Nick Carter – Band 18 – Ein Dynamitattentat – Kapitel 2
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein Dynamitattentat
Ein Detektivroman
Kapitel 2
Ein Auftrag für Patsy
Der Detektiv lag wohl eine Minute lang halb bewusstlos auf dem Trottoir, dann kam er jedoch wieder zu sich, setzte sich rasch auf und starrte verstört um sich.
Den Straßendamm bedeckte noch eine dichte Rauchwolke, und die Luft war erfüllt von Pulvergeruch.
Im Umkreis war jede Fensterscheibe zerbrochen, und der große Möbelwagen stand quer auf der Straße. Die Arbeiter waren zum Glück im Haus beschäftigt gewesen, als die Explosion stattfand, und der Kutscher kam nun eilig herbei, um die wild in den Strängen schlagenden Pferde zu beruhigen. Die auf dem Bürgersteig aufgestellten Möbelstücke waren größtenteils zerschmettert. Das vor dem Unglückscab angespannte Pferd lag auf dem Pflaster und wand sich vor Schmerzen.
Der Kutscher war über den Kopf seines Tieres geschleudert worden. Er schien unverletzt geblieben zu sein, war aber noch völlig benommen und konnte seinem Pferd nicht zu Hilfe kommen.
Nick stand auf und betastete seine Glieder.
»Alles ist heil und ganz«, brummte er vor sich hin, »mein Glück blieb mir wieder einmal treu!«
Der Kopf brummte ihm von der Wucht des Aufpralls, doch seine Gedanken waren klar.
Er begab sich auf den Straßendamm. Als er sah, dass das Pferd tödlich verletzt war, zog er seinen Revolver und beendete die Qualen des Tieres mit einem raschen Schuss.
Seine Handlung diente indes nur dazu, die allgemeine Aufregung zu steigern. In hellen Haufen waren Männer und Frauen auf die Straße gelaufen, schreiend und händeringend, mit entsetzten Mienen, um sich nach dem schrecklichen Zwischenfall zu erkundigen. Als der Schuss aus dem Revolver dröhnte, stoben die Frauen wie ein gescheuchter Schwarm Tauben in die Häuser zurück, dafür wurde es in deren geöffneten Fenstern lebendig.
Mit der üblichen Verspätung kam ein Polizist herangekehrt. Er schien große Lust zu haben, den Detektiv zu verhaften, doch wenige Worte genügten, um ihn eine sehr respektvolle Haltung einnehmen zu lassen.
»Well, Mr. Carter …«
»Erwähnen Sie meinen Namen nicht wieder!«, unterbrach ihn der Detektiv. »Meine Gabe wurde durch eine Wurfbombe in die Luft gesprengt. Ich hörte das Surren des Zünders gerade noch rechtzeitig genug, um mich durch einen Sprung aus dem Wagen zu retten.«
»War das Attentat auf Ihre Person gemünzt?«
»Ich weiß es nicht. Bitte schauen Sie nach dem Kutscher. Dann bitten Sie die Leute in der Nachbarschaft, das Feuer mit einigen Kübeln oder Eimern Wasser auszulöschen. Darum bedarf es keines Feueralarms. Ich will mich inzwischen etwas umschauen!«
Damit begab sich Nick Carter auch schon zur nächsten Haustür, doch die Gaffer, die sich dort versammelt hatten, schreckten bei seiner Annäherung zurück, als hätten sie einen Feind entdeckt.
»Es gibt keinen Grund zur Sorge«, versuchte Nick die verstörten Hausbewohner zu beschwichtigen. »Ich will Ihnen nichts zuleide tun. Hat vielleicht einer von Ihnen den Mann gesehen, der die Bombe unter meinen Wagen geworfen hat?«
Sie starrten ihn an, ohne zu antworten. Es war, wie Nick alsbald erkannte, armes Volk, und jeder von ihnen hatte Angst, selbst für den Schuldigen gehalten zu werden.
Das nötigte dem Detektiv nur ein Lächeln ab, denn seiner Ansicht nach musste dem Cab ein Fremder in schnellem Lauf gefolgt sein und in einem günstigen Augenblick die Bombe unter den Wagen geschleudert haben. Angesichts der allgemeinen Verwirrung konnte der Attentäter leicht geflüchtet sein oder sich noch irgendwo in der Nachbarschaft versteckt halten. Dies auszufinden, war der Detektiv fest entschlossen.
»Ich muss Ihre Wohnungen durchsuchen«, sprach er deshalb die unter dem Haustor Versammelten erneut an. »Ich bin im Dienst, und der Polizist wird Ihnen bestätigen, dass ich hierzu das Recht habe!«
Niemand wandte etwas dagegen ein, einige begleiteten ihn sogar durch die Wohnungen und gaben ihm Auskunft, so gut sie konnten. Der Detektiv hatte sich inzwischen die Gesichter der Anwohner genau angesehen. Er konnte sich auf sein Gedächtnis verlassen und wusste daher schon nach kurzer Zeit, dass ihm all diese Personen völlig fremd waren. Darum gab er sich nicht erst die Mühe, auch in den oberen Stockwerken nachzuschauen, denn dorthin hatte sich der Attentäter ohnehin nicht geflüchtet.
Im Souterrain des Hauses hatte ein Chinese einen Waschsalon. Die schlitzäugigen Söhne des Himmlischen Reiches waren stumm und schweigsam bei ihrer Bügelarbeit, als ob sich nichts ereignet hätte. Doch der Detektiv erinnerte sich genau daran, dass er nach dem Laden geschaut hatte, als er sich in halber Betäubung auf der Matratze aufgerichtet hatte. Damals waren die Zopfträger in großer Erregung gewesen. Sie waren allesamt unter der Straßentür erschienen, die meisten mit Plätteisen, einer dagegen mit einem Bündel Wäsche in der Hand.
Als Nick den Laden betrat, sah er den Besitzer hinter dem Tisch, der gerade damit beschäftigt war, jenes Bündel auszupacken.
»War ein Fremder im Laden, als die Explosion geschah?«, erkundigte sich der Detektiv.
»Nein, wir waren alle allein!«, stotterte der Mann.
»Arbeiteten eure Leute alle im Hinterzimmer dort?«
»Alle zusammen arbeiteten im Hinterzimmer – acht Mann hoch!«, stotterte der Chinese.
»Kam nachher irgendjemand in den Laden?«
»Ich nicht wissen!«
Zwischen dem Ladentisch und dem Schaufenster befand sich ein hoher Vorratsschrank. Zwischen ihm und dem Fenster war genug Platz, um einen Menschen zu verstecken, der nach Laden und Straße gleichermaßen nicht zu sehen war.
Nick erkannte durch weitere Fragen, dass kaum eine Minute vor der Explosion ein Unbekannter in den Laden getreten, schweigend ein Wäschebündel abgegeben und von dem Besitzer das übliche Ticket dafür erhalten hatte. Der Chinese hatte sich ins Hinterzimmer begeben, um das Bündel weiterzugeben. Als er eine Minute später zurückkehrte, hatte er das Gefühl, den Fremden, den er nicht näher beschreiben konnte, unter der Straßentür wahrgenommen zu haben. Im gleichen Moment war die Explosion erfolgt. Ob der unbekannte Kunde die Bombe geworfen hatte, wusste der Sohn des Reiches der Mitte nicht.
Das abgegebene Bündel enthielt wertlose, schmutzige Wäsche, die offenbar von verschiedenen Eigentümern stammte und die man in jedem billigen Geschäft kaufen konnte; sie war kaum das Waschen wert.
Die Frage, ob niemand einen Fremden aus dem Wäschereigeschäft hatte kommen sehen, konnte unter den Hausbewohnern und Nachbarn nicht beantwortet werden. Es war kurz vor der Mittagsstunde und die Straße war ohnehin äußerst belebt; wer hätte da auf einen einzelnen Mann geachtet? Die allgemeine Aufmerksamkeit war erst durch die Explosion rege geworden, und erst danach hatte man sich nach dieser und der angerichteten Verwüstung umgeschaut.
Of course, dachte Nick. Der Attentäter ging kühn zu Werke, weil er darauf zählte, im allgemeinen Durcheinander nicht wahrgenommen zu werden – und der Erfolg gab ihm Recht. Ich möchte nur wissen, ob die Bombe mir galt!
Wahrscheinlich war dies auf jeden Fall der Fall, denn Nick Carter besaß auch in Chicago genug Feinde, die ihn mit Wollust um die Ecke brachten, sahen sie eine Möglichkeit dazu. Wie dem auch sei, Nick Carter selbst hatte keine Zeit, den dringend weiter zu verfolgenden Zwischenfall aufzunehmen – dies umso weniger, als der Arzt der herbeigerufenen Ambulanz den Zustand des Kutschers, der eine schwere Gehirnerschütterung erlitten hatte, für ziemlich bedenklich erklärte. Er war auf jeden Fall nicht vor Ablauf einiger Tage wieder vernehmungsfähig.
»Das ist ein Fall für Patsy!«, entschied der Meisterdetektiv.
Er schickte seinem Jüngsten eine Depesche und begab sich dann weiter zum Glenn’schen Trauerhaus.
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