Die Legende von Gogmagog’s Leap
Die Legende von Gogmagog’s Leap
Zwischen Mythos, Geschichte und Landschaft
Plymouth Hoe, eine weitläufige Grünfläche mit Blick auf den Ärmelkanal, ist nicht nur aufgrund seiner strategischen Lage und Nähe zur Festung von Plymouth von Bedeutung. Der Ort birgt auch eine jahrhundertealte Legende, die tief in der englischen Mythologie verwurzelt ist: die Geschichte von Gogmagog, dem Anführer einer urzeitlichen Riesenrasse.
Noch im 17. Jahrhundert berichteten Zeitgenossen, dass bei Ausgrabungen für die Zitadelle riesige Kieferknochen und Zähne gefunden wurden – Relikte, die man damals dem sagenhaften Riesen zuschrieb. So wurde ein Mythos, der vermutlich auf vorchristliche Erzählungen zurückgeht, durch diese Funde erneut belebt.
Die Legende beginnt mit der Landung von Brutus von Troja und seinem Gefährten Corineus an der Küste von Plymouth. Der Sage nach gehörten beide zu einem Volk trojanischer Flüchtlinge, das nach dem Untergang Trojas in der Fremde ein neues Heimatland suchte.
Kaum angekommen, schickten sie Späher ins Landesinnere. Diese kehrten in Panik zurück – sie waren von gewaltigen Riesen verfolgt worden, die die Region bewohnten. Die Beschreibung dieser Wesen schwankte zwischen furchteinflößend und übermenschlich: Sie hatten mächtige Körper, donnernde Stimmen und waren äußerst gewalttätig.
Brutus und Corineus ließen sich jedoch nicht einschüchtern. Sie versammelten ihre Männer und stellten sich den Riesen in einer offenen Schlacht. Dank ihres taktischen Geschicks, gezielter Speerwürfe und Pfeile gelang es den Trojanern, die überlegene Körperkraft ihrer Gegner zu brechen. Die Riesen flohen in die Hügel von Dartmoor – mit einer entscheidenden Ausnahme: Gogmagog.
Verwundet am Bein, konnte er nicht entkommen. Er wurde im Mondlicht in einem Moor aufgespürt, gefesselt und als Gefangener nach Plymouth gebracht.
Obwohl Gogmagog ein Feind war, behandelten die Trojaner ihn erstaunlich gut. Seine Wunden heilten und Brutus schlug schließlich einen ungewöhnlichen Weg vor, um Frieden zu schaffen: einen Zweikampf.
Der Sieger sollte nicht nur den Konflikt entscheiden, sondern auch König von Cornwall werden. Corineus, der für seine Kraft und seinen Mut bekannt war, nahm die Herausforderung ohne zu zögern an.
Am Tag des Kampfes strömten die Riesen auf die eine und die Trojaner auf die andere Seite eines freigeräumten Platzes. Die Waffen wurden abgelegt, denn hier zählte nur rohe Kraft gegen geschickte Technik.
Was folgte, war ein zäher Ringkampf. Gogmagog setzte auf seine schiere Masse, Corineus auf Ausdauer und Taktik. Schließlich gelang es Corineus, den Riesen aus dem Gleichgewicht zu bringen und ihn mit einem letzten, gewaltigen Ruck zu Boden zu zwingen. Der Aufprall ließ den Boden beben.
Ohne Zeit zu verlieren, packte Corineus den besiegten Riesen, schleifte ihn zur Klippe und stieß ihn hinab. Unten zerschmetterte Gogmagogs Körper auf den scharfen Felsen und das Meer färbte sich blutrot.
Der Ort, an dem dies geschah, wurde fortan Gogmagog’s Leap genannt. So blieb der Name im kollektiven Gedächtnis der Region – ebenso wie die Warnung, dass rohe Gewalt nicht zwangsläufig zu einem Sieg über eine kluge Taktik führt.
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Gogmagog selbst ist vermutlich eine spätere Weiterentwicklung älterer keltischer und angelsächsischer Riesenmotive. Einige Forscher sehen darin die mythologische Verarbeitung realer Begegnungen mit fremden Völkern, andere lediglich eine heroische Erzählung, die nationale Identität stiften sollte.
Heute ist Gogmagog’s Leap kein offizieller geografischer Name mehr, doch die Legende lebt in der lokalen Folklore Plymouths weiter. Sie verbindet archäologische Funde (ob echt oder falsch interpretiert) mit dramatischer Erzählkunst.
Der Kampf zwischen Corineus und Gogmagog steht sinnbildlich für den Triumph von List, Mut und Ausdauer über rohe Gewalt – ein Motiv, das weit über die Grenzen von Cornwall und Devon hinaus bekannt wurde.
Die Legende von Gogmagog erschien erstmals im 12. Jahrhundert in schriftlicher Form in Geoffrey of Monmouths Werk „Historia Regum Britanniae”. Darin wird die Geschichte des Brutus von Troja als Gründungsmythos Britanniens erzählt. Die Episode mit Corineus und Gogmagog bildet darin einen zentralen heroischen Moment.
Allerdings gilt Geoffrey of Monmouth nicht als zuverlässiger Historiker im modernen Sinn. In seinen Schriften verbindet er pseudo-historische Chroniken mit keltischer Mythologie, römischen Einflüssen und eigener dichterischer Freiheit. Dennoch sind seine Texte wichtig, da sie auf ältere mündliche Überlieferungen und möglicherweise regionale Sagen zurückgreifen.
Im Text wird auf die angebliche Entdeckung riesiger Kiefer und Zähne beim Bau der Zitadelle von Plymouth hingewiesen. Historisch betrachtet handelt es sich dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit um Tierfossilien, vermutlich um Knochen von Mammuts oder Wollnashörnern, die in Devon tatsächlich gefunden wurden.
In der Frühen Neuzeit deutete man solche Funde oft als Beweis für Riesen, da paläontologische Kenntnisse noch fehlten.
Der Plymouth Hoe liegt auf einer markanten Klippe, die sich ideal für eine dramatische Ausschmückung der Geschichte eignet. Der tatsächliche Sturz eines Gegners in die Tiefe wäre hier durchaus vorstellbar, wenngleich er wohl ganz andere Dimensionen gehabt haben muss, als in der Sage berichtet wird.
In vielen europäischen Mythen verkörpern Riesen das Wilde, Chaotische und Vorzivilisatorische. Ihr Sieg über die Neuankömmlinge symbolisiert die Unterwerfung des Landes und seiner ursprünglichen Bewohner unter eine neue Herrschaft.
Einige Forscher vermuten, dass die Riesen sinnbildlich für eine unterlegene Bevölkerung standen, die den neu ankommenden Gruppen körperlich überlegen, technologisch und taktisch jedoch unterlegen war.
Dass ausgerechnet Corineus den Kampf gewinnt und als Herrscher über Cornwall eingesetzt wird, deutet auf eine Verbindung dieser Figur zu einer regionalen Stammesidentität hin. Cornwall hatte in der keltischen Geschichte stets eine gewisse Eigenständigkeit.
Historisch gesichert ist weder die Existenz von Brutus noch die von Gogmagog. Die Geschichte ist wahrscheinlich eine literarische Konstruktion, die die heroische Eroberung Britanniens darstellen, den Anspruch bestimmter Regionen auf eine edle Herkunft betonen und die lokale Topografie (Plymouth Hoe) mit mythischen Ereignissen verknüpfen sollte.
Der Begriff Gogmagog’s Leap ist heute im offiziellen Kartenmaterial nicht mehr gebräuchlich, taucht aber in lokalen Geschichtsbüchern und bei Stadtführungen noch auf.
Gogmagog tritt auch in anderen englischen Mythen auf, etwa im Zusammenhang mit den Gog and Magog Giants von London, wo zwei riesige Holzfiguren seit Jahrhunderten bei der Lord Mayor’s Show mitgeführt werden.
Die Figur wurde in der Fantasy-Literatur, in Comics und sogar in Videospielen aufgegriffen – meist als Archetyp des uralten, mächtigen Gegners. So haben beispielsweise Jeff Noon und Steve Beard eine surreale und visionäre Fantasie eines Traum-Englands erschaffen. Wie das Wunderland, Gormenghast und Perdido Street Station ist die Welt von Gogmagog und Ludluda ein Fest für die Vorstellungskraft.
Die Legende von Gogmagog’s Leap ist weniger ein historischer Bericht als eine Mischung aus Mythos, Landschaftserklärung und politischer Erzählung. Die angeblichen Knochenfunde sind naturwissenschaftlich erklärbar. Die Figur des Gogmagog verbindet ältere Riesenmythen mit einem nationalen Gründungsnarrativ.
Der Schauplatz Plymouth Hoe dient dabei als visuelles und geografisches Bindeglied zwischen Sage und Realität.
Die Stärke dieser Erzählung liegt nicht in ihrem historischen Wahrheitsgehalt, sondern darin, wie sie Geschichte, Natur und menschliche Vorstellungskraft miteinander verwebt und sich so bis heute im kulturellen Gedächtnis von Plymouth und Cornwall verankert hat.
Quellen:
(wb)
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