Das Abenteuer der Spielzeuglaterne
Horace Smith, ein liebenswürdiger, gebildeter und gesetzestreuer Engländer, der in Muswell Hill nahe dem Highgate Woods in der Nähe von London in einem großen Haus lebte, wurde Anfang Mai 1896 ermordet aufgefunden. Sergeant-Inspector Gregory, einer der erfahrensten Detektive von Scotland Yard, wurde mit dem Fall betraut. Er war ein Mann vom Schlag eines Sherlock Holmes – mit dem Unterschied, dass er eine reale Person war, die sich mit den tatsächlichen Ereignissen des Alltags auseinandersetzen musste und keinen Dr. Watson zur Seite hatte. Inspektor Gregory fand Fußspuren im Garten und im Staub zertretene Blumen mit Blut darauf. Außerdem entdeckte er ein Brecheisen und eine Spielzeuglaterne, die möglicherweise einem Kind gehört hatten. Zwei Wochen lang arbeitete er ohne Ergebnis. Doch er war selbst Blumenliebhaber und wollte unbedingt wissen, wie dieser harmlose Blumenfreund zu Tode gekommen war. Außerdem war er bei Scotland Yard als Stick-at-it-Gregory bekannt. Am Ende des Monats konzentrierte er all seine Gedanken auf diese Spielzeuglaterne. Er beschloss, herauszufinden, was sie von anderen Laternen unterschied. Er nahm sie auseinander und brütete darüber. Schließlich fand er den entscheidenden Hinweis im Docht der Spielzeuglaterne. Es war nicht die Tatsache, dass es sich um einen Docht handelte, sondern vielmehr dessen Beschaffenheit. Er war offensichtlich selbst hergestellt und aus einem Stück Tartanstoff gefertigt, wie er üblicherweise für Kleider von Mädchen und jungen Frauen verwendet wird. Unter dem Mikroskop stellte sich zudem heraus, dass es sich um einen schottischen Karostoff handelte. Er war scharlachrot gewesen, mit dunkelgrünen Streifen und gelben sowie schwarzen Linien durchzogen. All diese Details kamen nicht auf einmal zum Vorschein, sondern entwickelten sich nach und nach im Laufe der Ermittlungen. Gregory war begeistert. Er hatte nun etwas Greifbares, mit dem er arbeiten konnte. Es war nur eine Frage der Zeit, mit den Herstellern von schottischen Plaids und den Geschäften, die diese an Schneiderinnen und kleine Händler verkauften, in Kontakt zu treten. Das gelang nicht an einem Tag oder in einer Woche, aber schließlich führte es ihn zu einem Haus in einem Armenviertel von London, in dem Mrs. Emma Millsom wohnte. Ihre Tochter trug ein Kleid aus demselben Stoff, aus dem der Docht in der Spielzeuglaterne hergestellt worden war! Das war eine äußerst wichtige und erstaunliche Entdeckung. Die Frau gab zu, dass sie etwas von dem Stoff im Haus hatte und dass ein Teil davon für die Herstellung des Dochtes der Laterne verwendet worden war. Schnell stellte sich heraus, dass Mrs. Millsom persönlich unschuldig war. Bald kam jedoch ans Licht, dass sie einen Schwager namens Jack Millsom hatte, der wiederum einen Freund namens Bill Fowler hatte. Beide waren der Polizei bekannt.
Sie hatten eine Zeit lang bei ihr gewohnt und waren in der Nacht, in der der arme Horace Smith in Muswell Hill auf so grausame Weise ermordet wurde, mit der Spielzeuglaterne ausgegangen. Hier lagen überzeugende Indizien vor. Als Nächstes galt es, die Männer festzunehmen. Sie waren jedoch nicht zu Hause und nicht einmal in London. Mrs. Millsom beteuerte unter Tränen, dass sie keine Ahnung habe, wo sie sich aufhielten. Sie tat alles, um ihren Schwager zu schützen, und sagte, dass er zwar eigensinnig sei, aber nicht als Berufsverbrecher angesehen werden dürfe.
»Aber er hat doch kein Gewerbe«, protestierte der Detektiv. »Er hat keine ehrliche Arbeit, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.«
»Doch, das hat er, Sir.«
»Was ist er?«
»Er ist Künstler«, antwortete sie nicht ohne Stolz.
Der Detektiv war verwirrt – und sah auch so aus. »Meinen Sie einen Maler?«
»Oh nein, er ist ein Darsteller. Er reist manchmal mit dem Zirkus.«
Der Detektiv hörte diese Worte mit großer Genugtuung. Das brachte ihn auf eine neue Fährte. Er besuchte die verschiedenen Theater- und Vergnügungsagenturen in London und hatte bald sowohl Millsom als auch Fowler ausfindig gemacht. Beide hatten sich bei Foster’s Big Show engagiert, die gerade auf Provinztournee war. Millsom hatte sich als Allrounder verpflichtet, Fowler sollte der Kraftmensch des Zirkus sein. Nun war es relativ einfach, die beiden Männer zu finden. Aus den in den Theaterzeitungen veröffentlichten Terminen ging hervor, dass die Foster Show mit ihrer größten und prächtigsten Ansammlung von Wundern, die jemals unter einem einzigen Zeltdach versammelt wurden, am folgenden Nachmittag und Abend in Bath zu sehen sein sollte. Gregory berichtete diese Fakten seinem Chef, Mr. Macnaughton – heute Sir Melville L. Macnaughton –, der ihn anwies, den Fall bis zu seinem natürlichen Ende zu verfolgen. Dementsprechend brach Gregory am nächsten Morgen in Begleitung eines vertrauenswürdigen Assistenten nach Bath auf. Kurz vor Mittag erreichten sie die zu Recht als schönste Stadt Englands bezeichnete Stadt. Der Detektiv hatte Fotos von Millsom und Fowler beschafft und während der hundert Meilen langen Fahrt seine Vorgehensweise geplant. Er beschloss, sich zunächst einen Eindruck von den Männern zu verschaffen. Ein Versuch, sie im Zirkus zu verhaften, hätte Panik auslösen können und sie hätten möglicherweise in der Aufregung entkommen können. Das Publikum vergöttert seine Darsteller oft und wenn der Detektiv harte Bandagen angelegt hätte, hätte er möglicherweise das Nachsehen gehabt. Daher beschloss er, den Männern zu ihrer Unterkunft zu folgen und sie dort zu verhaften. All dies war bereits geplant, als Gregory und sein Begleiter die alte Stadt erreichten. Überall hingen Plakate, die für die Vorstellungen der wunderbaren Show warben. Millsoms Name war nicht so auffällig wie einige andere, was darauf hindeutete, dass er ein untergeordnetes Mitglied der Truppe war. Die Beamten nahmen ein hastiges Mittagessen am Bahnhof ein und stellten fest, dass sie noch zwei Stunden Zeit hatten, bevor die Nachmittagsvorstellung begann.
Die Pause verbrachten sie mit Besichtigungen. Die malerische Stadt Bath liegt inmitten einer Art natürlichem Amphitheater. Die Terrassen, die zum Rand der Anlage führen und mit Dutzenden schönen Gebäuden aus weißem Stein geschmückt sind, boten einen wunderschönen Anblick für die Augen, die vom monotonen Leben in den Straßen Londons müde waren. Sie tranken von dem Wasser, das die Stadt berühmt gemacht hat, und erfuhren, dass Bath schon in der Römerzeit bekannt war und unter Claudius die ersten Bäder errichtet wurden. Sie besichtigten die Abteikirche, das Gildehaus und eine von Edward VI. gegründete Grammatikschule. Dann beschlossen sie, sich zum Zirkus zu beeilen.
Als sie das Zelt erreichten, hatte die Vorstellung bereits begonnen. Der zuvorkommende Kartenverkäufer verschaffte ihnen jedoch Plätze und bemerkte fröhlich, dass immer Platz für zwei mehr sei. Hätte er geahnt, dass diese beiden ihm eine seiner Attraktionen rauben wollten, wäre er vielleicht nicht so fröhlich gewesen. Es folgten die üblichen Darbietungen: dressierte Hunde, waghalsige Reiter und dressierte Affen. Der starke Mann kam etwa in der Mitte des Programms, zwischen einem Glockenspielquartett und einem Stangenbalancierenden. In dem Moment, als er in der Manege erschien, wusste Gregory, dass er den richtigen Mann gefunden hatte. Er sah genauso aus wie auf dem Foto. Er vollführte einige wirklich beeindruckende Kraftakte. Als der Mann von Scotland Yard seine riesigen Arme und seine ungewöhnlich entwickelten Muskeln betrachtete, wunderte er sich nicht, dass der arme alte Horace Smith ohne Widerstand gestorben war.
Der Brute, wie Gregory ihn nannte, sah in seiner Strumpfhose und den Pailletten sehr gut aus. Doch der Detektiv stellte sich die Szene in Muswell Hill vor und erschauerte, selbst als das Publikum die Darbietung mit tosendem Applaus begrüßte. Nachdem er Fowler identifiziert hatte, brauchte er nur wenige Minuten, um Millsoms Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Dieser war für die Tiere zuständig und fungierte als Handlanger. Nun stellte sich die Frage, wie man die Männer festnehmen konnte. Große Shows haben Feldbetten dabei und die Männer schlafen in Zelten, doch Fosters wunderbare Ansammlung war in Wirklichkeit eine drittklassige Angelegenheit. Offensichtlich war sie für eine kurze Tournee organisiert worden, in der Hoffnung, etwas Geld zu ergattern, das die erstklassigen Shows übersehen hatten.
Nach der Vorstellung fand der Detektiv heraus, dass seine Männer in einer billigen Herberge namens Black Bear Inn untergekommen waren. Er informierte die örtliche Polizei über seinen Auftrag in Bath. Der Polizeichef war geschmeichelt, dass Scotland Yard ihm in einem so großen Fall sein Vertrauen schenkte. Er erklärte sich bereit, mehrere seiner Beamten zur Unterstützung bei der Festnahme der Mörder von Muswell Hill abzustellen. Man beschloss, sie zu fassen, sobald sie mit dem Abendessen fertig waren und bevor sie zum Zirkus zurückkehrten.
Es war wahrscheinlich sieben Uhr, als Gregory im Büro des Black Bear Inn anrief und nach Fowler fragte.
»Er ist in seinem Zimmer«, sagte der Angestellte. »Möchten Sie ihm eine Karte schicken?«
Der Detektiv lächelte.
»Nein«, antwortete er, »ich möchte mich nicht mit solchen Formalitäten aufhalten. Einige seiner Freunde möchten ihn hier überraschen. Wenn Sie nichts dagegen haben, gehen wir gleich nach oben.«
Und so gingen sie die schmale Treppe hinauf, einer hinter dem anderen. Vorneweg ging Gregory, gefolgt von seinem Assistenten und vier Beamten aus dem Polizeipräsidium von Bath. Der alte Mann hatte seine Pistole in der Gesäßtasche und hielt die Hand darauf, für den Fall der Fälle. Oben stieß er mit einer Person zusammen, die sich als Millsom herausstellte.
»Wo zum Teufel wollen Sie hin, Sie dummer Trottel?«, knurrte der Verbrecher den Detektiv an.
»Entschuldigen Sie bitte«, antwortete Gregory höflich, »das war ein Versehen.« »Versehen, von wegen«, knurrte der andere, »pass auf, wo du hingehst.«
»Was hast du da an den Händen?«, rief Gregory plötzlich.
Ohne nachzudenken, streckte Millsom beide Hände aus und starrte sie dumm an.
»Ich sehe nichts«, begann er, »ich bin …«
Doch bevor er den Satz beenden konnte, hatte der Detektiv ein Paar glänzende Handschellen aus seiner Tasche gezogen und sie über die ausgestreckten Handgelenke gelegt. Die Plötzlichkeit des Angriffs verschlug Millsom den Atem. Als ihm die Bedeutung des Geschehens dämmerte, wurde ihm seine missliche Lage bewusst. Er hatte zwar wenige Skrupel, aber er hatte Respekt vor der scharfen Seite eines Revolvers. Er war ohnehin ein Gefangener und jeder Widerstand seinerseits wäre vergeblich gewesen. Außerdem hätte er höchstens Fowler alarmieren können – warum sollte er für diesen stämmigen Schurken ein Risiko eingehen? Elend liebt Gesellschaft, und Millsom verspürte für einige Augenblicke Freude bei dem Gedanken, dass sein Kumpel bald in derselben Lage sein würde wie er. Er wurde zwei Polizisten übergeben, leise die Treppe hinuntergeführt und in das örtliche Gefängnis gebracht, um dort weitere Entwicklungen abzuwarten.
In der Zwischenzeit hatten Gregory und seine Assistenten die Treppe nicht verlassen. Ihre Aufgabe war nun wesentlich einfacher geworden. Sie hatten nur noch einen Mann zu erledigen. Trotzdem gingen sie mit größter Vorsicht vor. Der alte Mann zögerte, in den Raum zu stürmen. Er hatte es mit einem verzweifelten Mann zu tun, der wahrscheinlich bewaffnet war. Selbst wenn er ihn überraschen würde, könnte dieser einige der Beamten ins Jenseits befördern. Also beschloss er, mit Strategie statt mit Gewalt vorzugehen. Er klopfte an die Tür von Fowlers Zimmer.
»Herein!«, rief eine mürrische Stimme.
Gregory drehte den Knauf und trat ein. Es war ein Zimmer von normaler Größe mit einem Fenster. In der Nähe des Kamins stand ein Mann von herkulischer Statur und rauchte eine Tonpfeife. Er blickte den Eindringling wild an.
»Nun, was wollen Sie?«
»Mr. Fowler, wenn ich mich nicht irre?«, schnurrte der Detektiv.
»Das ist mein Name. Was wollen Sie von mir?«
Ohne Vorrede platzte Gregory heraus: »Ich will Sie wegen des Mordes an Horace Smith!«
Fowler zuckte zusammen, seine Finger zitterten und die Tonpfeife glitt ihm aus der Hand. Sie zerschellte an der gemauerten Feuerstelle. Er sah sich um und entdeckte das Fenster und die offene Tür. Mit einem Knurren stürzte er sich auf den Scotland-Yard-Mann. Doch Gregory trat beiseite, und der Riese brach durch die offene Tür – nur, um in die Arme der wartenden Polizisten zu laufen.
Als die beiden Mörder vor Gericht gestellt wurden, kam es zu einer dramatischen Szene im Gerichtssaal. Fowler glaubte, Millsom habe ihn verraten.
»Du wirst singen, nicht wahr, du Verräter? Ich werde dir etwas geben, das du nie vergessen wirst!«
Er stürzte sich auf die Kehle seines Kumpels, doch Gerichtsbeamte griffen ein und verhinderten eine weitere Tragödie. Der anschließende Prozess gegen Millsom und Fowler führte zur raschen Verurteilung beider Männer. Die Beweise gegen sie waren erdrückend. Doch der entscheidende Beweis, der ihre Festnahme ermöglicht hatte, spielte im Prozess keine Rolle. Dennoch war es dieser Beweis, der ihr Schicksal besiegelte. Er führte dazu, dass sie, wie es im Gesetzestext heißt, durch den Strang hingerichtet wurden. Dies erinnert an die Theorie eines berühmten amerikanischen Detektivs. Er wies oft darauf hin, dass ein Verbrecher, so gut er auch planen mag, immer eine Lücke in seinem Plan hinterlässt. Sei es auch nur ein kleiner Riss oder eine winzige Spalte, durch die der Detektiv die kleine silberne Sonde seines Fachwissens einführen und so die Wahrheit aufdecken kann.

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