Slatermans Westernkurier Ausgabe 07-2025
Auf ein Wort, Stranger, heute wollen wir über Alice, die Poker Queen, berichten.
Der Wilde Westen war voller schillernder Figuren aller Couleur. Egal, ob Trapper, Fallensteller, Indianerhäuptlinge, Revolvermänner, Cowboys, Soldaten oder Siedler – ihre Namen sind bis heute tief mit der Pioniergeschichte Amerikas verwurzelt.
Seltsamerweise sind es jedoch fast nur Namen von Männern, an die man sich erinnert, obwohl es mindestens ebenso viele, wenn nicht sogar mehr Protagonistinnen gab, die es ebenfalls verdienen, im Gedächtnis zu bleiben.
Zwar sind Namen wie Anne Oakley, Belle Starr oder Calamity Jane auch heute noch bekannt. Sie sind jedoch nur die Speerspitze der geballten Weiblichkeit jener Tage. Wenn man wissenschaftlichen Studien Glauben schenken darf, waren sie die eigentliche treibende Kraft für die Erschließung und den Fortschritt im Wilden Westen. Wer sich mit diesem Thema etwas genauer beschäftigt und alte Gerichtsakten, Zeitungsartikel und Tagebuchaufzeichnungen studiert, wird rasch feststellen, dass es in nahezu jeder Gemeinde westlich des Mississippis mindestens eine Frau gab, die es verdient hätte, in den Geschichtsbüchern verewigt zu werden.
Die Frau, über die wir heute berichten wollen, ist eine von ihnen.
Zugegeben, sie führte kein moralisch einwandfreies Leben: Sie war dreimal verheiratet, hatte Beziehungen zu zahlreichen Männern, rauchte dicke, schwarze Zigarren und verdiente ihren Lebensunterhalt auf ziemlich unchristliche Art und Weise. Doch sie blieb bis zu ihrem Tod ihren anerzogenen Prinzipien treu und verschaffte sich jedes Mal die Anerkennung der Bevölkerung, egal wo sie sich auch niederließ.
Genau genommen war sie eine der wenigen Frauen, für die der amerikanische Traum vom Tellerwäscher zum Millionär Wirklichkeit wurde, wenngleich auch nur für einige Jahre. In jener Zeit arbeitete sie sich von einer verarmten Witwe zu einer vermögenden Geschäftsfrau hoch. In ihren besten Tagen verdiente sie an einem Abend Tausende von Dollar, die sie anschließend in New York in Form von teuren Kleidern, Schmuck und dem Besuch der exklusivsten Theater- und Opernhäuser mit sündhaft teuren Galadinners wieder verprasste.
Ihr Aufstieg war steil, ihr Fall aber auch. Doch sie vergaß nie, woher sie kam und wer ihr einmal zur Seite gestanden hatte. Vielleicht war es gerade diese Eigenschaft, die sie in manchen Bundesstaaten des Westens unsterblich machte.
*
Bevor jetzt der eine oder andere Leser vor lauter Grübeln, um wen es sich hier handelt, eine schlaflose Nacht verbringt, wollen wir das Rätsel lösen. Die Frau, über die wir berichten möchten, war eine junge Engländerin, die im Wilden Westen zur ungekrönten Königin des Kartenspiels aufstieg.
Ihr Name war Poker Alice. Sie war die erste und erfolgreichste professionelle Spielerin im amerikanischen Westen. In den Saloons und Casinos von den Rocky Mountains bis ins Oklahoma-Territorium und sogar in New York spielte sie über Jahrzehnte hinweg äußerst erfolgreich und konnte insgesamt Gewinne in Höhe von mehr als drei Millionen Euro einstreichen.
Eigentlich hieß sie Alice Ivers. Im Laufe ihres Lebens kamen noch die Nachnamen Duffield, Tubbs und Huckert hinzu. Dazu später mehr.
Alice Ivers wurde am 17. Februar 1851 in Sudbury im Devonshire County in England als Tochter eines Schulmeisters und einer Hausfrau geboren. Ihr Vater erzog sie aufgrund seiner Stellung streng nach jener pädagogischen und religiösen Art, wie sie damals für die englische Mittelschicht üblich war. Obwohl Alice des Öfteren dagegen aufbegehrte, verinnerlichte sie diese Werte seltsamerweise und behielt sie auch während ihrer gesamten unorthodoxen Karriere bis zu ihrem Tod bei.
Anfang der 1860er Jahre wanderte ihr Vater mit der ganzen Familie nach Amerika aus. Die Ivers ließen sich zunächst in Richmond im Bundesstaat Virginia nieder, wo Alice bald darauf eine gehobene Mädchenschule besuchte. Doch schon zwei Jahre später, nach der Kapitulation des Südens und dem Ende des Bürgerkriegs, zog die Familie weiter.
Ihr Ziel war Colorado, jenes Territorium in den Rocky Mountains, das durch einen Silberboom schlagartig Abertausende von Menschen anzog. Sie ließen sich in der Stadt Leadville nieder, wo Alice den Bergbauingenieur Frank Duffield kennen und später auch lieben lernte. Die beiden heirateten, als Alice gerade einmal neunzehn Jahre alt war.
Im Jahr 1875 zog das junge Paar in das abgelegene Bergbaucamp Lake City. Im Frühjahr gab es dort gerade einmal drei Blockhütten, sechs Zelte und etwas mehr als ein Dutzend Bewohner. Als Frank und Alice im Spätsommer ankamen, waren es bereits siebenundsechzig Gebäude mit knapp fünfhundert Bewohnern.
Anfang 1877 würden es sogar zweitausendfünfhundert Menschen und fast fünfhundert Gebäude sein. Das wussten die beiden zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht. Ebenso wenig ahnten sie, dass kurz darauf, sozusagen auf dem Höhepunkt der Stadtentwicklung, binnen weniger Monate der Niedergang folgen würde. Schnelles Wachstum und ein noch schnellerer Absturz in die Bedeutungslosigkeit waren für solche aufstrebenden Bergbaustädte die Norm und Lake City machte da keine Ausnahme.
Aber zurück zum Ehepaar Duffield.
Die beiden merkten schon bald, wie teuer das Leben in dieser Boomtown war. Allein die Preise für alltägliche Dinge wie Lebensmittel, Petroleum oder Kleidung stiegen fast wöchentlich in neue, exorbitante Höhen. Frank kam daher auf die Idee, sein Hobby, das Kartenspiel, bei dem er schon von jeher ein glückliches Händchen hatte, zum Nebenberuf zu machen. Alice, die keine Lust verspürte, alleine zu Hause zu sitzen oder sich mit den wenigen anderen Frauen des Ortes mit Nähen oder Plaudern zu beschäftigen, begleitete ihren Mann bald und stand immer öfter hinter ihm, wenn er am Spieltisch saß. Glücksspiel war in jenen Tagen in den Bergbausiedlungen eine der beliebtesten Arten, sich die Zeit zu vertreiben.
Alice war schnell vom Kartenspiel, insbesondere von Poker und Faro, fasziniert und begriff als intelligente Frau auch bald die Regeln. Frank war ein guter Lehrer und brachte ihr alsbald die entscheidenden Kniffe und Tricks bei, um am Spieltisch als Gewinnerin aufzustehen.
Doch dann kam das Jahr 1876: Nur etwas mehr als ein Jahr nach ihrer Ankunft in Lake City starb ihr Ehemann bei einem Minenunglück, als in seiner unmittelbaren Nähe eine nicht ordnungsgemäß angebrachte Dynamitladung explodierte. Frank Duffield hatte in dem engen Bergwerksschacht nicht die geringste Chance, den einstürzenden Felsenmassen zu entkommen.
Alice war von einem Tag auf den anderen praktisch mittellos, und die Minenstadt kannte keine Gnade. Es gab für sie nur zwei Möglichkeiten, in Lake City Geld zu verdienen und zu überleben. Aufgrund ihrer Internatsausbildung und ihrer Intelligenz wäre es für sie ein Leichtes gewesen, die Kinder der Stadt zu unterrichten, aber es gab in Lake City keine Schule.
Was blieb, war die Prostitution. Alice, eine zierliche junge Frau mit blonden Haaren, blassblauen Augen und heller Haut, hätte im rauen Bergbaucamp gewiss genug Verehrer gefunden, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Doch das war etwas, das sie weder mit ihrer Erziehung noch mit ihren Prinzipien vereinbaren konnte. Sie entschloss sich, von dem zu leben, was sie inzwischen am besten konnte: vom Pokern.
*
In den frühen Tagen des Wilden Westens war Glücksspiel, also auch Kartenspiele, legal. Es fand in Spielhallen und Saloons statt, in denen sich auch die Bar befand, an der die Gäste etwas tranken oder einen kleinen Imbiss zu sich nahmen. Das Spielen diente rein der Unterhaltung, sowohl für die Spieler als auch für die Besucher dieser Etablissements. Meistens ging es ehrlich zu, denn Falschspiel bedeutete nicht nur für die Betreiber der Saloons oder Spielhallen, sondern auch für die Gambler selbst einen massiven Geldverlust, wenn nicht sogar den Ruin.
Eine einzige gezinkte Karte, ein manipulierter Würfel oder ein Ass im Ärmel konnten dazu führen, dass die Spielstätte umgehend den Ruf der Unehrlichkeit bekam. Die Folgen waren gravierend. Das Lokal wurde gemieden und niemand kam mehr, um zu spielen, etwas zu trinken oder zu essen. Der Laden ging meistens pleite und die Gambler, die dort gespielt hatten, galten fortan als Leute, die an einem Spieltisch in einem Lokal gespielt hatten, in dem betrogen wurde.
Es ging also meistens ehrlich zu – allerdings nur, solange die Bürgerschaften in immer mehr Städten nicht gegen Ende des 19. Jahrhunderts heuchlerisch, puritanisch-moralistisch gegen Glücksspiel und Alkohol vorgingen.
Danach war nichts mehr, wie es einmal war.
»Als das Glücksspiel in die Hinterzimmer der Lokale hinter verschlossene Türen gezwungen wurde, schien auch die Ehrlichkeit die Tische verlassen zu haben«, beschrieb Alice Duffield diese Zeit später.
Zu Beginn ihrer Karriere war Alice Duffield eine von nur drei weiblichen Spielerinnen in den Bergbaustädten. Da sie klug, geschickt und ehrlich war, verdiente sie sich schnell den Respekt der Männer. Trotzdem trug sie vom ersten Tag an immer eine Waffe bei sich, mit der sie umgehen konnte. Ihr Vater, selbst ein hervorragender Schütze, hatte ihr das Schießen beigebracht – und zwar richtig.
In den rauen Minencamps musste sie diese Waffe immer wieder einmal ziehen.
Als der Silberboom in Lake City im Herbst 1877 zu Ende war und sich die Stadt rasch wieder in das unbedeutende Camp zurückverwandelte, das es einmal gewesen war, zog Alice weiter nach Leadville, wo sie bis 1879 in verschiedenen Lokalen am Pokertisch saß.
Doch auch hier blieb sie ihren Prinzipien treu und spielte nie an einem Sonntag, wie es ihre Erziehung vorsah. Darauf angesprochen, sagte sie jedes Mal: »Wenn ich die ganze Woche über wie der Teufel für die Hölle arbeite, gebietet es sich, am Sonntag zu ruhen.«
So löblich diese Einstellung auch war, sie kostete Alice im Laufe ihrer Karriere als Pokerspielerin ein mittleres Vermögen. Da die Bergleute in den Camps eine Sechs-Tage-Woche hatten, blieben für sie nur der Samstagabend und der Sonntag, an denen sie sich amüsieren konnten. Samstagnacht und der Sonntag waren somit die Zeit, in der der meiste Umsatz gemacht und damit auch das meiste Geld verdient wurde.
In den frühen 1880er Jahren zog Alice Duffield dann nach Silver City in New Mexico. Dort gewann sie an einem Abend beim Faro mehrere Tausend Dollar. Als sich die Nachricht verbreitete, dass hier eine Frau saß, die alle Männer im Kartenspiel bezwang, kamen aus den umliegenden Lokalen immer mehr Leute, um es gegen sie zu versuchen. Aber Alice gewann und gewann.
Am nächsten Nachmittag strich sie ihre gesamten Gewinne ein, ging nach New York City und blieb dort, bis sie ihr ganzes Geld für Kleider, Galadiners und den Besuch der exklusivsten Spielcasinos der Stadt ausgegeben hatte.
1889 kehrte sie dann in den Westen zurück.
Inzwischen hatten sich dort mehrere Frauen als professionelle Kartenspielerinnen einen Namen gemacht. Alice lernte sie alle im Laufe der Zeit kennen und erzählte Reportern Jahre später, was auch die Geschichtsschreibung dokumentierte.
Keine von ihnen konnte ihr das Wasser reichen.
Kitty the Schemer, die sich Queen of California Gamblers nannte, war nur kurze Zeit bekannt, dann versank sie in der Bedeutungslosigkeit. Faro Nell war eher für ihre Schießkünste als für ihr Kartenspiel bekannt. Zeitgenössischen Berichten zufolge konnte sie einem Mann das Whiskeyglas aus der Hand schießen oder den Absatz seines Stiefels treffen, ohne ihn zu verletzen. Prairie Rose war zwar eine sehr hübsche junge Frau, aber als Kartenspielerin nur mittelmäßig. Sie wurde nur dadurch bekannt, dass sie eines Tages in jener Stadt in Kansas, in der sie einen Spieltisch gemietet hatte, wettete, nackt durch die Straßen zu gehen. Sie gewann die Wette, allerdings muss man dazu sagen, dass sie eine etwas abseits gelegene Straße auswählte und eine Zeit, in der dort ohnehin kaum jemand anzutreffen war. Außerdem hielt sie dabei in jeder Hand einen Revolver, um allzu neugierige Passanten davon abzuhalten, ihr zu nahe zu kommen.
Alice lernte auch China Mary, Iowa Bull und Airship Annie kennen. Im Gegensatz zu ihr blieben diese Frauen jedoch nur kurze Episoden in der Geschichte weiblicher Glücksspielerinnen. Die Erklärung, warum und wieso, lieferte sie den besagten Reportern damals auch gleich hinterher.
»Glücksspiel ist eine Männerdomäne. Da nutzt es dir als Frau wenig, hübsch auszusehen, schöne Kleider zu tragen und die Regeln von Poker oder Würfelspielen zu kennen. Man muss den Männern auf Augenhöhe begegnen, ihren Alkohol trinken, ihre Zigarren rauchen und, wenn es sein muss, wie ein Maultiertreiber fluchen. Aber das Wichtigste ist: Man muss ein Antlitz haben, das Stunde für Stunde unbeweglich bleibt, nicht einmal das Zucken einer Augenbraue darf zu sehen sein. Frauen haben jedoch zu viele Nerven und genau deshalb scheitern fast alle.«
*
Im Jahr 1889 ging Alice nach Oklahoma, wo die Regierung gemäß dem Heimstättengesetz neue Landfreigaben genehmigt hatte. Sie selbst war nicht an Land interessiert, denn sie wusste, dass sich die vielen Menschen, die daraufhin nach Oklahoma strömten, nach Feierabend gerne mit einem Drink und einem entspannten Kartenspiel die Zeit vertrieben.
Also reiste sie von Caldwell in Kansas aus in den sogenannten Cherokee Strip in Oklahoma, wo sie knapp 19 Monate blieb.
Danach führte ihr Weg sie nach Clifton in Arizona.
Doch die Zeiten hatten sich geändert. Glücksspiel wurde inzwischen als unmoralisch angesehen und Frauen, die sich daran beteiligten, als Frauen niedrigsten Charakters und Huren bezeichnet. Als sie in mehreren Lokalen und Casinos der Stadt so einiges an Geld gewann, prangerte die lokale Presse sie in einem Leitartikel derart an, dass sie ihre Zelte in Clifton abbrach und so schnell wie sie angekommen war nach Creede in Colorado übersiedelte. Dort ging das Gerücht um, dass man in den naheliegenden Bergen Silber gefunden hatte.
Als Alice ankam, bestand der Ort aus einer Handvoll Hütten aus grob zurechtgeschlagenen Baumstämmen und zählte sechs Einwohner. Fünf Männer und eine Frau namens Creede Lily, die, wenn sie sich nicht gerade prostituierte, den Männern mit Kartenspielen das Geld aus der Tasche zog. Im Vergleich zu den prunkvollen Spielcasinos in New York war das ein Unterschied wie Tag und Nacht. Aber Alice ließ sich nicht beirren und ließ sich in Creede nieder. Schön und intelligent, wie sie war, genügten ein paar schmachtende Blicke, und die Männer rissen sich förmlich darum, ihr ein Haus zu bauen. Verglichen mit den anderen Domizilen, in denen sie bisher gelebt hatte, war dies jedoch nicht mehr als ein besserer Stall.
Alice klagte jedoch nicht, sondern wartete geduldig ab. Schon bald zeigte sich, dass sie wieder einmal das richtige Näschen gehabt hatte. Es dauerte eine Weile, bis sich die Silberfunde im nahen Willow Creek Canyon im Land herumgesprochen hatten, aber dann strömten die Menschen in Massen nach Creede. Binnen kürzester Zeit stieg die Einwohnerzahl auf 600, und danach wurden es täglich mehr, bis im Herbst 1891, dem Höhepunkt des Silberbooms, Creedes Bevölkerung auf 10 000 Menschen angewachsen war. Für Alice mehr als genug Kundschaft, die sie am Spieltisch um ihr Silber erleichtern konnte.
Das Silber lockte natürlich auch andere Spieler an, darunter Frauen wie die bekannte Calamity Jane und Kilarney Kate. Jedoch spielte keine von ihnen, Creede Lily eingeschlossen, so erfolgreich wie Alice. Sie wandten sich deshalb im Gegensatz zu Alice vermehrt der Prostitution zu. Um in dieser rauen Männerwelt nicht unterzugehen, ging Alice eine Partnerschaft mit dem Besitzer eines Saloons und einer Tanzhalle ein.
Was kaum bekannt ist: Dieser Mann war Bob Ford, der am 8. April 1882 einen gewissen Thomas Howard in dessen Wohnzimmer hinterrücks erschossen hatte, als dieser auf einen Stuhl stieg und ihm den Rücken zuwandte, um ein Bild an der Wand abzustauben. Sein Tod schlug deshalb so große Wellen, weil Thomas Howard in Wirklichkeit niemand anderes als der in mehreren Staaten gesuchte Bandenführer Jesse James war. Ford, selbst ein ehemaliges Mitglied dieser Bande, tötete Jesse für die auf dessen Kopf ausgesetzte Belohnung und die ihm zugesagte Amnestie.
Trotz seiner Vorgeschichte behandelte er Alice stets fair und begegnete ihr mit Respekt. Das lag wahrscheinlich auch daran, dass er mehrmals mitansehen musste, wie sie renitente Miner, die sich damit nicht abfinden wollten, dass sie am Spieltisch gegen eine Frau verloren hatten, mit ihrem Colt zur Vernunft brachte.
Ford war gerade einmal 30 Jahre alt, als ihn am 8. Juni 1892 Edward O’Kelley mit einer Schrotflinte in seinem eigenen Saloon in den Hinterkopf schoss. Das erlebte Alice nicht mehr. Sie zog weiter nach Bachelor City, nachdem sie erfahren hatte, dass dort ein Pot von 30 000 Dollar auf dem Spieltisch keine Seltenheit war.
Wieder einmal hatte sie das richtige Näschen. Nur wenige Monate nach ihrer Abreise kam das abrupte Ende des Silberbooms, und dazu wurde Creede noch von einer verheerenden Feuerbrunst heimgesucht.
Bachelor City war allerdings nicht das Ende ihres Zigeunerlebens. Sie zog ins Dakota-Territorium, in die Black Hills, nach Deadwood. Zwar war die Stadt nicht mehr die Boomtown der 1870er Jahre, es gab aber immer noch genug Spieltische und Kundschaft, sodass ein guter Spieler seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Doch auch hier war die Stimmung gegenüber Frauen am Spieltisch umgeschlagen, wie bereits in Clifton, Arizona. Als sie sich in den Saloons und Casinos um einen Platz an einem Tisch bemühte, protestierten die Bergleute sofort und weigerten sich, gegen eine Frau zu spielen. Aber anders als in Clifton gab Alice diesmal nicht klein bei.
Sie schlüpfte in einen alten, zerschlissenen Cordmantel, setzte sich einen Filzhut auf, den sie stets tief in die Stirn zog, und steckte sich eine dicke, schwarze Zigarre in den Mund. Dies wurde fortan zu ihrem Markenzeichen. Zudem fluchte sie bei jedem Spiel auf eine Weise, die wahrscheinlich selbst einen Maultiertreiber vor Scham erröten lassen würde.
So ungehobelt und wild die Miner auch waren, gelang es ihr, binnen kurzer Zeit von ihnen akzeptiert zu werden. Bald darauf war sie als Poker Alice und härteste Spielerin in ganz Deadwood bekannt.
Ihre Erfolge als Spielerin erzeugten natürlich Neid bei der männlichen Konkurrenz. George Tubbs, der am Nebentisch saß, wurde zu ihrem erbittertsten Konkurrenten. Ihre Rivalität ging so weit, dass beide kein Wort mehr miteinander wechselten.
Dann kam jener schicksalhafte Abend, an dem ein betrunkener Bergmann Tubbs beschuldigte, ihn betrogen zu haben. Bevor er sich rechtfertigen konnte, drückte der Bergmann ihn gegen die nächste Wand und bedrohte ihn mit einem Messer. Alice zog ihre Waffe und schoss dem Mann in den Messerarm. Das war der Moment, in dem sich die beiden Kontrahenten zum ersten Mal näherkamen. So nah, dass George Alice nur wenige Wochen später einen Heiratsantrag machte, den sie sofort annahm.
*
Das junge Paar verließ die Spieltische und kaufte sich in South Dakota ein Grundstück. Sie arbeiteten hart, hatten nur wenige Nachbarn und noch weniger Geld, aber wie Alice sagte, war es die glücklichste Zeit ihres Lebens. Sie hatte zum ersten Mal seit Langem wieder ein richtiges Zuhause und vor allem einen Mann, den sie über alles liebte. Drei Jahre lang lebten sie glücklich und zufrieden auf ihrer kleinen Farm, bis George Tubbs an einer Lungenentzündung erkrankte. Er starb schließlich während eines Schneesturms im Winter 1910.
Der Sturm tobte mit solcher Wucht über das Land, dass es für Alice unmöglich war, ihren Mann in die nächstgelegene Stadt zu bringen, um ihm, wie es ihre Erziehung gebot, ein christliches Begräbnis angedeihen zu lassen. Sie wickelte George in Decken und legte ihn in den Schnee, damit die klirrende Kälte die Verwesung stoppte, bis er beerdigt werden konnte. Als der Sturm endlich nachließ, packte sie ihn auf einen Wagen und fuhr ihn nach Sturgis, in die nächstgelegene Stadt, die einigen Berichten zufolge knapp 48 Meilen von ihrer Heimstätte entfernt war. In anderen Berichten ist allerdings zu lesen, dass Sturgis 100 Meilen entfernt war. Eine Behauptung, die durchaus zutreffend sein könnte, da Zeitzeugen Jahre später nach ihrem Tod angaben, sie hätte ihnen erzählt, dass sie damals vier Tage mit dem Pferdewagen gebraucht habe, um die Stadt zu erreichen.
Da sie nicht genügend Geld hatte, um die Beerdigung zu bezahlen, verpfändete sie ihren Ehering. Nachdem George Tubbs begraben worden war, ging sie in der Stadt in die nächste Spielhalle und bat den Besitzer, ihr einen Spieltisch zur Verfügung zu stellen, um 25 Dollar zu gewinnen. Der Mann willigte ein, und da Alice das Pokern in den letzten drei Jahren, in denen sie auf ihrer Farm gelebt hatte, nicht verlernt hatte, hatte sie diese Summe bereits am Nachmittag zusammen und löste ihren Ehering wieder aus. Jetzt, da sie wieder allein war, wurde ihr das Gehöft zu einsam, sodass sie schon bald wieder nach Sturgis an die Spieltische zurückkehrte. Dort gewann sie binnen kürzester Zeit so viel, dass sie bequem nach Deadwood zurückreisen konnte, wo die Einsätze beim Pokern deutlich höher waren.
Schon bald eröffnete sie dort ein Casino und einen Tanzsaal.
Auch hier hielt sie sich an ihre anerzogenen Werte. Ihre Geschäfte blieben sonntags geschlossen. Während die Bürgerschaft vormittags in die Kirche ging und die Männer sich nach dem Mittagessen in den umliegenden Saloons betranken, unterrichtete sie ihre Tanzmädchen und brachte ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen bei, da die meisten von ihnen diese Fähigkeiten kaum oder gar nicht beherrschten. Sie hielt es für angemessener, jungen Frauen eine Ausbildung zu geben, damit sie eine Zukunft hatten, als in die Kirche zu gehen und den heuchlerischen Predigten der Pfaffen zuzuhören. Diese benutzten die Worte der Bibel nur, um ihren eigenen Geldbeutel zu füllen.
Doch wie schon damals in Clifton, Arizona, wurden auch hier die Moralisten und religiösen Eiferer im Stadtrat so mächtig, dass sie nach und nach die Schließung der meisten Spielhallen, Saloons und Tanzsäle in Deadwood erzwangen.
Alice kehrte nach Sturgis zurück und kaufte ein Haus am Bear Butte Creek, genau in der Mitte zwischen Sturgis und Fort Meade. Schon bald war es im ganzen County als Poker Alice Resort bekannt. Trotz des unverfänglichen Namens und der Tatsache, dass auch hier sonntags geschlossen blieb, war das Ganze nichts anderes als ein Bordell für die Stadtbewohner und vor allem für die vielen Soldaten aus dem nahen Fort. Den männlichen Besuchern wurden eine Vielzahl alkoholischer Getränke, Glücksspielvarianten und Frauen angeboten.
Gleichzeitig erwarb sie eine Schafzuchtfarm, für die sie einen gewissen George Huckert als Verwalter einsetzte. Sie brauchte diese Farm als Rückzugsort und zweites Standbein, denn sie war jetzt beinahe sechzig und wusste nicht, ob sie noch einmal die Kraft hatte, ein neues Spielcasino zu eröffnen – falls die Moralisten, die inzwischen in fast jedem Bundesstaat das Sagen hatten, ihr auch dieses Etablissement verbieten würden.
Es dauerte nicht lange, bis Huckert seiner Chefin Avancen machte, was nicht weiter verwunderlich war. Alice war für ihr Alter immer noch eine attraktive Frau. Sie war schlank, hatte lange blonde Haare, blassblaue Augen und helle Haut. Da sie fast ihr ganzes Leben lang kaum körperlich gearbeitet hatte, wirkte sie weder verhärmt noch gesundheitlich angeschlagen.
Anfangs lehnte sie seine Anträge ab, doch eines Tages sah sie seine Geschäftsbücher durch.
Der Rest ist noch heute Legende.
Sie stellte nämlich fest, dass sie Huckert inzwischen über 1000 Dollar an Lohn schuldete. Gewiss waren ihre Farm und das Bordell ungleich mehr wert, aber als Huckert nach seinem Geld fragte, war Sonntag und das Bordell geschlossen. In ihrer Börse waren an diesem Morgen gerade einmal 50 Dollar. Sie überlegte, dass es billiger war, ihn zu heiraten, als bei der Bank kurzfristig einen Kredit zu beantragen. Sie heiratete ihn 1910, allerdings nicht nur aus Liebe oder des Geldes wegen, sondern aus einem anderen Grund.
Alice erging es wie so vielen anderen Protagonisten, die in der Zeit des Wilden Westens geboren und aufgewachsen waren. Eine Epoche, die sich von 1848, dem Beginn des Goldrausches in Kalifornien, bis zur Schließung der Frontier Ende 1890 erstreckte. Sie alle hatten den Pony Express,
den Ausbau des Telegrafennetzes und den Ausbruch des Bürgerkriegs miterlebt, genauso wie das Vordringen der Eisenbahn, Indianerkriege oder die unsäglichen Weidefehden.
Sie überlebten Stampedes, Skorpione, Klapperschlangen und Gila-Echsen und trotzten Schneestürmen, Dürren, Heuschreckenplagen und Tornados. Dennoch scheiterten sie an der Zivilisation und dem Fortschritt, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Amerika mit Riesenschritten Einzug hielten und eigentlich dem Wohle aller dienen sollten.
Sicher waren die Errungenschaften dieser modernen Zeiten – der Telegraph, die Erfindung des Telefons und der Glühbirne sowie schließlich das Automobil – Meilensteine hinsichtlich der Weiterentwicklung der Menschheit. Doch die beginnende Industrialisierung, der Ausbau des Verkehrs- und Transportwesens und die damit einhergehende Kommerzialisierung der Landwirtschaft erzeugten eine immer stärker werdende Eigendynamik, die sich bis heute negativ in Amerika bemerkbar macht.
Die Folge waren nicht nur ökonomisches Wachstum und ständige technische Erneuerungen, sondern auch tiefgreifende Änderungen im Denken und in den sozialen Beziehungen. Begriffe wie Ehre, Respekt oder die Einhaltung von Versprechen verschwanden. Stattdessen verstärkte sich der Prozess der Verdrängung, wie das Abschlachten der Büffel oder der Genozid an der indigenen Bevölkerung. Dies verschärfte die gesellschaftlichen und politischen Spannungen, die sich immer wieder in Gewaltexplosionen mit unzähligen Toten entluden.
*
Alice, die derlei Dinge im beschaulichen Sturgis bisher nur vom Hörensagen kannte, bekam sie schon vor ihrer Hochzeit immer stärker zu spüren. Zunächst waren es die Stacheldrahtzäune der Rinderzüchtervereinigungen, die das einst freie Land einengten und bestimmten, wohin man noch reiten oder gehen durfte. Dann kamen immer mehr Gesetze, die ihrer Meinung nach aus normalen Menschen Lebewesen machten, denen man bis auf das Essen mit Messer und Gabel und den Gang zur Toilette alles vorschrieb.
Dazu schritt die Verrohung der Gesellschaft immer schneller voran, was auch Alice alsbald zu spüren bekam. Es begann im Frühjahr 1913, als es in ihrem Bordell immer öfter zu Auseinandersetzungen mit den männlichen Gästen kam, hauptsächlich mit den Soldaten des nahen Forts. Zunächst war es nur der Unmut über ihre Entscheidung, ihr Geschäft sonntags geschlossen zu halten. Dann folgten Beleidigungen gegenüber ihren Bediensteten und schließlich Übergriffe auf ihr weibliches Personal.
Auf ihre Beschwerden erfolgte kaum eine Reaktion – schließlich wollte niemand die Soldaten verärgern, die täglich eine Menge Geld in Sturgis ausgaben. Alice versuchte mehrfach, an die Vernunft der Soldaten zu appellieren – vergeblich. So kam es schließlich, wie es kommen musste: Am 13. Juli kurz vor Mitternacht kam es zum Eklat.
Eine Gruppe von fünf Soldaten und mehreren Zivilisten, allesamt bereits mehr oder weniger betrunken, torkelte gegen 22:30 Uhr auf das Alice Resort House zu und begehrte lautstark Einlass, wohlwissend, dass sonntags immer geschlossen war. Alice verweigerte ihnen den Zutritt, da die Männer betrunken waren und offensichtlich Streit suchten. Es dauerte nicht lange, bis die wütende Horde damit begann, die Telefon- und Stromkabel, die zum Haus führten, durchzuschneiden. Als Alice sie warnte, dass sie zur Waffe greifen würde, sollten sie nicht abziehen, begannen sie, mit Steinen die Fensterscheiben einzuschmeißen, um so ins Haus zu gelangen. Als der Erste einsteigen wollte, feuerte Alice fünf Schüsse aus ihrer 38er, die sie immer bei sich trug, auf die Männer ab. Private Fred Koetzle wurde von einer der Kugeln im Kopf getroffen und starb noch vor Mitternacht. Ein anderer Soldat, der 22-jährige Joseph C. Miner, wurde drei Zentimeter über dem Herzen von einer der Kugeln getroffen und überlebte wie durch ein Wunder. Zwei weitere Soldaten und ein Zivilist wurden von den anderen drei Kugeln verletzt.
Alice hatte also kein einziges Mal danebengeschossen.
Unmittelbar nach der Schießerei traf der Sheriff mit seinen Stellvertretern am Tatort ein, nahm Alice und ihre sechs Mädchen fest und brachte sie ins Bezirksgefängnis. Nachdem der Staatsanwalt des Meade Countys noch in der Nacht die Akten des Falls geprüft hatte, ließ er die Anklage gegen Alice wegen der Schießerei und dem Tod des Soldaten Fred Koetzle fallen. Für ihn hatte die Frau zur Verteidigung ihres Lebens und ihres Eigentums in Notwehr gehandelt.
Dennoch ging sie nicht völlig straffrei aus. Sie wurde beschuldigt, ein unmoralisches Bordell zu betreiben, in dem die Mädchen arbeiten mussten. Sie zahlte ihre Strafe und die der Mädchen. Danach kehrte wieder Ruhe in Sturgis ein. Doch die Ruhe währte nicht lange: Bereits zwei Jahre später waren es wieder betrunkene Soldaten, die einen Streit vom Zaun brachen – und wieder musste Alice zur Waffe greifen, um zu überleben.
Bei dieser später als Schnapskampf bezeichneten Auseinandersetzung starb Private Caldwell durch einen Bauchschuss und Private Wood durch einen Schuss in den Hals. Einem Zivilisten, der sie ebenfalls bedrohte, schoss sie in den Arm.
Sie kam noch einmal wegen Notwehr frei, aber von da an hatte sie keine ruhige Minute mehr. Die puritanischen Moralisten in der Countyverwaltung setzten alles daran, Alice zu ruinieren und ins Gefängnis zu werfen. Mit teilweise hanebüchenen Verdächtigungen als Vorwand wurde ihr Resort House fast monatlich kontrolliert, sie wurde angezeigt und diffamiert und ihr Personal wurde verhaftet. Alice haderte immer mehr mit ihrem Schicksal. Sie begriff, dass sie ein Überbleibsel vergangener Zeiten war, für das in dieser neuen, modernen, sogenannten fortschrittlichen Zivilisation kein Platz mehr war.
Die Hetzkampagne gegen sie gipfelte schließlich im Sommer 1928 in der Schließung ihres Hauses sowie einer Anklage wegen Alkoholschmuggels und der Führung eines Bordells.
Sie kam vor Gericht, wurde verurteilt und drohte, für den Rest ihres Lebens ins Staatsgefängnis zu kommen.
Doch die Menschen im Land vergaßen Poker-Alice nicht. Alle ihre ehemaligen Wegbegleiter, ihre Nachbarn, ihre Angestellten und diejenigen, die es einmal waren, die unzähligen Menschen, denen sie in Notlagen Geld gegeben hatte, ohne es zurückzuverlangen, und diejenigen, die sie unterrichtet und damit eine berufliche Zukunft gegeben hatte – sie alle unterschrieben eine Petition für ihre Begnadigung.
Berührt von der Anteilnahme – es waren Hunderte von Unterschriften – und angesichts ihres Alters und ihres schlechten Gesundheitszustands stimmte Gouverneur William J. Bulow dem Anliegen zu und begnadigte Poker Alice am 20. Dezember 1928.
*
Alice musste sich am 6. Februar 1930 einer Gallenblasenoperation unterziehen. Gegen diese Operation hatte sie sich anfangs gesträubt. An deren Folgen verstarb sie, als ob sie es geahnt hätte, wenige Wochen später, am 27. Februar. Den Nachbarn, die zuvor noch versucht hatten, sie von der Notwendigkeit der Operation zu überzeugen, antwortete sie in ihrer typischen Art: »Ihr wisst aber schon, dass da alles in der Auslosung ist.«
Sie wurde am 1. März 1930 auf dem St.-Aloysius-Friedhof begraben.
Alice trug noch den Ehering von George Tubbs und hatte verfügt, dass sein Name auf ihrem Grabstein stehen sollte. Er war, wie sie immer wieder betonte, der einzige Mann, den sie jemals wirklich geliebt hatte. In ihrem Testament verfügte sie außerdem, dass ihre Hühner und die Ernte ihres Feldes einem Nachbarn, Teile ihres Mobiliars und ihrer schicken Kleider anderen Nachbarn und Freunden und der größte Teil ihres Nachlasses – unter anderem eine ansehnliche Summe Geld – ihrem Freund und Intimus David Keffeler gehören sollten.
Ihre Verwandten gingen leer aus.
»Warum sollte ich ihnen etwas hinterlassen? Sie haben mich all die Jahre nicht besucht oder sich nach meinem Wohlbefinden erkundigt. Auch als ich krank wurde, haben sie mich nicht beachtet.«
Bis zu ihrem Tod blieb Alice ihren religiösen Prinzipien und dem Codex des Westens treu.
So long
Euer Slaterman
Quellen:
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