Die Gespenster – Vierter Teil – 28. Erzählung
Die Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Vierter Teil
Achtundzwanzigste Erzählung
Der Lebendige unter den Toten in Düsseldorf
Gegen das Ende des Siebenjährigen Schlesischen Krieges bezogen meine Eltern in Düsseldorf ein geräumiges Haus in der sogenannten Orangerie, dessen einer Flügel an das Brauhaus des dortigen Franziskanerklosters grenzt. In dieser Gegend sind in den beiden oberen Stockwerken die gewöhnlichen Hausbequemlichkeiten vorhanden, zu welchen aus beiden Geschossen zwei lange, gerade übereinander gebaute Gänge führen. Ihrer Entlegenheit und einiger anderer Ursachen wegen konnten oder durften diese Gänge von mir, einem damals zwölfjährigen Kind, indessen nie besucht werden. Ich war in dieser Hinsicht und für die Regel auf einen Stellvertreter angewiesen, zu welchem ich aber nicht anders als über den Hof gelangen konnte.
Einst wurde an einem späten Abend ein heftiger und anhaltender Regen die Veranlassung zu einer Ausnahme von jener Regel, die ich einmal machen zu dürfen glaubte. Ich ging mit dem Wachsstock in der Hand in das oberste Stockwerk hinauf und durch den langen Gang, der mich zu der mir noch so unbekannten und entlegenen Flügelbequemlichkeit führte.
Dieser Gang war nur mit Dielen belegt, die nicht fest ineinander gefügt waren und hier und da Ritzen hatten. Durch diese konnte man in den unteren, für mich verschlossenen Gang hinuntersehen. Ohnehin nicht ohne die meinem Geschlecht angeborene Neugier wurde diese durch ein Licht, das mir von unten entgegenschimmerte, vollends gereizt. Ich legte mich daher flach auf die Dielen über eine der Fugen, um durch sie hindurch in den unteren Gang hinunterzusehen. Zu meinem nicht geringen Schrecken erblickte ich eine aufeinandergetürmte Menschenmenge. Ich hörte auch, wie einer von ihnen erbärmlich stöhnte und klagte. Den verworrenen Menschenhaufen erkannte ich anfangs nur sehr undeutlich und noch weniger begriff ich, in welcher Absicht man sich dort unten im Gang so übereinander getürmt hatte – zumal alle anderen zu schlafen schienen.
Endlich fand ich eine noch geräumigere Öffnung im Fußboden. Da das Stöhnen des Menschen immer vernehmlicher und flehender wurde, wuchs in mir der Wunsch, bei dem kärglichen Schein der unteren Lampe das Halbdunkel durchzublicken und zu erkennen, was es mit dem rätselhaften Menschenhaufen und insbesondere mit dem Wehklagenden auf sich hat.
Mit Entsetzen erkannte ich diesen Menschenhaufen als lauter nackte Leichen, denen zum Teil Arme und Beine fehlten. Eine dieser Leichen bewegte sich und schien sich durch die anderen hindurchzuarbeiten.
Man kann sich leicht ausmalen, dass ich angesichts dieser Wahrnehmung in Angst geriet und schleunigst das Weite suchte. Als furchtsames Kind wollte ich weder mit menschlichen Kadavern noch mit lebendigen Toten etwas zu tun haben. Durch mein kreischendes Angstgeschrei brachte ich das ganze Haus in Bewegung.
Mein guter Vater, der an diesem Abend zufällig nicht ausgegangen war, eilte mir besorgt und hilfreich entgegen. Ich erzählte ihm bebend und mit klopfendem Herzen in größter Eile, was ich beobachtet hatte. Er hörte mir aufmerksam zu, rief dann aus: »Musst du denn immer Geister sehen?« und eilte, ohne die Erscheinung weiter zu erläutern, pfeilschnell zu dem benachbarten Kloster.
Dort war gerade damals – am Ende des Siebenjährigen Krieges – ein Teil des französischen Lazaretts untergebracht. Da unsere Wohnung vor unserem Einzug unbewohnt gewesen war, hatte man von dort aus eine Wand durchbrochen, wodurch man zu dem zuvor erwähnten unteren Abtrittsgang gelangte, den auch das Lazarett nutzte. Dies war der Grund, warum mein Vater es sogar bedenklich fand, den für die Hausgenossen übrigen ähnlichen Gang im höheren Stockwerk zu benutzen. Die Vorsteher des Lazaretts benutzten diesen unteren Gang auch zur Aufbewahrung ihrer Toten. Sie sammelten diese jedes Mal hier auf, bis eine ganze Fuhre voll war. Dann fuhren sie in die für sie bereitstehende gemeinschaftliche Gruft. Diese Kadaver waren es, die ich zu meinem Schrecken und völlig unerwartet erblickt hatte. Mein Vater hatte, durch meine Erzählung veranlasst, sogleich geahnt, dass die Lazarettärzte vielleicht einen Scheintoten unter die wirklichen Leichen verpackt haben könnten. Und er irrte mit dieser Vermutung nicht. Mit menschenfreundlicher Eile lief er ins Lazarett und verschaffte dem von mir erblickten, unter dem Leichenhaufen winselnden Lebendigen schleunige Hilfe. Ich pries mich glücklich, dass die Vorsehung mich, ein Kind, zur Lebensrettung eines Unglücklichen auserwählt hatte, den die Unachtsamkeit der Lazarettvorsteher lebendig unter Toten begraben hatte. Wenn ich nicht am späten Abend zu seiner Rettung herbeigeführt worden wäre, wäre er entweder von der Last der auf ihm liegenden Leichen erdrückt worden oder am nächsten Morgen in aller Frühe, sofern er bis dahin ohnmächtig geblieben wäre, zur Gruft gefahren und somit lebendig unter die Erde gebracht worden.
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