Das Cabinet des Dr. Caligari (1919)
Das Cabinet des Dr. Caligari (1919)
Überall sind Geister … um uns herum. Sie haben mich von Heim und Herd vertrieben – von Frau und Kind …
Auf einer Parkbank beginnt Francis, ein junger Mann, einem älteren Herrn die tragische Geschichte seiner Verlobten Jane zu erzählen. Einige Jahre zuvor waren er und sein Freund Alan beide in Jane verliebt. Eines Tages besuchen sie gemeinsam einen Jahrmarkt, wo eine geheimnisvolle Attraktion Aufmerksamkeit erregt: das Cabinet des Dr. Caligari.
In einer sargähnlichen Kiste liegt der bewusstlose Cesare, ein Somnambuler, der laut Caligari seit 23 Jahren schläft und nun hellseherische Fähigkeiten besitzt. Als Alan fragt, wie lange er noch zu leben habe, antwortet Cesare: »Bis zum Morgengrauen.« Tatsächlich wird Alan in derselben Nacht ermordet – er ist bereits das zweite Opfer eines Serienmörders, der die Stadt in Angst und Schrecken versetzt.
Francis beginnt, Caligari zu verdächtigen, und nimmt die Ermittlungen selbst in die Hand. Zwar wird ein Täter verhaftet, doch Francis bleibt misstrauisch. Jane, die sich Sorgen um ihren verschwundenen Vater macht, begibt sich zu Caligaris Wagen und wird Zeugin von Cesares Existenz. In der folgenden Nacht schleicht sich eine dunkle Gestalt mit erhobenem Messer in ihr Schlafzimmer …
Die Wahrheit über Caligari, Cesare und den Erzähler selbst wird erst in einer finalen Wendung enthüllt, die alles zuvor Erzählte in ein neues Licht rückt.
Angaben zum Film
Drama aus dem Jahre 1919, Deutsche Erstaufführung: 27.02.1920, Länge: 1505m 55min, Land: Deutschland, Produzent: Rudolf Meinert, Erich Pommer, Regie: Robert Wiene, Drehbuch: Carl Mayer, Hans Janowitz, Kamera: Willy Hameister, Musik: Giuseppe Becce, Bauten: Walter Röhrig, Walter Reimann, Hermann Warm
Darsteller
Werner Krauß als Dr. Caligari, Conrad Veidt als Cesare, Friedrich Feher als Francis, Lil Dagover als Jane, Hans-Heinrich von Twardowski als Alan, Rudolf Lettinger als Medizinalrat Dr. Olsen, Ludwig Rex als Mörder, Elsa Wagner als Hausherrin, Henri Peters-Arnolds als Junger Arzt, Rudolf Klein-Rogge als Krimineller, Hans Lanser-Rudolff als Alter Mann
Es wäre eine Untertreibung, Das Cabinet des Dr. Caligari lediglich als Meisterwerk des deutschen Expressionismus zu bezeichnen. So treffend dieser Ausdruck auch sein mag, er wird weder der historischen Bedeutung des Films noch seiner künstlerischen Originalität und visionären Kraft gerecht. Als erster bedeutender Film, der den ursprünglich aus Malerei und Theater stammenden expressionistischen Stil auf das Kino übertrug, begründete er eine völlig neue filmische Ästhetik.
Der deutsche expressionistische Film, geprägt durch kantige Kulissen, stilisierte Schauspielkunst und einen expressiven Umgang mit Licht und Schatten, beeinflusste das internationale Kino maßgeblich. Er lieferte ästhetische Impulse, die bis in den amerikanischen Film Noir der 1940er Jahre nachhallen. Caligari war Wegbereiter dieser Bewegung und legte den Grundstein für eine der kreativsten und bedeutendsten Phasen der deutschen Filmgeschichte, flankiert von weiteren Meisterwerken wie Murnaus Nosferatu (1921) und Fritz Langs Metropolis (1927).
Das Cabinet des Dr. Caligari zählt daher zu Recht zu den einflussreichsten Filmen der Filmgeschichte. Überraschend ist, wie zugänglich der Film bis heute geblieben ist. Er kombiniert eine vergleichsweise konventionelle Erzählstruktur mit hochinnovativen inszenatorischen Mitteln. Diese eigentümliche Spannung, die Verschmelzung von Avantgarde und narrativer Klarheit, spiegelt sich in der Geschichte selbst wider, die sich um die Themen Wahnsinn und psychologische Zerrüttung dreht.
Die verzerrten, disharmonischen Kulissen mit ihren schiefen Häusern, gezackten Linien, windschiefen Treppen und deformierten Fenstern schaffen eine Welt, die von innerer Unruhe und psychischem Ausnahmezustand durchdrungen ist. Diese Atmosphäre wird durch die überzeichneten Darstellungen von Werner Krauss und Conrad Veidt als Caligari und Cesare noch verstärkt. Die beiden unheimlichen Figuren wurden zum ikonischen Bild des frühen Horrorkinos. Ihre Rollen in diesem Film begründeten ihren späteren Erfolg im deutschen und internationalen Film.
Die ursprünglichen Drehbuchautoren Hans Janowitz und Carl Mayer verfolgten eine subversive Absicht: Caligari sollte ein Angriff auf autoritäre Strukturen sein, eine metaphorische Abrechnung mit der blinden Obrigkeitstreue, die im Ersten Weltkrieg zur Katastrophe geführt hatte. In ihrer Vision verkörpert Dr. Caligari einen tyrannischen Repräsentanten der alten Ordnung, der seinen willenlosen Helfer Cesare für mörderische Zwecke missbraucht.
Doch die Produzenten, allen voran Erich Pommer, hielten diesen direkten Angriff auf Autorität für zu riskant. Deshalb fügten sie einen Rahmen hinzu, der die gesamte Erzählung relativiert. In einer finalen Szene wird offenbart, dass nicht Caligari, sondern der Erzähler selbst wahnsinnig ist. Damit wird der kritische Kern der Geschichte scheinbar entkräftet – ein geschickter Schachzug, der dem Film seine Tiefe jedoch nicht nimmt.
Im Gegenteil: Gerade diese narrative Überlagerung erzeugt eine verstörende Mehrdeutigkeit. Die Rahmenhandlung widerspricht in Teilen der inneren Logik der Geschichte. Warum wirken selbst die realen Szenen noch immer von expressionistischer Verzerrung geprägt? Warum erscheint uns Caligaris abschließende Aussage, er wolle Francis heilen, so unheilvoll? Und warum verändert Cesare sein Wesen so drastisch zwischen Haupt- und Rahmenhandlung? Diese Widersprüche sind kein Makel, sondern Ausdruck der inneren Ambivalenz, die das Wesen des expressionistischen Kinos ausmacht.
Der vielleicht größte Verdienst von Das Cabinet des Dr. Caligari ist seine Rolle als Urform des Horrorfilms. Der Film enthält bereits alle Elemente, die später das Genre prägen sollten: vom unheimlichen Schauer über die unzuverlässige Realität bis hin zum stilisierten Bösen. Werke wie Frankenstein (1931) oder Dracula (1931) tragen seine Handschrift. Doch der Film ist mehr als ein Genrevorbild, er ist ein einzigartiges Kunstwerk: unheimlich schön, irritierend konsequent und bis heute faszinierend in seiner psychologischen Tiefe.
Quellen:
• www.goethe.de
• www.rbb24.de
• Murnaustiftung
(wb)
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