Die Abenteuer des Harry Dickson – Band 1 – Kapitel 4
Die Abenteuer des Harry Dickson
Band 1
Einem schrecklichen Tod entkommen
Kapitel 4
Zum Tode verurteilt
Es wurde entschieden, dass Harry Dickson sterben müsse. Eine drückende Dunkelheit umgab sie, als der Fahrer, der sich in dieser undurchdringlichen Umgebung scheinbar gut zurechtfand, Harry Dickson bei der Hand nahm und ihn rasch hinter sich her zog. Soweit der Detektiv etwas erkennen konnte, durchquerten sie einen langen, engen Garten bis zu einer zweiten, bereits geöffneten Tür.
»Fünfzehn Stufen hinunter«, befahl der Unbekannte. Die Warnung kam gerade rechtzeitig, denn sonst hätte sich Harry Dickson an den abgenutzten und glitschigen Stufen leicht den Arm oder das Bein brechen können.
Nun traten sie unter ein Gewölbe, das von einer Fackel beleuchtet wurde. Die massive Tür schloss sich sofort hinter ihnen.
Sobald Harry Dickson sich an das Halbdunkel gewöhnt hatte, stellte er fest, dass er sich in einem Keller befand, dessen Wände mit revolutionären Emblemen, Totenköpfen und Waffen bedeckt waren. Vor einem provisorischen Tisch saßen vier Personen, deren obere Gesichtshälften mit Masken bedeckt waren und deren untere Hälften durch falsche, krause Bärte unkenntlich gemacht wurden.
Sein Führer schob einen eigentümlicherweise mit menschlichen Knochen verzierten Stuhl heran und setzte sich neben ihn, wie ein Gerichtsdiener, der seinen Schutzbefohlenen vor die Justiz führt.
Der Detektiv konnte sein Gefühl der Angst nicht unterdrücken. Er war sich bewusst, dass er diesen Männern ausgeliefert war und dass selbst die klügsten Polizisten sein Versteck nicht finden könnten, wenn man ihn hier töten oder zurücklassen würde.
»Sie sind ein Freund der Gräfin Sadetzky?«, fragte der Mann, der anscheinend die Funktion des Präsidenten ausübte.
»Freund ist ein bisschen zu viel gesagt«, erwiderte der Detektiv. »Ich habe die Gräfin vor zwei Jahren kennengelernt, als sie noch in Sankt Petersburg lebte.«
»Die Gräfin hat Ihnen sicher von ihrer Beziehung zu Prinz Nischkoff erzählt?«, fragte der Unbekannte erneut.
»Ja, ich weiß, dass sie ihn liebte«, antwortete Harry Dickson.
»Wissen Sie nicht, dass sie ihn bis zu ihrem letzten Lebenstag liebte?«
»Nein, ich habe mich nicht weiter in die Liebesangelegenheiten der Gräfin eingemischt«, wich der Detektiv aus.
Ein Gemurmel erhob sich um den Tisch, und man schien seiner Ablehnung keinen Glauben zu schenken.
»Haben Sie die Papiere dabei, die Ihnen die Gräfin übergeben hat?«
»Ich habe nie Papiere von der Gräfin erhalten.«
»Dann geben Sie uns die Papiere, die Sie heute Morgen aus der Schublade im Zimmer der Gräfin entwendet haben.«
Der Detektiv sprang heftig auf, rot vor Wut.
»Sie beschuldigen mich hier des Diebstahls!«, rief er außer sich.
»Ein Diebstahl oder nicht, Sie werden nicht leugnen, dass Sie in der Frisierkommode nach Papieren oder Dokumenten gesucht haben, die für uns von größter Wichtigkeit sind.«
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort«, entgegnete Harry Dickson, »dass ich keine Papiere gesucht oder entwendet habe. Übrigens fand ich heute Morgen im Kamin Überreste verbrannter Papiere. Vielleicht war darunter das, worauf Sie anspielen.«
»Nein«, unterbrach einer der Männer des Komitees, »das waren Papiere von sekundärer Bedeutung.«
Harry Dickson ließ einen Ausruf des Erstaunens hören.
»Ah!«, rief er, »wenn Sie so viel über diese Papiere und deren Inhalt wissen, dann haben Sie oder einer Ihrer Komplizen diese Dokumente vor der Ankunft der Polizei im Haus der Gräfin eingesehen. Anderenfalls könnten Sie nicht wissen, ob sie wichtig waren oder nicht.«
Ein düsteres Schweigen fiel über den Raum. Der Mann, der offenbar die Funktion des Richters übernommen hatte, schaute entmutigt aus. Wahrscheinlich erkannte er, dass er einen Fehler gemacht hatte.
»Es sollte für Sie völlig unwichtig sein, wie wir darüber informiert wurden«, sagte er mit gebieterischem Ton. »Ich hoffe, Sie machen uns nicht für den Tod der Gräfin verantwortlich?«
Vier Augenpaare fixierten den Detektiv, doch er sagte kein Wort.
»Ich gebe zu, dass das nicht Ihre Absicht war«, fuhr der Präsident fort. »Außerdem«, fügte er mit scharfem Ton hinzu, »haben Sie, wenn ich mich nicht irre, den Schuldigen bereits gefasst. Der berühmteste Detektiv Englands konnte bei dieser Aufgabe nicht versagen.«
Harry Dickson erkannte, dass die Gesichtszüge hinter den Masken ironisch verzogen waren. Er meinte, den Mann neben sich leise lachen zu hören. Das war zu viel, seine Würde als Detektiv stand auf dem Spiel!
»Sie irren sich«, artikulierte er kalt. »Die Person, die ich heute Nachmittag zur Wache gebracht habe, ist nicht der Mörder der Gräfin Sadetzky.«
Zufrieden registrierte er den Eindruck, den seine Worte hinterließen. Die Männer vor ihm erstarrten. Harry Dicksons Aussagen schienen eine bemerkenswerte Enttäuschung zu verursachen.
»Haben Sie bereits eine andere Spur gefunden?«, erkundigte sich der Präsident mit unsicherer Stimme.
»Wie Sie sagen!«, bekräftigte der Detektiv fest.
»Und wo hoffen Sie, den Schuldigen zu finden?«, fragte der Pseudopräsident erneut.
»Unter euch!« rief Harry Dickson wütend und kümmerte sich nicht um die Konsequenzen, die dieses Geständnis für ihn haben könnte.
Alle Anwesenden sprangen auf, ballten instinktiv die Fäuste und der Detektiv hörte ihr keuchendes Atmen. Der Einzige, der noch Herr seiner selbst zu sein schien, war der Präsident des Komitees.
»Selbst wenn wir es getan hätten«, rief er mit vor Wut bebender Stimme, »hätten wir in Notwehr gehandelt! Wir wussten, dass die Gräfin noch immer die Freundin dieses Monster-Gouverneurs, des verhassten Prinzen Nischkoff, war. Wir wussten, dass sie aus Liebe zu ihm nach London gekommen war, um Kontakt zu den hier lebenden Patrioten aufzunehmen und sie unserem schlimmsten Feind zu melden. Außerdem wussten wir, dass sie eine vollständige Liste mit den Namen aller Patrioten besaß, die von der autokratischen russischen Regierung als gefährlich angesehen wurden. Und wir wussten obendrein, dass Prinz Nischkoff, der derzeit in Paris lebte, die Absicht hatte, diese Liste zu verwenden, um wieder in die Gunst seiner Regierung zu kommen. Unter diesen Umständen mussten wir auch nur einen Moment zögern, das willentliche und schreckliche Werkzeug unseres Scharfrichters zu beseitigen? Zu Recht nennen wir das: Notwehr!«
Harry Dickson war ebenfalls aufgestanden und reckte sich in voller Größe.
»Ich nenne das einen Mord«, donnerte er, »einen gemeinen Mord, für den es keine Entschuldigung gibt. Geben Sie mir die Beweise für Ihre Behauptungen! Wo ist die Liste mit den Namen der Patrioten? Solange Sie diese nicht vorlegen können, glaube ich nicht an die Schuld der Gräfin Sadetzky.«
»Ah!«, rief der Präsident in einem plötzlichen Wutanfall aus, »Sie stecken mit der Gräfin unter einer Decke! Ihr triumphaler Ton beweist, dass die Gräfin Ihnen das Dokument selbst übergeben hat oder dass Sie es sich nach ihrem Tod angeeignet haben, wie wir von Anfang an behauptet haben.«
»Ich habe Ihnen bereits mein Ehrenwort gegeben, dass ich nichts über diese Liste weiß«, entgegnete der Detektiv.
»Ihr Ehrenwort hat für uns keinen Wert. Wissen Sie, dass Sie hier nicht lebend herauskommen werden?«
Harry Dickson grinste.
»Ich hätte von Anfang an erkennen sollen, dass ich von Banditen wie euch nichts anderes zu erwarten habe.«
Der Präsident wandte sich seinen Beisitzern zu.
»Was verdient jemand, der Komplize unseres tödlichen Feindes war?«
»Den Tod!«, murmelten sie dumpf und einmütig. »Den Tod durch die Bombe!«
Einen Moment lang verlor Harry Dickson die Fassung. Er wusste, dass er keine Hilfe erwarten konnte und dass niemand wissen konnte, wo er sich befand. Das Haus darüber war sicherlich unbewohnt, sodass die russischen Patrioten ihre Rache ungestört ausüben konnten. Dann stieg der Mut der Verzweiflung in ihm auf. Hätte er eine Waffe bei sich gehabt, hätte er sich den Luxus gegönnt, andere mit sich ins Jenseits zu nehmen.
Aber er hatte noch starke Beine und Arme. Konnte er sich nicht mit Tritten und Fäusten verteidigen? Konnte er nicht mit seinen stählernen Händen ein oder zwei dieser Elenden erwürgen?
Er sprang auf den Präsidenten, packte ihn mit der linken Hand an der Kehle und riss ihm mit der rechten den falschen Bart ab.
»Ah!«, brüllte er triumphierend. »Wie ich vermutet hatte: der Eigentümer und Erfinder des Schachspielautomaten!«
Im selben Moment schien es, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Ohne ein Wort zu sagen, sackte er zusammen. Der Mann, der ihn vom Boot hierhergeführt hatte, hatte ihn von hinten mit einem Schlag auf den Kopf bewusstlos geschlagen.
Wie lange er dort gelegen hatte, wurde ihm nie erzählt. Als er wieder zu sich kam, stellte er fest, dass seine Füße und Hände mit Riemen an einen Stuhl gefesselt waren, der in der Mitte des gewölbten Kellers stand. Die fünf Verbrecher standen um ihn herum.
»Es ist Schluss mit Ihnen«, erklärte der Präsident, der sich nicht die Mühe gemacht hatte, seine Maske und seinen falschen Bart wieder aufzusetzen. »In einer Viertelstunde wird die Bombe unter Ihrem Stuhl Sie in Stücke reißen. Da wir uns jetzt auf den Weg nach Paris machen, um unseren Freund Nischkoff zur Rechenschaft zu ziehen, hat dieses Gebäude seinen Dienst getan. Es soll Sie unter seinen Trümmern begraben!«
Er nahm die Fackel in die Hand, und der Detektiv sah mit Entsetzen, dass der Docht immer kürzer wurde, während sich die fünf Mörder akribisch hinter der schweren, gepanzerten Tür zurückzogen und sie hinter sich schlossen.
Er erkannte, dass seine letzte Stunde geschlagen hatte. Noch nie zuvor hatte er den Tod so unausweichlich vor sich gesehen. Warum hatte man ihn nicht wenigstens mit einem Revolverschuss getötet? Nun musste er eine Viertelstunde lang Angst erleben.
Warum?
Er beobachtete, wie der brennende Docht immer kürzer wurde. Die Vorstellung, zerschmettert und in die Luft geschleudert zu werden, wurde ihm immer unerträglicher. Von Verzweiflung ergriffen, zerrte er an seinen Fesseln – vergeblich. Das einzige Ergebnis war, dass sie sich tiefer in sein Fleisch bohrten. Er versuchte, sich mit dem Stuhl zu kippen, um auf den Docht zu fallen und ihn so zu löschen, aber vergeblich – die Patrioten hatten es ihm nicht leicht gemacht: Der Stuhl war so fest im Boden verankert, dass er nicht einmal wankte. Harry Dickson, erschöpft von der Anstrengung, sackte in sich zusammen. Es blieb ihm nur, sein unvermeidliches Schicksal zu akzeptieren.
Die Flamme war nun nur noch einen Fuß vom Stuhl entfernt. Noch fünf Minuten, dann würde die Explosion erfolgen …… Noch fünf Minuten, dann würde er von der Liste der Lebenden gestrichen sein.
Plötzlich – er konnte seinen Ohren nicht trauen – hatte die Angst seine Sinne überwältigt? Wie in einem Traum hörte er, wie sich die Tür zu seinem Kerker öffnete. Er nahm vage das Rascheln eines Kleides wahr, spürte den Luftzug von jemandem, der in seine Richtung eilte, und hörte ihren keuchenden Atem. Er beugte sich … Er sah die Flamme nicht mehr. Sie musste gelöscht worden sein.
Der Schock war zu stark. Zurück ins Leben gerissen zu werden, nachdem man sich bereits am Rande des Grabes verabschiedet hatte, war selbst für die soliden Nerven des Detektivs zu viel. Er verlor das Bewusstsein.
Aber das dauerte nur wenige Augenblicke. Er spürte deutlich, wie seine Fesseln gelockert wurden. Er war befreit! Eine Hand ergriff seine; es war eine Frauenhand. Ein seltsamer Duft streifte seine Nase. Wo hatte er diesen Geruch schon einmal wahrgenommen?
Ah, er erinnerte sich! Es war gestern Abend, als er Aglaja Fedorsky, die Gesellschafterin der Gräfin, nach Hause begleitete. Aglaja Fedorsky hatte ihn zweifellos gerettet, doch ebenso klar war, dass sie mit der Bande der russischen Patrioten in Verbindung stand und alles über den Tod der Gräfin wusste. War sie also besser als die Mörder? Er verdankte ihr sein Leben!
Schon wollte er ihre Hand loslassen, als sie ihm ins Ohr flüsterte: »Vorwärts, schnell! In kurzer Zeit werden die Männer hier zurück sein. Sie ahnen meine Pläne. Hier entlang«, fügte sie hinzu und führte ihn zu einer Treppe. »Lauf so schnell du kannst zur Themse. Dort wirst du das Boot finden, das dich hergebracht hat. Noch ein Rat: Zeige dich nicht so schnell auf der Straße oder vor den Fenstern deines Hauses, denn die Gefahr ist noch immer vorhanden. Und jetzt Lebewohl. Erinnere dich ab und zu an eine unglückliche Frau.«
»Ich verlasse dieses Haus nicht ohne dich!«, rief Harry Dickson, da auch sie in Gefahr war.
»Nein, bitte!«, rief Aglaja Fedorsky. »Mach dir keine Sorgen um mich, ich werde es schaffen, aber geh, verlass dieses Haus!«
Sie schob ihn buchstäblich die Treppe hinunter, und im nächsten Augenblick fand er sich auf der Straße wieder. Der Fluss musste in dieser Richtung liegen. Er stürmte wie ein Pfeil durch die Gassen. Nun roch er die feuchte Luft der Themse. Sein Glück hatte ihn noch nicht verlassen. Das Boot lag noch an derselben Stelle, an der seine Begleiter es zurückgelassen hatten.
Mit einem Sprung landete Harry Dickson im schwankenden Boot. Er hörte die schnellen Schritte seiner Verfolger. Er ergriff die Ruder, um der Helligkeit der Laternen zu entkommen. Kaum hatte die Dunkelheit des Flusses ihn verschluckt, ertönte ein Schuss, und eine Kugel schlug dicht neben ihm ins Wasser. Er sparte sich die Mühe, bis zur Regent Bridge zurückzurudern, von wo aus sie gestartet waren. Er wählte den kürzesten Weg und überquerte den Fluss direkt. An einem geeigneten Ort ging er an Land, dann ließ er sich so schnell wie möglich mit einem Taxi nach Hause fahren.
Als er dort ankam, schlug es drei Uhr morgens.
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