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Aus dem Reiche der Phantasie – Heft 3 – Der rote Messias – 4. Teil

Robert Kraft
Aus dem Reiche der Phantasie
Heft 3
Der rote Messias
Verlag H. G. Münchmeyer, Dresden, 1901

Kapitel 4
Die Kriegserklärung

Das Fort Lamarie ist die stärkste und am besten befestigte Garnison auf der östlichen Indianergrenze. Es hat stets dreihundert Soldaten, versorgt die anderen Forts auf dieser Seite mit Munition und Proviant und der Kommandant, ein Oberst, ist der Vorgesetzte aller übrigen Forts.

Eines Morgens saß der Kommandant mit zwei anderen Offizieren und einem Herrn in Zivil im Rauchzimmer.

Die drei Offiziere wollten sich halb totlachen über den neuesten Witz des anderen Herrn, eines Beamten, der direkt aus New York kam.

Danach hatten die Indianer, wie es oft vorkam, eine Deputation nach Washington an den alten Vater geschickt. Diesmal baten sie um nichts mehr und nichts weniger, als dass sämtliche Bleichgesichter sofort ganz Amerika verlassen sollten, da es doch von Rechts wegen ihnen, den Rothäuten, gehöre.

Also, das war des Pudels Kern! Denn dass im Indianerterritorium wieder einmal etwas vor sich ging, wusste man an der Grenze schon lange. Ein roter Messias soll auferstanden sein, der einen Rachezug gegen die verhassten Bleichgesichter predigte. Dieser Sohn Gottes nahm natürlich auch göttliche Eigenschaften für sich in Anspruch. Er übertrug sie sogar auf alle, die an ihn glaubten und ihm gehorchten. Er machte sie unverwundbar, unsterblich und so weiter. Es war sehr klug von ihm, zu lehren, dass all diese Eigenschaften beim Genuss von Branntwein verloren gingen. Es entsprach hingegen dem fantastischen Indianerdenken, dass im zukünftigen Kampf nur Bogen und Pfeile, die Waffen der alten Helden, benutzt werden durften. Der rote Messias war sehr aktiv, er zog predigend durch das ganze Territorium, gewann immer neue Jünger und übertrug ihnen die Vollmacht zur Austeilung seiner göttlichen Kräfte.

Nun, man fürchtete das Kommende nicht, man war auf alles vorbereitet. Eine Vereinigung aller Indianerstämme war undenkbar. Noch undenkbarer war das Abgewöhnen des Schnapsgenusses.

Doch einen schlimmen Streich hatte der Rote Messias den Grenzwächtern mit seiner Mission bereits gespielt. Sie hatten einen Krieg zwischen Sioux und Cherokee eingeleitet, aber Todespfeil, wie sie ihn nannten, hatte ihn durch sein Dazwischentreten verhindert. Dabei war auch Kurzhand, ihr bester politischer Spion, zu Tode gemartert worden. Außerdem wurden alle weißen Händler und Trapper aus dem Territorium verwiesen, wozu die Indianer berechtigt waren. Seit einiger Zeit wusste man daher nicht mehr, was dort vorging. Da musste man einmal ein paar Fässer des köstlichen Feuerwassers spendieren. Trotz des Verbots des roten Heilandes würde man sicherlich schon bald die Erlaubnis erhalten, wieder einige politische Agenten als unschuldige Jäger in das Indianerterritorium hineinzuschmuggeln.

Aber dass die Herren Skalplocken gleich verlangten, ganz Amerika sollte geräumt werden, war der herrlichste Witz, den sie je gehört hatten. Die drei lachenden Offiziere konnten sich gar nicht wieder beruhigen.

Ein Trompetensignal übertönte plötzlich ihr Gelächter.

»Das war die Fanfare, die eine Indianerdeputation ankündigt«, meinte der aufstehende Kommandeur und wischte sich die Augen. »Vielleicht kommt man jetzt schon, um uns mitzuteilen, dass wir hier mit der Räumung gleich den Anfang machen sollen. Führe den Boten sofort hier herein!«, wandte er sich an den gerade eintretenen Soldaten.

»Ein weißer Missionar ist mit ihm.«

»Ein Missionar? Ja, die Schufte stecken immer mit den Rothäuten unter einer Decke. Er soll mit hereinkommen!«

Ohne Förmlichkeit wurde der Indianerdeputierte empfangen. Es war Todespfeil, der natürlich keine Waffen trug, aber dennoch in kriegerischer Ausrüstung erschien. Vor der imposanten, herkulischen Erscheinung des jungen Indianers nahmen die Offiziere ihre nachlässige Haltung auf den Stühlen etwas ein und man vergaß ganz den schwarzgekleideten Missionar, einen jungen Mann mit edlen Zügen, der sich bescheiden zurückhielt.

»Wer bist du? Was bringst du?«, fragte der Oberst und zwang sich zu dem rauen Ton, der gegen die verachteten Rothäute an der Grenze üblich ist.

»Ich bin Todespfeil, der Häuptling der vereinigten Indianerstämme des Territoriums«, entgegnete der Gefragte in fließendem Englisch. Er hätte wohl noch mehr gesagt, wurde aber vom Oberst unterbrochen, der interessiert den Klemmer auf die Nase setzte.

»Ah, so bist du selbst wohl der rote Heiland der Indianer, der Mensch gewordene Sohn des großen Geistes?«

»Du sagst es.«

»Jesus vor Pilatus«, bemerkte der Beamte trocken. Darüber lachten alle Offiziere erneut. Der Bann war gebrochen.

»Und du verlangst wohl, dass wir in Fort Lamarie mit der Räumung Amerikas beginnen?«, gab der Oberst lachend von sich.

»Du sagst es.«

»Schön, mein roter Messias, es soll gleich geschehen. Bis wann haben wir mit deiner hohen Genehmigung Zeit?«

»Bis heute Mittag.«

»Und wenn wir nun bleiben?«

»Dann würden meine Krieger eine halbe Stunde später im Fort sein und weder Frauen noch Kinder schonen. Du hast die Wahl: freien Abzug oder Tod.«

»Hm. Dürfen wir auch etwas mitnehmen, Messias?«

»Alles. Wir brauchen nichts.«

»Auch das Feuerwasser? Du bist ein schlauer Junge. Du verbietest deinen Kriegern das Feuerwasser doch nur, damit du es allein trinken kannst.«

Da trat plötzlich der Missionar hastig vor.

»Um Gottes willen, meine Herren«, rief er, »spotten Sie nicht weiter! Sie verkennen die Lage vollkommen. Sämtliche Indianerstämme sind vereint. Dreißigtausend Krieger stehen unter Waffen. Alle Weißen sind ausgewiesen worden. Nur einige Leute, denen die Krieger trauten, behielten sie als Gefangene und zur Warnung für die anderen Weißen bei sich, darunter auch mich. Ich flehe Sie mit erhobenen Händen an: Geben Sie jeden Widerstand auf! In sämtlichen zweiundzwanzig Forts an der Grenze ergeht jetzt dieselbe Aufforderung. Hinter diesem Häuptling stehen vierhundert gut bewaffnete Sioux.«

Die Offiziere erbleichten. Sie hatten gar nicht damit gerechnet, dass es so weit kommen würde. Doch ihr Schreck war nur oberflächlich. Was konnten denn vierhundert nackte Indianer schon gegen die mit modernsten Geschützen gespickten Festungswälle ausrichten, hinter denen dreihundert Soldaten lagen!

»Ich glaube, Sie sind von der Verrücktheit dieses Messias schon angesteckt«, höhnte der Kommandant.

»Bei Gott, er ist mit himmlischen Kräften begabt und vollbringt Wunder wie unser Heiland selbst«, sagte der Missionar feierlich. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er feuerfest und unverwundbar ist und wie er alle, die sich seinem Willen unterwerfen, ebenso macht. Ja, er ist ein Gesandter des Herrn, um die an den Indianern von uns Weißen verübten Gräueltaten zu rächen.«

»Was?«, schrie der Oberst. »Sind Sie wahnsinnig? Fangt den roten Burschen! Ich will doch sehen, ob er sich auch aus dem Kellerverließ wie der heilige Petrus herauszaubern kann.«

Sofort stürzten sich die beiden Offiziere auf den Häuptling, außerdem stürmten noch draußen bereitstehende Soldaten herein. Ruhig in seiner hoheitsvollen Würde stehen bleibend, hatte Todespfeil die beiden Offiziere dicht an sich herankommen lassen, als ergebe er sich in sein Schicksal. Doch plötzlich ergriff er die beiden Offiziere mit einer blitzschnellen Bewegung, packte jeden an der Brust, hob sie ohne Anstrengung in die Luft, warf einen auf den Oberst, sodass dieser zu Boden stürzte, und schleuderte den anderen den auf ihn losstürmenden Soldaten entgegen. Mit einem leichten Satz sprang er aus dem offenstehenden Fenster.

Der Sergeant, der das Fenster zuerst erreichte, traute seinen Augen nicht. Das Fenster lag in der zweiten, sehr hohen Etage, und doch rannte der Häuptling schon über den Hof – mit ungebrochenen Gliedern.

»Schießt! Schießt!«, schrie der Oberst, der sich aufgerafft hatte und ebenfalls ans Fenster gesprungen war.

Mehrere Schüsse fielen. Keiner schien getroffen zu haben. Doch wohin wollte der Indianer? Er rannte auf die vier Meter hohe Mauer zu, deren Sims nicht einmal ein Panther, geschweige denn ein Mensch, mit einem Sprung erreichen konnte. Die Schildwache warf sich ihm mit dem Bajonett in den Weg und stieß zu, doch sie stieß nur in die Luft. Im nächsten Augenblick stand der Häuptling auf den Schultern des verdutzten Soldaten. Noch ein Satz, und er voltigierte wie ein Kunstreiter die Mauer hinauf und winkte unter dem Krachen einer ganzen Salve noch einmal mit der Hand zurück.

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