Die Abenteuer des Harry Dickson – Band 1 – Kapitel 6
Die Abenteuer des Harry Dickson
Band 1
Einem schrecklichen Tod entkommen
Kapitel 6
Der galante Lord
Der Zug von Calais nach Paris, der Anschluss an die Dampfschifffahrt von Dover nach Calais hatte, war voller Reisender, darunter vor allem Engländer.
Er glitt langsam unter die Halle des großen Bahnhofs.
Aglaja Fedorsky sammelte ihr Gepäck zusammen, das aus einer Decke, einer Hutschachtel, einem Regenschirm und einem schweren Koffer bestand.
»Soll ich Ihnen helfen, Madame?«, bot ein alter Herr mit langem grauen Bart an. »Ich trage Ihren Koffer zum Zollamt.«
»Zum Zollamt?«, erschrak die Russin. »Ich dachte, in Paris könnten Reisende ohne Gepäckkontrolle passieren!«
»Ja«, entgegnete der galante Herr lachend. »Wenn Sie die französische Sprache gut genug beherrschen und nicht am Trinkgeld sparen, besteht die Chance, dass Sie ohne diese Formalität passieren können. Haben Sie so große Angst, Ihren Koffer durchsuchen zu lassen?«, fuhr er fort und musterte den Gegenstand neugierig.
»Lassen Sie ihn um Gottes willen!«, rief die Russin. »Dieser Koffer enthält wertvolle Gegenstände. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Verhandlungen übernehmen würden, und ich werde Ihnen die Auslagen gerne erstatten.«
»Mit Vergnügen. Ihrem Akzent nach zu urteilen, sind Sie Russin. Seit einiger Zeit sind russische Beamte beim Zoll eingesetzt, um die russischen Emigranten im Auge zu behalten. Vielleicht möchte einer Ihrer Landsleute als Dolmetscher zwischen Ihnen und dem französischen Zoll dienen.«
»Um Gottes willen, bloß nicht«, antwortete die ehemalige Zofe und verbarg ihr Gesicht im Kragen ihres Mantels. »Ich vertraue mich lieber Ihnen an. Vielleicht halten Sie mich für Ihre Frau.«
Der Engländer lächelte in sich hinein, während sie ihr Gepäck aufstellte.
»Das wird mir eine große Ehre sein«, sagte er und verbeugte sich galant. »Haben Sie keine Angst, ich werde Sie mit Ihrem Koffer sicher nach Paris bringen.«
Als der Zug hielt, griff die Russin nach dem Arm des vornehmen alten Herrn, der selbst kein Gepäck hatte und alles trug, was Fräulein Fedorsky gehörte.
Bald standen sie vor dem Zoll, unterstützt von Beamten in Zivil, die die Reisenden genau beobachteten.
Aglajas Cicerone wandte sich an einen der Zollbeamten und begann mit ihm die Verhandlungen über den Koffer. In wenigen Minuten war die Angelegenheit geregelt und der Beamte hatte das erforderliche Formular bereits auf den Koffer geklebt. Da zeigte einer der russischen Assistenten ihm ein Etikett von früheren Reisen.
»Monsieur«, fragte der Beamte, »kommen Sie aus Russland?«
»Überhaupt nicht«, antwortete der alte Gentleman erstaunt.
»Aber auf Ihrem Koffer befindet sich ein Etikett vom Gepäckaufbewahrungsamt in Sankt Petersburg.«
»Was geht Sie das an? Als englischer Diplomat habe ich doch die Freiheit, dorthin zu reisen, wohin mich meine Regierung schickt.«
»Oh, entschuldigen Sie, mein Herr«, sagte der Beamte. »Dieser Herr glaubte, in der Dame eine Bekannte aus Sankt Petersburg zu erkennen.«
»Das grenzt an Groteske! Wie hätte meine Frau jemals einen Mann treffen können, der wahrscheinlich nur ein einfacher Polizist ist? Wenn Sie mich nicht sofort passieren lassen, werde ich mich bei meinem Konsul beschweren. Wissen Sie, ich bin einer der besten Freunde des Prinzen Nischkoff aus Sankt Petersburg, der derzeit in Paris residiert. Wenn Sie oder dieser Herr mir Fragen stellen möchten, können Sie sich gerne an ihn wenden. Hier ist meine Visitenkarte.«
Der alte Gentleman spürte, dass seine Begleiterin zitterte, als würde sie jeden Moment ohnmächtig werden, und stützte sie mit aller Kraft.
Als der Name des Prinzen fiel, machte der russische Beamte ein verwirrtes Gesicht und zwinkerte dem französischen Zöllner zu.
»Fahren Sie ruhig weiter«, sagte er in unterwürfigem Ton.
Der galante Herr rief ein Taxi und stieg neben der Dame ein.
»Dürfen wir Sie bis zu Ihrem Haus oder Hotel begleiten?«, fragte sie nervös, »ich werde verfolgt. Der russische Beamte muss einen Verdacht gehegt haben. Lassen Sie uns schnell wegfahren, ich bitte Sie, mein Leben ist in Gefahr.«
Der Engländer rief dem Fahrer den Namen eines der besten Hotels zu und einen Augenblick später fuhr das Auto los.
»Sie sind zweifellos Kommunistin«, sagte der Herr, während er sie aufmerksam musterte.
»Wer ist das heute nicht?«, entgegnete sie mit düsterer Stimme. »Die russische Polizei kennt mich mit Sicherheit, und wahrscheinlich wurde meine Abreise aus London bereits nach Paris gemeldet. Würden Sie so freundlich sein und vor dem Hotel nachsehen, ob nicht ein zweites Taxi gleichzeitig mit uns hält? Sie würden mir einen großen Gefallen tun.«
Der galante Herr verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Nachdem er den Fahrer bezahlt hatte, bemerkte er tatsächlich ein zweites Auto, aus dem ein Mann stieg, der dem Beamten ähnelte, der seiner Begleiterin am Bahnhof Schwierigkeiten gemacht hatte.
»Er kommt, um sicherzugehen, dass die Russin mit mir aussteigt«, schlussfolgerte er. »Sein Vertrauen in die Rechtmäßigkeit unserer Ehe scheint fragwürdig. Die Sache wird langsam interessant.«
»Lord Roseberry und Ehefrau«, trug er in das Hotelregister ein.
Er ließ sich zwei benachbarte Zimmer geben und stellte eines der Russin zur Verfügung.
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte diese, sobald sie mit ihrem Beschützer allein war. »Sie haben mich und vielleicht unzählige meiner Landsleute vor einer großen Gefahr bewahrt.«
»Hm«, sagte Lord Roseberry, »ich werde noch mehr für Sie tun.«
Die Russin sah ihn verblüfft an. Sie wusste sich das Versprechen ihres Begleiters nicht zu erklären.
»Ich werde Ihren Koffer vernichten, da er Ihnen sonst noch zum Verhängnis werden kann.
»Das werden Sie nicht tun!«, rief sie zitternd. »Dieser Koffer enthält ein Geheimnis, das nicht nur mir gehört.«
»Das ist mir egal«, entgegnete der Engländer. »Glauben Sie wirklich, ich wüsste nicht, was in Ihrem Koffer ist? Dass ich mich indirekt zum Komplizen eines anarchistischen Attentats machen würde?«
Aglaja Fedorsky schaute vor sich hin. Sie bemerkte, dass der galante Herr den Inhalt ihrer Tasche gesehen hatte und sie nun völlig in seiner Gewalt war.
»Überlegen Sie es sich gut«, fuhr er fort. »Sie haben die Wahl: Entweder ich vernichte den Inhalt Ihres Koffers oder ich zeige Sie der Polizei an.«
Einen Moment lang lieferte die Russin in ihrem Inneren einen heftigen Kampf aus. Was sollte sie tun? Sie warf einen Seitenblick auf den Engländer. Konnte sie ihn nicht umstimmen? Seine Stirn war von solcher Würde und Energie geprägt, seine Augen waren so klar und entschlossen, dass sie jeden Gedanken an Bestechung verwarf.
»Ich übergebe Ihnen meinen Koffer«, sagte sie, »aber in Ihrem eigenen Interesse rate ich Ihnen, vorsichtig damit umzugehen.«
»Seien Sie unbesorgt, heute Abend werde ich ihn zur Brücke bringen und selbst in die Seine werfen. Reicht das aus, um den Inhalt unschädlich zu machen?«
»Ja, das reicht. Erlauben Sie mir nun, mich zurückzuziehen, um mich frisch zu machen. Ich werde Ihre Güte und Hilfsbereitschaft nicht länger missbrauchen. Ich werde morgen so früh wie möglich verschwinden. Ich kann mir solche Zimmer nicht leisten. Allein die Trinkgelder, die man hier gibt, würden meine Ausgaben für einen ganzen Tag decken.«
Der englische Lord, der inzwischen seinen Mantel ausgezogen und nach dem Diener gerufen hatte, schüttelte missbilligend den Kopf, der nur noch von wenigen Haarsträhnen bedeckt war.
»Sie können das Hotel nicht so schnell verlassen, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sind Sie sicher, dass Ihre Feinde nicht draußen auf Sie warten, um Ihnen zu folgen, sobald Sie das Hotel verlassen? Nein, Sie müssen erst davon überzeugt sein, dass wir Mann und Frau sind und dass Ihr Verdacht auf einem Irrtum beruht. Machen Sie sich keine Gedanken um die paar Franken, die Ihr Aufenthalt mich zusätzlich kosten wird. Seien Sie für einige Zeit mein Gast. Die Gelegenheit, in Gesellschaft von Damen zu sein, ist so selten, dass ich mich in Ihrer Gesellschaft sehr wohlfühle. Ich würde mich freuen, mit Ihnen zu Abend zu essen und aus Ihrem Munde einige Einzelheiten über Ihr Leben zu erfahren.
Am nächsten Morgen, als die beiden Eheleute gerade gemeinsam ein reichhaltiges Frühstück einnahmen, verkündete der Diener: »Ein Brief für Sie.«
Der Engländer warf einen kurzen Blick auf den eleganten Umschlag und steckte ihn ungeöffnet in die Tasche.
»Von meinem Bankier«, erklärte er Aglaja Fedorsky beiläufig, die neugierig geworden war.
»Sagen Sie mir«, fuhr er fort und hob die Tasse langsam an die Lippen, »wissen Sie, wohin dieses Leben Sie führen wird, wenn Sie dem Anarchismus nicht rechtzeitig den Rücken kehren?«
»Ach«, sagte sie resigniert, »das weiß ich nur zu gut … in den Tod.«
»Ja, an den Galgen, zu einem vorzeitigen Ende, ohne Ehre und Ruhm.«
»Noch einmal, ich weiß es, aber solche Überlegungen können mich nicht von dem abbringen, was ich als meine Pflicht und den Sinn meines Lebens betrachte.«
»Unter keinen Umständen?«, fragte Lord Roseberry und sah sie mitleidig an.
»Nein, unter keinen Umständen. Wenn meine Mission in Paris scheitert und ich lebend hier herauskomme, kann ich immer noch sehen, wie ich meine Zukunft gestalte. Im Moment schreit mein ganzes Wesen nach Rache.«
»Nun gut, ich habe mein Möglichstes getan, um Sie zu warnen. Glauben Sie mir, Sie werden in Paris nicht viel Erfolg haben.«
Die Russin schmollte und blies Rauchschwaden aus ihrer Zigarette in die Luft. Lord Roseberry stand auf und verabschiedete sich als Mann von Welt höflich von seiner angeblichen Frau.
»Ich gehe zu meinem Bankier«, entschuldigte er sich. »Ich hoffe, zum Abendessen zurück zu sein.«
Zurück in seinem Zimmer riss er den Umschlag auf und verkroch sich in die Fensterecke, um sicherzugehen, dass Aglaja ihn nicht durch das Schlüsselloch beobachten konnte. Er las:
Mylord, ich habe aus vertraulicher Quelle von Ihrer Ankunft erfahren. Es würde mich freuen, wenn Sie die Zeit fänden, zu mir zu kommen, da mich eine Unpässlichkeit ans Bett fesselt.
Mit der Versicherung meiner besonderen Hochachtung
Prinz Nischkoff
Lord Rosebery senkte den Brief und warf einen nachdenklichen Blick aus dem Fenster. »Ich muss zugeben, dass Prinz Nischkoff von seinen Spionen gut bedient wird«, murmelte er. Der russische Beamte hat ihm zweifellos gestern Abend Bericht erstattet, ihm meine Visitenkarte gezeigt und ihm von meinem Abenteuer mit der Anarchistin erzählt. Der Kerl ist schlauer, als ich gedacht hätte. Er ist nicht auf meinen Trick hereingefallen. Sie muss sich hier vor den Russen in Acht nehmen. Ich kann nichts mehr für sie tun. Ich muss sofort zum Prinzen. Ich bin gespannt, wie er mich empfangen wird.«
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass seine angebliche Braut ihr Zimmer nicht verlassen hatte, kleidete er sich elegant und begab sich zum Wohnsitz des Prinzen Nischkoff.
Der Diener, der ihm öffnete, empfing ihn wenig einladend. Offensichtlich hatte er die Anweisung, alle ungebetenen und unbekannten Personen abzuweisen.
Doch kaum hatte er die Visitenkarte des Lords gelesen, bat er ihn, ihm in die Gemächer seines Herrn zu folgen.
Der Prinz, von hoher und imposanter Statur, war vielleicht vierzig Jahre alt. Als er den Namen Lord Roseberry hörte, sprang er hastig auf.
»Verzeihen Sie«, sagte er zu dem englischen Gentleman, »ich dachte, ich hätte es mit einem alten Bekannten aus Sankt Petersburg zu tun, da Sie meinen Namen am Zoll genannt haben. Sie sind nicht der Freund, den ich erwartet habe. Mit welchem Recht haben Sie das getan?«
»Um den Durchsuchungen der Zollbeamten zu entgehen«, antwortete Lord Roseberry mit einem friedlichen Lächeln.
»Sie kennen mich also überhaupt nicht?«, fragte Prinz Nischkoff mit gerunzelter Stirn.
»Nein, Eure Hoheit, ich habe Sie noch nie gesehen«, war die ruhige Antwort.
Der Prinz trat einen Schritt zurück und öffnete wie aus Versehen eine Schublade seines Schreibtisches.
»Irre ich mich also nicht mit meiner Schlussfolgerung, dass Sie nicht der sind, für den Sie sich ausgeben?«
»Richtig geschlossen, Eure Hoheit«, erwiderte der Engländer mit unveränderlicher Gelassenheit.
»Elender!«, rief der Russe und zog einen Revolver aus der Schublade. »Sie sind also ein Anarchist, der diesen Trick benutzt hat, um in mein Haus einzudringen? Wenn Sie sich bewegen, erschieße ich Sie wie den Hund, der Sie sind!«
Der sogenannte Lord strich sich resigniert über den Bart und sah den Prinzen ohne mit der Wimper zu zucken an.
»Wenn ich einer Ihrer Feinde wäre, wären Sie nicht mehr am Leben«, antwortete er. »Sie werden mir zustimmen, dass Sie während unseres gesamten Gesprächs ein ausgezeichnetes Ziel für mich waren.«
Der Prinz legte seine Waffe nieder. Er schien die Richtigkeit dieses Arguments einzusehen.
»Dann«, wagte er, »sagen Sie mir wenigstens, warum Sie einen falschen Namen angenommen haben. Und wissen Sie, dass Sie eine äußerst gefährliche Anarchistin beschützt haben?«
»Wenn ich das nicht wüsste, wäre ich nicht der, der ich bin.«
»Aber schließlich«, rief der Prinz verzweifelt, »enttarnen Sie sich! Sagen Sie mir, wer Sie sind und was Sie wollen!«
Der Lord riss sich den grauen Bart und die Perücke vom Kopf.
»Haben Sie schon einmal von dem Detektiv Harry Dickson gehört, Eure Hoheit?«, fragte er spöttisch.
»Harry Dickson!«, rief der Prinz begeistert und streckte dem Besucher beide Hände entgegen. »Sie können unmöglich mein Feind sein. Sonst wären Sie nicht der Vertraute meiner armen Anne, meiner verstorbenen Gräfin Sadetzky, gewesen. Ach, Sie können sich nicht vorstellen, was ich mit ihr verloren habe!«
»Sie ist für Sie gestorben, Hoheit. Sie wurde von den Patrioten getötet, weil sie Sie rehabilitieren wollte.«
Der Prinz ließ sich in einen Sessel fallen und bedeckte sein Gesicht.
»Ich habe es vermutet«, seufzte er traurig.
Aber wie konnten Sie gestern Aglaja Fedorsky helfen? Wussten Sie nicht, dass sie mir nach dem Leben trachtet? Erst seit wenigen Stunden weiß ich, dass es ihr gelungen ist, sich als Zofe bei Gräfin Sadetzky einzuschleichen.«
»Hätte ich ihre Spur in Paris verlieren sollen?«, entgegnete Harry Dickson. »Auf diese Weise habe ich sie im Blick, und sie kann mir nicht entkommen. Wenn Sie mich heute nicht eingeladen hätten, wäre ich von selbst gekommen. Ich wollte Sie insbesondere vor der Fedorsky und ihresgleichen warnen, vor allem vor bestimmten Personen, die versuchen könnten, einen schachspielenden Automaten bei Ihnen einzuschleusen.
»Und ist das der einzige Grund, warum Sie die Reise von London nach Paris unternommen haben?«
»Nein!«, donnerte Harry Dickson. »Der Hauptgrund ist die Suche nach dem Mörder der Gräfin Sadetzky. Ich würde mich sehr über Ihre Mitarbeit freuen.«
»Sie können auf mich zählen«, antwortete der Prinz lebhaft. »Sagen Sie mir, was ich tun soll.«
»Wenn Ihnen vorgeschlagen wird, den schachspielenden Automaten bei Ihnen vorzuführen, nehmen Sie sofort an. Benachrichtigen Sie mich aber dringend, denn in diesem Gerät liegt das Geheimnis des Todes der Gräfin Sadetzky. Nur verraten Sie meinen richtigen Namen niemandem, nicht einmal Ihrem treuesten Diener. Lassen Sie mich vorläufig Lord Roseberry bleiben.«
»Einverstanden«, sagte der Prinz. »Ich unterwerfe mich vorbehaltlos Ihren Anweisungen und werde sofort entsprechende Anordnungen treffen.«
Nachdem er den Besucher gebeten hatte, sich zu ihm zu setzen, drückte er einen elektrischen Knopf. Der Diener, ein waschechter Russe, trat ein. Harry Dickson hatte gerade noch Zeit, seinen Bart und seine Perücke wieder anzulegen.
»Wladimir«, sagte der Prinz zu seinem Diener, »bringen Sie uns den besten Wein, den Sie im Keller finden können. Ich möchte die Rückkehr eines meiner besten Freunde gebührend feiern. Merken Sie sich außerdem, dass Lord Roseberry hier jederzeit ohne Ankündigung hereinkommen darf. Verstanden? Und jetzt, Pascholl!«
Der Diener verbeugte sich und beeilte sich, den Befehl seines Herrn auszuführen. Als er zurückkam, waren die beiden Männer in ein vertrauliches Gespräch über die Lage in Amerika vertieft. Im Laufe des Gesprächs hatte sich der Prinz als ausgezeichneter Kenner Amerikas erwiesen, das er mehrfach bereist hatte. Der Detektiv wiederum nutzte jede Gelegenheit, um über sein Heimatland zu sprechen, und war daher gerne zu einem Meinungsaustausch über dieses Thema bereit.
In England nannte man ihn den amerikanischen Detektiv – und das nicht ohne Grund!
Nach einer Stunde freundschaftlicher Unterhaltung verabschiedete sich der Detektiv.
»Hier«, sagte der Prinz, als er sich von seinem Gast verabschiedete, »ist eine Einladung zu einer Feier, die ich nächste Woche für meine Pariser Freunde gebe. Wenn Sie Lust haben, würde ich mich über Ihr Kommen freuen.«
Auf dem Heimweg fragte sich Harry Dickson, ob er Aglaja von seinem Besuch beim Prinzen erzählen sollte. Wer wusste schon, ob er nicht von russischen Patrioten beobachtet wurde? Er konnte sich nicht entscheiden. Im Hotel angekommen, zog er seinen Smoking aus und legte ihn über die Rückenlehne eines Stuhls. Da ihm der berauschende Wein des Prinzen schwer im Magen lag, legte er sich auf das Sofa und schlief bald tief und fest ein.
Die Seitentür öffnete sich leise und Aglaja Fedorsky schlich sich mit angehaltenem Atem herein.
Einen Moment lang lauschte sie, ob der Lord durch das Geräusch aufwachte, doch er schnarchte munter weiter. Sie zog ihre Schuhe aus und schlich wie eine Schlange ins Zimmer.
Mit starrem Blick auf den Schlafenden schlich sie sich zu dem über den Stuhl geworfenen Mantel. Mit einer schnellen Handbewegung war sie im Besitz des Briefes, den der Prinz an den Pseudolord Roseberry geschrieben hatte. Sie las den Brief schnell durch.
»Er ist tatsächlich der, für den er sich ausgibt«, schloss sie, »außerdem kann sich nur ein Lord so prächtige Zimmer leisten. Zum Glück ahnt er nichts von meiner Beziehung zu seinem Freund.«
Sie faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder in die Innentasche des Smokings, aus der sie ihn genommen hatte. Ihre Hand glitt bereits zurück, als ihre Finger die Karten streiften, die der Detektiv vor knapp einer halben Stunde vom Prinzen erhalten hatte.
»Was ist das?«, fragte sie sich neugierig.
Sie zog die Karten heraus, betrachtete sie und flüsterte zwischen zusammengebissenen Zähnen: »Einladungen zu einem Ball, den Prinz Nischkoff in Kürze geben wird. Das kommt gerade recht! Ah, mein würdiger Lord Roseberry«, schwärmte sie, während ein dunkles Feuer in ihren Augen aufblitzte. »Das ändert meine Pläne. Jetzt kann ich nicht länger bei Ihnen bleiben. Sie würden eine Anarchistin wie mich doch nicht zu diesem Ball mitnehmen, der sehr fröhlich werden dürfte!«
Sie steckte die beiden Karten in ihr Mieder und schlich leise davon.
Als Harry Dickson wenig später erwachte, blieb er einige Minuten mit offenen Augen liegen.
»Ich habe geträumt, dass Aglaja neben mir stand und mich spöttisch ansah«, sagte er zu sich selbst. »Sie lachte mich aus, als hätte sie böse Absichten. Wie konnte ich nur so deutlich träumen? Ich glaubte sogar, den Duft zu riechen, der mich schon einmal in der Höhle der Patrioten verraten hatte.«
Er stand auf und roch daran.
»Kein Zweifel«, flüsterte er. »Während ich schlief, muss die Russin hier gewesen sein. Sie hatte wohl etwas auf dem Herzen und wollte mich nicht stören. Das ist doch schade von dem jungen Mädchen. Sie rennt offen in ihr Unglück. Aber … Was ist das? Ein Brief auf dem Tisch! Hat sie ihn dort hingelegt?
Er öffnete fieberhaft den Umschlag und überflog die Nachricht:
Mylord, nach reiflicher Überlegung habe ich mich entschlossen, Sie zu verlassen und einen anderen Rückzugsort zu wählen. Ich möchte Ihnen keine hohen Schulden hinterlassen. Mit freundlichen Grüßen und in der Hoffnung, dass Sie mich nicht vergessen werden, verbleibt eine Unglückliche
Harry Dickson pfiff zwischen den Zähnen, wie er es immer tat, wenn ihm eine Angelegenheit nicht ganz klar war. Er las den Brief der Anarchistin mehrmals durch.
»Sie lügt dreist«, schlussfolgerte er. »Sie wird nicht nach Russland zurückkehren, bevor sie sich mit ihren Kameraden an Prinz Nischkoff gerächt hat. Auch wenn dieser bereits alle Vorkehrungen getroffen haben wird, werde ich die Augen offen halten. Jetzt ist es an meinem treuen Tom, mich über die Taten und Handlungen von Fräulein Aglaja auf dem Laufenden zu halten. Es besteht schließlich kein Zweifel, dass sie sich an die Adresse begeben hat, die sie ihm genannt hat, bevor sie London verlassen hat.
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