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Aus dem Reiche der Phantasie – Heft 3 – Der rote Messias – 3. Teil

Robert Kraft
Aus dem Reiche der Phantasie
Heft 3
Der rote Messias
Verlag H. G. Münchmeyer, Dresden, 1901

Kapitel 3
Der Häuptling der Häuptlinge

Es war Mitternacht.

Der Kriegstanz war vorüber, der tanzende Medizinmann hatte den Segen des Großen Geistes herabgefleht und günstige Zeichen empfangen.

Nur ein kleines Feuer brannte noch in der Mitte des Dorfes neben dem Marterpfahl. Um dieses saßen die jüngsten der zurückbleibenden Greise und die ältesten der in den Kampf ziehenden Krieger. Es waren die Anführer der einzelnen Abteilungen. Sie rauchten und blickten stumm auf den Roten Adler. Auch Kurzhand war unter ihnen, während der Hausierer das Dorf hatte verlassen müssen.

Ebenso mussten sich die Frauen und Kinder in ihren Wigwams lautlos verhalten. Alle anderen Krieger, die nicht als Unterhäuptlinge einen Sitz am Beratungsfeuer hatten – es waren etwa vierhundert –, lagen draußen im finsteren Wald und bildeten einen dicht geschlossenen Kreis um das ganze Dorf, gleichsam eine Ehrenwache für die Beratung ihrer Häuptlinge. Sie durften auch nicht eher wieder unter einem Wigwam schlafen, als bis sie den ermordeten Stammesbruder gerächt hatten. Und sie durften überhaupt nicht schlafen, bevor sie nicht mindestens einmal mit den Cherokee im Kampf zusammengestoßen waren.

Die kurze Beratung hatte stattgefunden, doch noch eine Stunde lang rauchte der Rote Adler schweigend und blickte dabei manchmal zu den Sternen.

Erst dann klopfte er, um zu zeigen, dass er nun seinen letzten Entschluss verkünden würde, die Asche aus der Höhlung des Tomahawkgriffs.

Doch er kam nicht zum Reden, denn plötzlich stand neben ihm am Feuer, wie aus dem Boden gewachsen, die Gestalt eines Indianers. Es war ein junger, hochgewachsener Krieger mit ungemein muskulöser Statur, dennoch war alles an ihm von vollendeter Harmonie, wie der bis auf eine kurze, eng anliegende Lederhose nackte Körper erkennen ließ. Er trug am Gürtel ein Tomahawk, ein Skalpmesser und alles, was ein Indianer sonst noch daran hat, aber keine Skalpe. Diese Trophäe, die einen Krieger erst ausmacht, war bei ihm nicht zu finden. Ebenso schmückte die Wirbellocke keine Kriegsfeder. Über dem Rücken hing ihm ein Lederköcher mit Pfeilen. Er stützte sich mit einer Hand auf dem Boden ab und hielt dabei einen äußerst langen und starken Bogen aus Horn, der mit künstlichen Schnitzereien versehen war. Offensichtlich stammte er von einem riesigen Mufflon und um ihn zu spannen, musste man über eine ungeheure Muskelkraft verfügen.

Lautlos war er aus der Dunkelheit an das Feuer getreten. Einen Augenblick stand er regungslos da, dann ließ er sich mit untergeschlagenen Füßen schnell auf dem Platz neben dem Häuptling nieder, der wegen der Abwesenheit eines ebenbürtigen Häuptlings frei war. Er zog eine lange Pfeife aus dem Gürtel, stopfte den roten Steinkopf aus einem Beutel mit Tabak, entzündete ihn und begann schweigend zu rauchen.

Ebenso stumm betrachteten ihn die anderen Indianer. Aber so sehr sich diese gestählten Krieger auch beherrschen konnten, ihr grenzenloses Staunen war ihnen doch anzusehen. Wer war dieser Indianer? Die Wachen hatten ihn passieren lassen, also schienen sie ihn zu kennen. Aber dann hätte er doch wenigstens begleitet werden müssen. Nein, es war nicht anders möglich, als dass er aus dem Boden gewachsen war. Hinzu kam, dass die Sioux seinen Stamm nicht erkennen konnten, denn der Krieger war zwar über und über tätowiert, trug aber die Totems sämtlicher Stämme des Territoriums an seinem Körper, auch das der Sioux. Er war offenbar eine vom Himmel herabgekommene Erscheinung, ein Blendwerk der Augen. Wie ein solches starrte ihn Kurzhand entgeistert an. Er bewegte die Lippen, brachte aber kein Wort hervor.

So vergingen fünf Minuten.

»Meine roten Brüder haben den Tomahawk ausgegraben«, begann der Fremde schließlich mit tiefer Stimme. »Gegen wen wollen sie den Kriegspfad betreten?«

»Mein roter Bruder trägt das Totem der Sioux, doch der Rote Adler kennt ihn nicht«, entgegnete der Häuptling. »Bist du ein Sioux, so musst du wissen, wen die Sioux zu rächen haben.«

»Den Springenden Hirsch, und dieser Mann dort mit dem doppelten Blut hat ihn ermordet«, sagte der Fremde und deutete auf Kurzhand.

Da wich plötzlich der Bann von dem Mestizen. Mit einem wilden Fluch schnellte er empor.

»Glaubt ihm nicht!«, schrie er mit farblosem Gesicht und rollenden Augen. »Das ist der Lügner, von dem ich euch erzählte. Das ist der, der sich für den Sohn des großen Geistes ausgibt und Häuptling aller Häuptlinge werden will! Seid ihr denn blind, Krieger der Sioux? Er ist ein Spion der Cherokee!«

Er riss seinen Revolver aus dem Gürtel. Noch ehe er ihn jedoch hatte erheben können, warf sich der Fremde mit dem Sprung eines Panthers auf den Mestizen.

Auch die Sioux wollten nach den Waffen greifen und aufspringen, doch ein Wink des Häuptlings bannte sie auf ihre Plätze. Von vierhundert Kriegern umringt, konnte der Fremde nicht entkommen und musste sich nun für seine Tat verantworten.

Außerdem lag Kurzhand bereits gebunden und geknebelt am Feuer. Auch der Fremde hatte sich wieder ruhig, als ob nichts geschehen wäre, niedergelassen.

»Todespfeil hat euch den Mörder des Springenden Hirsches für den Marterpfahl ausgeliefert«, sagte er. »Nicht Todespfeil, sondern Kurzhand ist ein Spion und Verräter. Er, Old Tom und viele andere Blassgesichter wurden vom alten Vater im Weißen Haus an den Red River geschickt, um unter den roten Kindern des großen Geistes Unfrieden zu stiften, bis sie sich gegenseitig die letzten Skalps genommen haben. Kurzhand hat den Springenden Hirsch mit einem Pfeil der Cherokee rücklings erschossen, damit ihr das friedliche Dorf der Cherokee überfallen solltet.«

Der Mestize machte die krampfhaftesten Anstrengungen, um ein Wort hervorzubringen.

Doch finster blickte der Häuptling auf den Sprecher.

»Du kommst, um uns mit glatten Worten einzuschläfern«, sagte er. »Hinter dir schleichen die Cherokee. Aber meine Krieger wachen.«

»Wäre ich an das Feuer getreten, wenn ich als Feind gekommen wäre?«

Es entstand eine lange Pause. Zwar stand man hier vor einem Rätsel, doch der indianische Stolz verbot das vorschnelle Fragen.

»Du hast dich meinen wachenden Kriegern als Freund zu erkennen gegeben – du hast sie getäuscht«, nahm der Rote Adler endlich wieder das Wort.

»Todespfeil täuscht niemanden«, entgegnete der andere mit verächtlichem Lächeln. »Zehn Krieger lagen im Wald und versperrten seinen Weg. Todespfeil kam über sie wie der Engel der Nacht und band sie wie Kinder.«

»Du lügst!«, donnerte der Häuptling plötzlich, sich vergessend, ihn an, und alle anderen sprangen auf.

Nur Todespfeil blieb gleichmütig sitzen.

»Ich spreche die Wahrheit.«

Ein Wink des Häuptlings, dann huschte ein Krieger davon. Schon nach einer Viertelstunde, die mit Rauchen gefüllt wurde, kam er zurück. Mit kurzen Worten bestätigte er die Angaben des Fremden. Zehn Krieger, darunter die erprobtesten Männer, lagen nebeneinander gebunden und geknebelt am Boden. Sie glaubten, ein Geist habe sie plötzlich überfallen, und konnten keine Angaben machen. Auch der Nächste, der diesem Schicksal entgangen war, wusste nichts davon, was dicht neben ihm geschehen war.

Diesmal konnte niemand sein grenzenloses Staunen unterdrücken. Selbst der Rote Adler rannte davon, um sich von dem Wunder zu überzeugen. Denn dass Todespfeil zehn der berühmtesten Krieger, während sie wachten, gebunden hatte, war für ihn in der Tat ein größeres Wunder als die Wiedererweckung der Toten durch den Heiland.

»Wer bist du, mächtiger Häuptling?«, fragte er scheu, als er zurückgekommen war.

Stolz richtete sich Todespfeil auf.

»Du sagst es, ich bin ein mächtiger Häuptling. Mein Vater ist der Große Geist. Ihr seid zwar auch seine Kinder, aber ihr seid von einem irdischen Weib geboren worden. Ich hingegen wurde aus den ewigen Jagdgefilden zu euch geschickt, wo ich am Beratungsfeuer des großen Geistes als sein Sohn an seiner rechten Seite saß. Ich soll euch von der Herrschaft der Blassgesichter befreien.«

Mit gewandten Worten, die den Indianern verständlich waren, schilderte er das jetzige und das zukünftige Los der Rothäute. Er zeigte, wie sie, denen doch ganz Amerika von einem Ozean bis zum anderen gehört hatte, ein Gebiet nach dem anderen an die Bleichgesichter hatten abtreten müssen. Mit glühenden Farben malte er alles aus, was einer Rothaut gefällt und sie aufregt.

»Da ergrimmte endlich mein Vater in seinem Zorn«, fuhr er fort, »und er schickte mich als euren Retter. Er sagte zu mir: ›Verkünde meinen roten Kindern, dass ich sie stark machen will wie Bären, gewandt wie Schlangen und schnell wie Hirsche. Die Pferde, auf denen sie sitzen, sollen niemals müde werden. Ihre Pfeile sollen niemals ihr Ziel verfehlen, während sie selbst von keiner Kugel und keinem Messer der Bleichgesichter verwundet werden können. Du, mein Sohn, sollst sie von Sieg zu Sieg führen, bis im ganzen Land keine Blassgesichter mehr vorhanden sind. Dann sollen sie wieder auf ihren Jagdgründen leben wie zuvor. Aber das fordere ich: Niemals darf ein Krieger auch nur einen Tropfen des verfluchten Feuerwassers über seine Lippen bringen, das mein Volk entnervt hat, und nie wieder darf ein Indianer die Waffe gegen einen anderen Indianer erheben.‹

Wer meine Worte hört und glaubt, ist von jetzt an gegen jede Kugel und jeden Stahl gefeit. Wer mir jedoch nicht gehorcht, das Blut seines roten Bruders vergießt oder auch nur einen Schluck Feuerwasser trinkt, der ist dem Tode geweiht. So spricht Todespfeil, der Sohn des großen Geistes. Dies ist der Beweis meiner Sendung.«

Der Fremde hatte das Feuer mit den Füßen geschürt. Nun hielt er seine rechte Hand in die lodernden Flammen. Man sah sie darin, aber sie veränderte sich nicht.

Entsetzt wichen die Indianer zurück.

»Tut es mir gleich«, sagte Todespfeil, »glaubt an mich, und ihr seid unüberwindlich.«

Scheu kam einer nach dem anderen näher, streckte ebenfalls die Hand ins Feuer und spürte weder Schmerz noch Verbrennungen. Da begriffen sie die göttliche Sendung des roten Messias. Bis zum Tagesanbruch währte das Hosiannah in der Sprache der Sioux.

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