Die Geheimnisse Londons – Band 1- Kapitel 3
George W.M. Reynolds
Die Geheimnisse Londons
Band 1
Kapitel 3
Die Falltür
Der junge Fremde hatte das Gespräch der beiden Halunken mit unbeschreiblichem Erstaunen und Entsetzen belauscht. Durch die Umstände des Abends waren seine Nerven bis an den Rand des Wahnsinns angespannt. Es schien, als bliebe ihm keine andere Wahl, als sich auf den Boden zu werfen und dem Wahn des Gemüts, der aus heftigen Emotionen resultierte, nachzugeben.
Er hatte seine Gefühle unter Kontrolle gehalten, während er hörte, wie der Einbruch in das Haus von Mr. Markham kühl geplant und beschlossen wurde. Doch als die Unterhaltung dieser beiden Ungeheuer in Menschengestalt seiner Vorstellungskraft all die Schrecken des furchteinflößenden Ortes entfaltete, an dem er Schutz gesucht hatte, als er hörte, dass er tatsächlich am Rande jener Treppe stand, hinunter in die Tiefen des schleimigen Grabens blickend, in den unzählige Opfer gestoßen worden waren, und als er sich ausmalte, dass seine Gebeine dazu verdammt waren, in den dunklen und verborgenen Höhlen unter ihm zu liegen, zusammen mit den Überresten anderer Menschen, die kaltblütig ermordet worden waren, da schien ihn die Vernunft zu verlassen. Ein kalter Schweiß brach über ihn aus und er schien unter dem Eindruck eines schrecklichen Alptraums ohnmächtig zu werden.
Er warf seinen Hut auf den Boden, denn er fühlte das Bedürfnis nach Luft. Seine stolze Stirn und sein schönes Antlitz waren von unbeschreiblichem Entsetzen verzerrt und eine aschfarbene Blässe legte sich über seine Züge.
Der Tod in all seinen grässlichsten Formen schien ihm zu folgen, ihn zu umgeben, ihn einzukreisen. Es gab kein Entkommen: Eine Falltür hier, ein mit dem Graben verbundener Brunnen dort oder der Dolch – ganz gleich in welcher Gestalt, der Tod war vor ihm, hinter ihm, über ihm, unter ihm, auf allen Seiten.
Es war schrecklich, äußerst schrecklich!
Dann durchzuckte ihn ein plötzlicher Gedanke: Er beschloss, einen verzweifelten Versuch zu wagen und zu entkommen. Er sammelte all seinen Mut und öffnete die Tür so vorsichtig, dass die alten, verrosteten Scharniere nicht quietschten.
Die Krise war nun unmittelbar bevorstehend. Wenn er es unbemerkt über den Treppenabsatz schaffte, war er in Sicherheit. Zwar konnte er durch seine überlegene Agilität und Beweglichkeit gesehen oder ungesehen aus dem Haus entkommen, aber er überlegte, dass diese Männer ihn in wenigen Minuten inmitten des Labyrinths der Straßen, mit denen er völlig unvertraut war, aber die sie so gut kannten, wieder einfangen würden. Er erinnerte sich daran, dass er ihre Geheimnisse belauscht und ihre geheimnisvollen Versteckmethoden beobachtet hatte. Sollte er in ihre Gewalt geraten, müsste er den Tod erwarten.
Diese Gedanken durchkreuzten sein Gehirn im Bruchteil einer Sekunde und überzeugten ihn von der Notwendigkeit äußerster Vorsicht und Umsicht. Er musste das Haus unbemerkt verlassen und sich dem erbarmungslosen Sturm und dem prasselnden Regen stellen, denn der Sturm tobte weiterhin draußen.
Er näherte sich erneut dem Fenster, um festzustellen, ob es eine Chance gab, den Treppenabsatz unbemerkt zu überqueren. Unglücklicherweise trat er zu nah ans Fenster. Das Licht der Kerze fiel direkt auf sein durch Schrecken und Alarm totenbleiches und furchtbar verzerrtes Gesicht.
In diesem Moment erblickte der Halunke inmitten seiner unheiligen Prahlereien jenes menschliche Gesicht – weiß wie ein Blatt Papier –, dessen Augen ihn mit einem Blick fixierten, der seine Vorstellungskraft steinig und unirdisch machte.
Der junge Mann sah, dass er entdeckt worden war, und ein vollständiges Bewusstsein der verzweifelten Gefahr, die über ihm hing, drängte sich in seinen Geist. Er wandte sich um und versuchte, von der verhängnisvollen Stelle zu fliehen. Doch wie im Alptraum oft die Vorstellungskraft die Gliedmaßen fesselt und den Schlafenden in Gefahr bringt, aus der er vergeblich zu fliehen versucht, so weigerten sich nun seine Beine, ihren Dienst zu leisten.
Sein Gehirn wirbelte, seine Augen wurden trüb. Er tastete an der Wand entlang, um sich vor dem Fallen zu bewahren, doch seine Sinne verließen ihn und er sank ohnmächtig zu Boden.
Er erwachte aus der Ohnmacht und wurde sich bewusst, dass er bewegt wurde. Fast im gleichen Augenblick fiel sein Blick auf das unheilverkündende Gesicht von Dick, der ihn an den Füßen trug. Der andere Halunke stützte seinen Kopf.
Sie trugen ihn die Treppe hinunter. Auf der obersten Stufe stand die Kerze.
Sofort kehrten alle Ereignisse des Abends in die Erinnerung des unglücklichen Jungen zurück. Nun erkannte er nur zu gut die verzweifelten Gefahren, die ihn umgaben.
Sie erreichten den Fuß der Treppe. Die Schurken legten ihre Last für einen Moment im Gang ab, während Dick zurückging, um die Kerze zu holen.
Und dann entbrannte ein schrecklicher Konflikt von Gefühlen und Neigungen in der Brust des unglücklichen Jugendlichen. Er schloss die Augen und überlegte einen Augenblick lang, ob er schweigen oder schreien sollte. Er träumte von einem sofortigen Tod, und doch dachte er, dass er zu jung war, um zu sterben, und dass Menschen nicht so barbarisch sein könnten.
Doch als die beiden Halunken sich bückten, um ihn erneut aufzunehmen, überwältigte die Angst alle anderen Empfindungen, Gefühle und Neigungen. Seine tiefe Herzensqual entlud sich in einem langen, lauten und durchdringenden Schrei!
Dann spielte sich eine furchtbare Szene ab.
Die beiden Halunken trugen den jungen Mann in das vordere Zimmer im Erdgeschoss und legten ihn für einen Moment nieder.
Es war derselbe Raum, in den er als Erstes gekommen war, als er das Haus betrat.
Es war das Zimmer, in dem er durch den Schein des Blitzes jenes schwarze Quadrat auf dem schmutzigen Boden gesehen hatte.
Für einige Augenblicke war alles dunkel. Schließlich brachte der Mann in der Fustian-Jacke die Kerze.
Der junge Mann blickte wild um sich und erkannte den Raum rasch wieder.
Er erinnerte sich daran, welches tiefe Entsetzen ihn ergriffen hatte, als das schwarze Quadrat auf dem Boden zuerst seine Augen eingefangen hatte.
Er richtete sich auf seinem linken Arm auf und blickte erneut um sich.
Großer Gott! War es möglich?
Diese ominöse Schwärze, dieses unheilvolle Quadrat, war der Mund einer gähnenden Kluft, deren Falltür geöffnet war.
Ein übler Geruch stieg aus den Tiefen empor und das Gurgeln einer Strömung war schwach zu hören. Dem unglücklichen Jungen wurde in einem Moment die schreckliche Wahrheit offenbar – viel schneller, als es dauert, sie zu berichten oder zu lesen. Er sprang aus seiner liegenden Haltung auf und fiel vor den erbarmungslosen Schurken, die ihn dorthin gebracht hatten, auf die Knie.
»Barmherzigkeit, Barmherzigkeit! Ich bitte euch! Oh, lasst mich nicht einen so schrecklichen Tod sterben! Bringt mich nicht um, ermordet mich nicht!«
»Halte deine freche Klappe, du Dummkopf«, rief Bill brutal aus. »Du hast zu viel gehört und gesehen, das ist zu gefährlich für uns. Wir können nicht anders.«
»Nein, sicherlich nicht«, fügte Dick hinzu. »Du bist jetzt so vertraut mit der Sache wie jeder von uns.«
»Verschont mich, verschont mich, und ich werde euch niemals verraten! Oh, schickt mich nicht aus dieser Welt, so jung, so sehr jung! Ich habe Geld, ich bin reich, und ich werde euch alles geben, was ich besitze!«, rief der gequälte Jugendliche aus. Sein Gesicht trug einen Ausdruck schrecklicher Verzweiflung.
»Das reicht. Bill, hilf mit!«
Und Dick packte den Jungen an einem Arm, während sein Gefährte den anderen festhielt.
»Gnade, Gnade!«, schrie der junge Mann und kämpfte heftig, aber vergeblich. »Ihr werdet es bereuen, wenn ihr erfahrt, wer ich bin.«
Er sagte nichts mehr. Seine letzten Worte wurden über den Abgrund hinausgeschrien, bevor die Schurken ihren Griff lockerten – und dann stürzte er.
Die Falltür wurde heftig über der Öffnung geschlossen und erstickte den Schrei des Schmerzes, der seinen Lippen entwich.
Dann kehrten die beiden Mörder in das Zimmer im ersten Stock zurück.
***
Am folgenden Tag, gegen ein Uhr, erhielt Mr. Markham, ein wohlhabender Gentleman, der in den nördlichen Vororten von London lebte, folgenden Brief:
Das unergründliche Dekret der Vorsehung hat es dem Unterzeichneten ermöglicht, Sie zu warnen, dass in dieser Nacht ein Einbruchsversuch auf Ihre Wohnung unternommen wird. Die Schurken, die dieses Verbrechen planen, sind zu einer viel finstereren Tat fähig. Vorsicht!
Ein unbekannter Freund
Dieser Brief war in einer wunderschönen, weiblichen Handschrift verfasst. In Mr. Markhams Anwesen wurden Vorsichtsmaßnahmen getroffen, doch aus irgendeinem Grund wurde der im Warnbrief angedeutete Versuch nicht unternommen.
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