mann und ein Wesen, das er weder als Mann noch als Kind oder Jugendlichen einstufen konnte. Seiner Stimme nach zu urteilen, musste dieses Wesen die Pubertät erreicht haben, während seine Größe der eines sechsjährigen Jungen entsprach.
Man hätte es daher als Zwerg bezeichnen können, aber Tom Wills musste zugeben, dass es außergewöhnlich gut proportioniert war. Kein Wasserkopf, keine gekrümmten oder zu kurzen Beine, die in keinem Verhältnis zum Oberkörper standen. Nein, der winzige Mann war gut und regelmäßig gebaut. Man hätte ihn für einen kleinen Jungen halten können, der noch zur Schule ging, wenn nicht seine eindeutig männliche Stimme dieser Schlussfolgerung widersprochen hätte.
Die beiden Männer blieben vor der Tür stehen, an der unser Freund seine Zeit verschwendet hatte.
»Es ist unsere Aufgabe, unserem Freund, dem Prinzen, einen unerwarteten Besuch abzustatten«, meinte einer der beiden, ein muskulöser Mann mit schwarzem Bart.
Zu seiner großen Überraschung sah Tom Wills, dass der andere ihm sofort nacheiferte, indem er einen Schlüsselbund aus seiner Tasche zog und versuchte, die Tür zu öffnen. Natürlich ohne Erfolg. Er rüttelte an der Tür und stellte wie Tom fest, dass sie nicht verschlossen war, sondern durch das Hindernis blockiert wurde, das Tom so verzweifelt beseitigen wollte. »Oben ist ein Riegel«, sagte er zu dem Zwerg, der das Geschehen aufmerksam verfolgt hatte.
»Die einzige Möglichkeit, das Schloss zu öffnen, besteht darin, auf das Gitter zu klettern, durch die Öffnung zu greifen und von innen aufzuschließen. Ich glaube, das ist eine leichte Aufgabe für dich, Freddy.«
Der Zwerg schaute auf die beiden Öffnungen und antwortete mit seiner tiefen Stimme, die so gar nicht zu seiner kindlichen Statur passte: »Ja, das ist, als wäre ich für diese Aufgabe geboren.«
Mit einem Satz hob der Mann mit dem schwarzen Bart den Zwerg auf seine Schultern, sodass dieser sich mit den Händen an den eisernen Verzierungen festhalten konnte, die den oberen Teil der Tür schmückten.
Tom riss die Augen auf, als er aus einer Entfernung von kaum sechs Metern sah, wie sich der Zwerg langsam, aber sicher an den Ästen und Blättern entlang zur Öffnung hinaufzog. Mit katzenhafter Geschicklichkeit gelangte er hindurch, sprang auf der anderen Seite der Tür wieder herunter und verschwand. Einen Moment lang sah er sich um, um zu sehen, ob ihn unerwünschte Zeugen sehen konnten, doch niemand zeigte sich in dem weitläufigen Garten. Dann streckte er die Hand aus. Tom Wills begriff, dass das kleine Wesen am Riegel rüttelte. Er wunderte sich unwillkürlich über die Kraft, die der Zwerg dabei aufwandte. Denn er wusste aus Erfahrung, wie viel Kraft es kostete, einen rostigen Riegel zu bewegen, der seit vielen Jahren nicht mehr benutzt worden war. Doch schon hörte er ein leises Knarren. Der Zwerg hatte es geschafft. Der kleine Mann kletterte wie ein Eichhörnchen wieder durch die Öffnung und entlang des Zauns zu seinem großen Gefährten.
»Es ist geschafft«, sagte er leise. »Ich werde die Tür provisorisch wieder schließen, damit der Notausgang aus der Festung unseres Feindes nicht zu früh entdeckt wird. Aglaja Fedorsky wird sprachlos sein, wenn sie erfährt, dass wir das ohne ihre Hilfe geschafft haben.«
»Ja, aber ihr gebührt noch immer der Löwenanteil«, wandte der Große ein. »Unter den gegebenen Umständen können wir ihr nur eine Fluchtmöglichkeit bieten, die Tat muss sie auf jeden Fall selbst vollbringen.«
Die beiden Männer gingen fort und begaben sich zu der Stelle, wo sie eine Droschke nahmen. Da die Kutscher in Paris es nie sehr eilig haben, fiel es unserem Freund Tom nicht schwer, ihnen zu folgen und das Haus, in das sie einfuhren, genau zu betrachten.
Dann brachte er seiner Geliebten die Nachricht, dass er eine Hintertür gefunden hatte, von deren Existenz Aglaja Fedorsky übrigens wusste, und dass es ihm gelungen war, sie zu öffnen. Von den beiden Männern sagte er kein Wort.
»Sie können den Abend über frei disponieren«, sagte sie gleichgültig, nachdem Tom seinen Bericht beendet hatte. »Ich brauche Sie nicht mehr, allerdings möchte ich, dass Sie nicht ausgehen. Auf jeden Fall können Sie schon meine Koffer packen, damit ich gegebenenfalls sofort abreisen kann.«
Der junge Detektiv saß in seinem kleinen Zimmer und blickte besorgt vor sich hin. Was hatte die Russin vor? Wollte sie in dieser Nacht ein Attentat verüben? Alles deutete darauf hin. Warum hätte sie sonst ihre Koffer packen lassen? Aber was sollte er in diesem Fall tun? Wahrscheinlich wollte Aglaja Fedorsky ihren Plan allein ausführen. Aber wie? Er wartete stundenlang darauf, dass die Russin herauskam. Er war eingenickt, als er plötzlich zusammenzuckte. Er hatte gehört, wie sich die Tür des Zimmers seiner Geliebten leise öffnete. Nun vernahm er gedämpfte Schritte, die sich auf der Treppe verliefen. Wie ein Pfeil schoss Tom in den Flur und beugte sich vorsichtig über das Geländer. Zu seiner großen Überraschung sah er, wie die Russin in einem eleganten Ballkleid die Treppe hinunterkam.
Einen Moment lang war Tom sprachlos, dann kam ihm eine Idee. Er hatte die Situation verstanden. Er eilte in sein Zimmer zurück, setzte seinen Hut auf und rannte hinaus.
*
Es war schon spät, als Harry Dickson von einem Spaziergang zurückkam, sich in einen Korbsessel setzte und eine Zigarre anzündete.
Er hatte vergeblich auf Nachrichten von Tom Wills gewartet. Aglaja hielt sich wohl bedeckt, sonst hätte sein junger Verbündeter ihm schon Bescheid gegeben.
Es klopfte leise an seiner Zimmertür.
Nachdem er aufgefordert hatte, einzutreten, erschien ein junger Mann in der Tür.
»Entschuldige, Mylord, dass ich dich so spät störe, aber draußen wartet ein junger Mann auf dich, der sich nicht wegschicken lässt. Er behauptet, du hättest ihn gebeten, zu kommen.«
»Wie sieht er aus?«, fragte Harry Dickson neugierig.
»Er ist etwa zwanzig Jahre alt, bucklig und trägt ein Pflaster über dem rechten Auge. Er sieht nicht gerade vertrauenserweckend aus. Wenn Sie es mir befehlen, werde ich ihn wegschicken.«
»Nein, tun Sie das nicht«, riet der berühmte Detektiv. »Jetzt erinnere ich mich, dass ich diesen Mann hergebeten habe. Lassen Sie ihn herein.«
Der Junge entfernte sich und im nächsten Augenblick erschien der junge Bucklige vor dem vermeintlichen Lord.
Harry Dickson musterte ihn einige Sekunden lang, zeigte ihm dann einen Stuhl und sagte: »Mach es dir bequem, Tom! Was hast du mir Wichtiges mitzuteilen? Ich habe seit mehreren Tagen auf deine Nachricht gewartet.
»Bis jetzt ist nichts passiert, Meister, aber alles deutet darauf hin, dass heute Nacht etwas Großes passieren wird.« Er berichtete kurz, was ihm am Abend zuvor zugestoßen war.
»Ich habe den Schlüssel zum Rätsel gefunden«, schloss er. »Aglaja Fedorsky hat das Haus in Ballkleidung verlassen.«
»Du meine Güte!«, rief der Detektiv. »Welcher Tag ist heute?«
»Der achtzehnte«, antwortete Tom Wills etwas überrascht von der Aufregung seines Herrn.
»Kein Zweifel, heute ist die nächtliche Feier von Prinz Nischkoff! Wo sind die Einladungen, die er mir gegeben hat?«
Er eilte zu seinem Kleiderschrank und durchsuchte die Taschen seines Smokings. Er fand sofort den Brief des Prinzen, aber die Karten fand er trotz gründlicher Suche nicht.
»Schnell, schnell!«, drängte er seinen Schüler. »Hilf mir, mich fertigzumachen. In weniger als zehn Minuten muss ich bereit sein. Ich muss mich beeilen, um ein Unglück zu verhindern. Es geht um ein Menschenleben.«
Der Detektiv zog seine Galauniform an. Er warf einen kurzen Blick auf seine hastig aufgesetzte Perücke und seinen grauen Bart, dann eilte er zum Ausgang des Hotels. Tom Wills folgte ihm. Er hatte noch keine Zeit gehabt, die Absichten seines Herrn zu verstehen.
Der falsche Lord Roseberry wurde von den Dienern des Prinzen ohne Einwände hereingelassen.
Der Ball hatte begonnen. Harry Dickson suchte mit forschendem Blick überall nach der Russin, konnte sie aber ebenso wenig entdecken wie der Prinz.
»Ich hoffe, ich komme nicht zu spät«, murmelte er, während er den Ballsaal durchquerte.
Gerade war eine Pause, und die Paare setzten sich an kleine Tische, während die Diener ihnen Erfrischungen servierten. In diesem Moment kam der Oberkellner, der das Personal beaufsichtigte, an dem Detektiv vorbei. Er nahm ihn beiseite und flüsterte ihm ins Ohr: »Wo ist der Prinz? Ich muss dringend mit ihm sprechen.«
»Er wollte gerade seine Gäste begrüßen, als ihm ein wichtiges Telegramm überreicht wurde«, antwortete der Diener. »Er hat sich vor einer Weile zurückgezogen, aber ich glaube nicht, dass er lange auf sich warten lassen wird.«
»Wenn Sie ihn sehen, sagen Sie ihm, dass Lord Roseberry gekommen ist. In der Zwischenzeit werde ich einen Spaziergang im Garten machen.«
Schnell durchstreifte der Detektiv alle Alleen des prächtigen Parks, in der Hoffnung, Aglaja oder einen ihrer Komplizen zu treffen. Aber er fand keine Spur von ihnen. Er wollte schon in die Villa zurückkehren, als er hinter einem Baumwipfel ein weißes Kleid flattern sah. Er versteckte sich schnell hinter einigen Sträuchern. Das war höchste Zeit, denn im nächsten Moment streifte Aglaja ihn mit ihrem Kleid.
Ah, dachte der Detektiv, sie hat sich vergewissert, dass ihr der Rückweg nicht abgeschnitten werden kann. Ich bin sehr gespannt, wie der Rest der Nacht verlaufen wird.
Aus der Ferne drangen die melodiösen Klänge des Orchesters an seine Ohren, die die Tanzfreudigen zu ihrer Lieblingsbeschäftigung einluden.
Die Russin war aus seinem Blickfeld verschwunden, sie hatte bereits den Tanzsaal erreicht.
Harry Dickson warf durch die Fenster einen Blick in den Raum, in dem das Orchester gerade einen Tango anstimmte.
Er sah die Russin. Sie stand in einer Nische, die vollständig von Palmen verdeckt war.
Harry Dickson schlich sich in den Saal, ohne vom Anarchisten bemerkt zu werden. Er versteckte sich hinter einer Gruppe von Bediensteten, sodass Aglaja ihn nicht sehen konnte, selbst wenn sie von seiner Anwesenheit gewusst hätte.
Plötzlich bemerkte er, dass sie von einer allmählich wachsenden Erregung erfasst wurde. Er konnte ihren Blick in eine bestimmte Richtung verfolgen und sah, dass sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um zwischen den Palmen besser sehen zu können. Da erkannte er den Grund für ihre Erregung. Auf der gegenüberliegenden Seite des Saals erschien der Prinz mit einer Dame an seinem Arm. Er mischte sich unter die tanzenden Paare.
Die junge Russin spannte sich an wie ein Raubtier, das sich auf sein Opfer stürzen will. Sie streckte den Oberkörper nach vorne und beobachtete jede Bewegung des Prinzen. Dieser war nur noch etwa zehn Meter von ihr entfernt. Der Moment zum Handeln schien gekommen. Sie schob ihre Hand in das Mieder und ein Revolver blitzte zwischen den Palmen auf. Der Prinz war verloren!
»Guten Abend, meine liebe Dame. Ich habe gesehen, dass Sie sich hier zurückgezogen haben, ganz blass und erschöpft. Ich bin Ihnen ein erfrischendes Getränk holen gegangen. Trinken Sie bitte, das wird Ihnen guttun.«
Wie eine Marmorstatue erstarrte die Russin vor dem Detektiv. Sie hatte kaum genug Selbstbeherrschung, um ihren bewaffneten Arm zu senken.
»Mylord«, sagte sie zitternd, während sie den Revolver hastig in das Holster steckte. »Ihr plötzliches Erscheinen hat mich erschreckt. Danke. Vielen Dank, das ist wirklich sehr gütig von Ihnen. Ich habe mich tatsächlich nicht wohlgefühlt.«
Mechanisch griff sie nach dem Glas und trank es in einem Zug leer. Ihre Erregung war so groß gewesen, dass ihr die Zunge am Gaumen klebte.
»Und jetzt«, schlug Harry Dickson lächelnd vor, »nehmen wir Platz in dieser kleinen, intimen Ecke, die wie geschaffen für ein Tête-à-Tête ist. Wir werden uns ein wenig unterhalten.«
Die Russin ließ sich auf einen Stuhl fallen und versuchte, ihre Nerven wieder unter Kontrolle zu bringen. Kannte Lord Roseberry ihren Plan und hatte er sich vorgenommen, ihn zu durchkreuzen? Sie warf ihm einen Seitenblick zu, doch er beruhigte sie mit einem kleinen, glockenhellen Lachen.
»Warum haben Sie mich so hinterhältig im Stich gelassen?«, fragte der angebliche Lord mit sanfter Stimme. »Ich hatte mich so auf Ihre Gesellschaft gefreut. Hätten Sie nicht ein paar Tage warten können? Dann wären wir zusammen zu dieser Feier gegangen. Wie sind Sie hier hereingekommen?«
Aglaja wollte ihm antworten, aber sie brachte keinen Ton heraus. Sie konnte nicht einmal ihre Gedanken ordnen. Sie lächelte sanft, von einem unbeschreiblichen Gefühl des Wohlbefindens überwältigt.
Eine angenehme Schwäche überkam ihren Körper. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, warum sie gekommen war. Ach, wäre sie doch zu Hause, um sich ins Bett zu legen und auszuruhen!
Ach, wäre sie doch zu Hause, um sich ins Bett zu legen und auszuruhen!
Sie begann zu gähnen und hörte immer noch die beruhigende, einhüllende Stimme von Lord Roseberry, der ununterbrochen zu ihr sprach. Mein Gott, wie diese Stimme sie betäubte! Sie konnte sich nicht dagegen wehren, lehnte sich an die Wand und konzentrierte sich erneut, um ein paar Worte zu sagen, doch es gelang ihr nur, schwach zu lächeln. Im nächsten Augenblick schlief sie tief und fest.
Harry Dickson stand leise auf und winkte einige Diener herbei, die in der Nähe standen.
»Dieser Dame ist unwohl. Bringt sie in ein Nebenzimmer, aber vermeidet jeden Aufruhr, wenn möglich. Ich werde sofort den Oberkellner bitten, den Prinzen zu benachrichtigen, sobald der Tanz beendet ist.«
Alles verlief ordnungsgemäß. Nachdem sich die Diener zurückgezogen hatten, durchsuchte er die Russin und nahm ihr den Revolver sowie eine Phiole ab, die vermutlich Gift enthielt. Diese Substanz war zweifellos für ihn bestimmt! Für den Fall, dass sie nach dem Attentat auf den Prinzen nicht fliehen konnte.
Die Tür öffnete sich leise und gab den Weg frei für den Prinzen. Er hielt einen Moment inne und betrachtete überrascht die Schlafende.
»Was ist los?«, fragte er. »Man hat mir gemeldet, dass sich eine Dame unwohl fühlt.«
»Das ist Aglaja Fedorsky«, antwortete Harry Dickson und deutete auf die schöne Frau, die auf dem Sofa lag.
»Ist das die fanatische Anarchistin, die mir zusammen mit einem Dutzend anderer Hohlköpfe nach dem Leben trachtet? Ihre Schönheit und ihr Mut sind jedenfalls unübertroffen. Aber wie kommt es, dass man sie hier hereingelassen hat?«
»Ich kann nicht glauben, dass sie unter den Gästen war.«
»Sie hat sich selbst eingeladen«, schmunzelte der Detektiv. »Soweit ich weiß, kam sie am Arm eines sehr vornehmen Herrn herein und hat wahrscheinlich die Einladungen benutzt, die Eure Hoheit mir gegeben habt. Denn diese Karten wurden mir gestohlen.«
»Und diese blutrünstige Frau ist zufällig in meinem Haus ohnmächtig geworden?«
»Nein«, antwortete der berühmte Detektiv lachend, »das hätte sie Ihnen sicherlich nicht gegönnt. Ich sah, wie sie, versteckt hinter einem Palmenhain, aus nur wenigen Metern Entfernung auf Ihr Herz zielte. Um keinen Alarm zu schlagen, kam ich ihr zuvor und verabreichte ihr eine gut dosierte Betäubungsspritze. Sie wird wahrscheinlich erst morgen früh wieder zu sich kommen.
»Sie sind mein Schutzengel«, sagte der Prinz tief beeindruckt. »Ich werde Ihnen meine Dankbarkeit in der von Ihnen gewünschten Weise beweisen. Aber was sollen wir mit Fräulein Fedorsky machen? Sie der Justiz übergeben?«
»Nein«, antwortete Harry Dickson, »das würde meine Pläne durchkreuzen und uns daran hindern, den Mörder der Gräfin Sadetzky zu fassen und das Geheimnis des schachspielenden Automaten zu lüften. Sagen Sie Ihrem Oberkellner, er soll sie von einem vertrauenswürdigen Diener bewachen lassen. Sobald sie wieder zu sich kommt, soll er sie aus Ihrer Villa bringen.«
»Und was ist mit ihrem Begleiter, der ebenso schuldig ist wie sie? Sollen wir ihn laufen lassen?«
»Sie würden ihn vergeblich suchen. Zweifellos hat er bereits erfahren, was seiner Begleiterin zugestoßen ist, und ist in aller Eile geflohen. Eurer Hoheit bleibt nur noch eines zu tun: sich ruhig unter die Gäste mischen, als wäre nichts geschehen, das das Fest gestört hätte. Ich werde in Ihrer Nähe bleiben, um für Ihre Sicherheit zu sorgen. Ich bin überzeugt, dass man jetzt versuchen wird, sich Ihnen mit dem Automaten zu nähern. Dann werden wir die Razzia durchführen, die uns die ganze Bande auf einmal ausliefern wird.«
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