Nick Carter – Band 18 – Ein Dynamitattentat – Kapitel 3
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein Dynamitattentat
Ein Detektivroman
Kapitel 3
Der Familienarzt
Als Nick Carter die Nachbarschaft des Glenn’schen Hauses erreichte, sah er, dass sich vor dem Haus eine dichte Menschenmenge versammelt hatte. Er begab sich jedoch nicht zum Gebäude selbst, sondern betrat ein Drogengeschäft und forderte von dem anwesenden Verkäufer fünfzig Gramm Strychnin.
»Fünfzig Gramm Strychnin?«, wunderte sich der Verkäufer. »Haben Sie einen Erlaubnisschein?«
»Unsinn, den braucht man doch nicht – meinen Sie etwa, ich will mich umbringen?«
»Nein, so sehen Sie nicht gerade aus!«, meinte der Verkäufer lachend. »Doch es ist gegen das Gesetz!«
»Unbesorgt, Mister, ich will niemanden ermorden!«, brummte Nick enttäuscht.
»Natürlich nicht – hier in der Nachbarschaft verwendet man hierfür lieber Beile!«, witzelte der Verkäufer und spielte damit auf die jüngste Mordtat an.
Das war Wasser auf des Detektivs Mühle.
Er wollte natürlich kein Strychnin kaufen, sondern das Gespräch auf die Untat in der Nachbarschaft lenken. Nun heuchelte er Erstaunen und gab vor, von dem Verbrechen noch nichts zu wissen.
Der Verkäufer ließ sich willig ausholen und machte Nick mit einer Menge Einzelheiten über den Ermordeten und dessen Familie bekannt, die ihm der junge Glenn nicht mitgeteilt hatte.
»Gut«, entschied Nick, als er genug gehört hatte, »dann werde ich wohl einen Arzt aufsuchen müssen, um ein Giftrezept zu bekommen. Ich denke, hier wohnen genug Ärzte?«
»Sicherlich. Gleich um die Ecke wohnt Dr. Hallam.«
»Danke, der ist bestimmt Hausarzt bei den Glenns, oder?«, hinterfragte Nick.
»Nein, Mister, die Glenns haben Dr. Forsythe.«
»Hm!«, machte der Detektiv gleichgültig. Doch kaum hatte er den Laden verlassen, suchte er Dr. Forsythe auf und gab sich diesem zu erkennen.
Der bereits betagte Arzt sah übernächtigt und angegriffen aus, doch er geleitete den Detektiv unverzüglich in sein Studierzimmer.
»Sie wünschen jedenfalls, Auskunft von mir zu erlangen?«, fragte er dann erwartungsvoll.
»Darum bin ich gekommen«, bestätigte Nick. »Als Hausarzt können Sie mir sicherlich einige wertvolle Hinweise über die Familie und den Verstorbenen geben.«
»Ich fürchte, ich werde Sie enttäuschen, Mr. Carter«, meinte Dr. Forsythe. »Doch ich stehe Ihnen gern zu Diensten. Ich bin gerade vom Tatort zurückgekehrt, und Sie können sich denken, dass mir der Anblick dort auf die Nerven geschlagen ist. Meinem alten Freund konnte ich nicht mehr beistehen, doch umso mehr machte mir Miss May zu schaffen.«
»Die Ärmste! Ich kann mir vorstellen, dass der Schreck sie hart mitgenommen haben muss!«
»So ist es! Sie ist schließlich jung und wird es überwinden. Aber sie tut mir leid. Sie müssen wissen, ich war schon bei ihrer Geburt zugegen!«
»Wahrscheinlich auch bei der Geburt ihres Bruders«, schaltete sich der Detektiv ein.
»Nein, Kenneth ist nicht Miss Mays Bruder!«
Befremdet starrte Nick den Arzt sekundenlang an.
»Wie soll ich dies verstehen?«, meinte er dann. »Der junge Mann sprach von ihr als von seiner Schwester!«
»Selbstverständlich. Dazu berechtigt ihn langjährige Gewohnheit. Doch Kenneth ist Mr. Glenns Adoptivsohn«, merkte der Arzt an.
Es schien ihm unlieb, sich näher darüber auszulassen, doch auf die dringliche Aufforderung des Detektivs hin, meinte er schließlich zögernd: »Nun, Mr. Glenn lebte in kinderloser Ehe. Da er einen Erben wünschte, nahm er einen Findling an Kindesstatt an, eben den jungen Kenneth. Damals war dieser ein Jahr alt und wurde von Anfang an als Sohn des Hauses betrachtet, behandelt und erzogen.«
»Weiß Kenneth davon?«, wollte der Detektiv wissen.
»Allerdings. Mr. Glenn hat ihn vor zwei Jahren davon in Kenntnis gesetzt, als Kenneth von der Hochschule zwangsweise relegiert wurde«, räumte Dr. Forsythe ein. »Der junge Mensch hatte sich auf die lockere Seite geworfen, und mein alter Freund hielt es daher für angezeigt, ihm durch die Eröffnung seiner Abstammung Zügel anzulegen und ihm gleichzeitig anzudrohen, dass er enterbt werden würde, wenn er sich in Zukunft nicht besser führte.«
»Hat Kenneth sich das zu Herzen genommen?«
»Ich denke wohl, doch Mr. Glenn blieb seinetwegen immer besorgt. Es kam wiederholt zu Auseinandersetzungen, doch der junge Mensch unterwarf sich jedes Mal reuig und gab Mr. Glenn weit weniger Veranlassung zu Klagen als die eigene Tochter.«
»Miss May unterhält von ihrem Vater nicht gebilligte Beziehungen zu einem jungen Mann?«, erkundigte sich Nick, an die ihm vom Drogenclerk gemachten Mitteilungen denkend.
»Richtig. May ist ein liebes Mädchen, aber sie hat den Dickkopf ihres Vaters geerbt, um es so auszudrücken, Mr. Carter. Dieser wollte von ihrem Angebeteten George Stratton nichts wissen und hatte ihm das Haus verboten. Da May aber ihrer Liebe treu blieb, waren die Beziehungen zwischen Vater und Tochter etwas gespannt, wenn dies auch nicht bis zu offenem Hader ausartete.«
»Wie alt ist die junge Dame?«
»Annähernd zwanzig. Sie wurde zwei Jahre nach Kennedys Adoption geboren, und ihre Mutter starb im Wochenbett.«
»Können Sie mir über diesen Mr. George Stratton irgendwelche Auskunft geben?«, fragte Nick.
»Gütiger Gott, Sie halten ihn doch nicht etwa für fähig, eine derartige Untat zu begehen!«, rief der Arzt bestürzt.
»Ich beargwöhne niemanden und verdächtige alle!«, gab der Detektiv zur Antwort. »Ich muss mich orientieren und Tatsachen sammeln. Einige davon mögen Licht auf die Beweggründe, welche das Verbrechen zeitigten, werfen, andere wieder nicht. Bitte, geben Sie mir Auskunft, Doktor!«
»Ich kann dem jungen Mann nichts nachsagen. Er kämpft um seine Existenz, genauso wie ich auch. Mein alter Freund wollte für seine Tochter einen bemittelten Mann.«
»Etwa Hermann Melville?«, fragte der Detektiv rasch dazwischen.
»Wer ist das?«, fragte Dr. Forsythe in hellem Erstaunen zurück.
»Ein Freund Kenneths.«
»Ich habe nie von ihm gehört. Ich könnte auch nicht sagen, dass Mr. Glenn einen bestimmten Mann im Auge gehabt hat – und eigentlich müsste ich dies wissen, denn wir waren sehr vertraut«, versetzte der Arzt mit steigendem Befremden. Er hatte sich auf eine ganz andere Fragestellung eingestellt. Er konnte nicht begreifen, was den Detektiv alte, ihm nebensächlich erscheinende Familiengeschichten interessieren konnten.
Nick Carter dagegen wusste wohl, warum er all diese scheinbar so belanglosen Fragen stellte. Er hatte sich zwar schon eine Meinung über die Mordtat gebildet, wünschte aber zuvor Auskünfte von Dritten zu erhalten, die ihm die Sache klarer machten.
»Jede Tat muss einen Beweggrund haben, und diesen suche ich zu ergründen – darum frage ich!«, erklärte er kurz.
»Gott steh mir bei – Sie vermuten doch nicht etwa …«
»Ich vermute gar nichts!«, unterbrach ihn Nick. »Doch ich weiß, dass die Tat nur von jemandem verübt worden sein kann, der durch den Tod des Opfers Vorteile erlangt hat.«
Dr. Forsythe musste sich vor Erstaunen hinsetzen und starrte den Detektiv betroffen an.
»Lieber Mr. Carter, ich bin kein Tor und weiß ganz gut, dass Sie zu glauben scheinen, die entsetzliche Tat müsse von einem Familienangehörigen begangen worden sein«, versetzte er dann beklommen. »Von Ihrem Standpunkt als Detektiv kann ich Ihnen einen derartigen Verdacht kaum verübeln. Doch ich möchte Sie bitten, den Anwalt Joseph Waller zu befragen. Dieser kann Ihnen in jeder Beziehung zuverlässige Auskunft erteilen, denn er war Mr. Glenns langjähriger Sachwalter und sein zuverlässigster und in die intimsten Vorgänge eingeweihter Freund!«
»Anwalt Joseph Waller ist in der vergangenen Nacht ebenfalls ermordet worden!«
»Gnadenreicher Gott!«, schrie der Arzt auf und sprang mit beiden Füßen vom Stuhl auf. »Sie sagen …«
»… die Wahrheit!«, erklärte Nick düster. »Sie sehen, Doktor, ich bin deshalb gezwungen, mich an Sie zu wenden, da die Lippen des Sachwalters der Familie versiegelt sind. Ich beargwöhne kein Mitglied der Familie – doch als völlig Fremder muss ich über alle in Betracht kommenden Personen genauestens informiert werden!«
»Mein lieber Herr, in dieser Beziehung kann ich Ihnen keinerlei Unterstützung zusagen.«
»Ich will Sie auch nicht weiter behelligen, aber ich hätte noch eine Frage: Ist Miss Glenn geistig zurechnungsfähig?«
»Aber selbstredend, wie kommen Sie zu einer solchen Frage?«, entgegnete der Arzt verwundert.
»Hat sie jemals Halluzinationen, Gehirnkrämpfe oder sonstige das Denkvermögen störende Zufälle gehabt?«, fragte Nick Carter in großem Ernst weiter.
»Ich kann nur antworten, dass Sie nicht zurechnungsfähiger sind als die junge Lady!«
»Freut mich zu hören«, meinte Nick Carter und verbeugte sich. »Darf ich Ihr Telefon benutzen?«
Der Arzt war zusehends unverbindlicher und zurückhaltender geworden. Doch Nick schien es nicht zu bemerken. Er bat um Erlaubnis, auch noch einige Zeilen schreiben zu dürfen. An des Doktors Schreibtisch formulierte er eine Mitteilung für den Polizeichef, die er in die Tasche steckte.
Dann rief er das Hotel von Chick an, ließ seinen Gehilfen an den Apparat rufen und informierte ihn darüber, dass er sich unverzüglich zum Glenn’schen Haus begeben solle. Danach empfahl er sich dem Arzt und ging seiner Wege.
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