Die Geheimnisse Londons – Band 1- Kapitel 2
George W.M. Reynolds
Die Geheimnisse Londons
Band 1
Kapitel 2
Die Geheimnisse des alten Hauses
Zum Glück für den jungen Fremden, der sich für die Geschichte interessierte, versuchten die Personen, die gerade das Haus betreten hatten, nicht, die Tür des Raumes zu öffnen, in dem er Zuflucht gefunden hatte. Mit einer Zielstrebigkeit, die darauf hindeutete, dass sie die Örtlichkeit gut kannten, gingen sie direkt in die vordere Kammer auf derselben Etage.
Nach wenigen Augenblicken ertönte ein scharfes Kratzen entlang der Wand und plötzlich leuchtete ein Licht in den Raum, in dem sich der junge Fremde versteckt hielt. Mit ängstlichem Blick schaute er sich um und entdeckte ein kleines, quadratisches Fenster in der Wand, das die beiden Räume trennte. Es befand sich etwa einen Meter über dem Boden – eine Höhe, die es dem jungen Mann ermöglichte, es zu nutzen, um die Vorgänge im nächsten Raum zu beobachten.
Durch eine Kerze, die mit einem Streichholz entzündet worden war und auf einem schmutzigen Holztisch stand, sah er zwei Männer, deren äußeres Erscheinungsbild seine Angst nicht zerstreute. Sie waren wie Arbeiter der untersten Klasse gekleidet. Einer trug eine Gabardine und grobe Ledergamaschen mit geschnürten Stiefeln, der andere eine Jacke aus Fustian und lange Cordhosen. Beide waren schmutzig und unrasiert. Der Mann mit der Jacke hatte eine Fülle von Haaren im Gesicht, die offensichtlich seit Langem keinen Kamm gesehen hatten. Der andere trug keinen Bart, aber sein Dreitagebart war deutlich sichtbar. Beide waren kräftig, gedrungen und muskulös. Der Ausdruck in ihren Gesichtern war verbissen, entschlossen und wild.
Der Raum, in den sie sich zurückgezogen hatten, war kalt, düster und heruntergekommen. Er war mit dem bereits erwähnten Holztisch und drei alten, wackeligen Stühlen ausgestattet. Auf zweien von ihnen setzten sich die Männer jetzt. Doch sie hatten sich so platziert, dass sie durch die offene Tür den Treppenabsatz im Blick hatten. Daher hielt es der junge Fremde für unklug, im Moment zu versuchen, zu fliehen.
»Jetzt, Bill, her damit! Bingo!«, sagte der Mann in der Gabardine zu seinem Begleiter.
»Ach, du bist immer auf dem Sprung nach Lush, Dick«, antwortete der andere in mürrischem Ton und holte gleichzeitig eine Flasche Schnaps aus der geräumigen Tasche seiner Fustian-Jacke. »Aber ich wundere mich, wie zum Teufel es kommt, dass Crankey Jem noch nicht da ist. Wer zum Henker könnte diese verdammte Tür offen gelassen haben?«
»Jem oder einer der anderen muss hier gewesen sein und sie so hinterlassen haben. Es macht nichts, es zerstreut den Verdacht.«
»Nun, lass uns die Regeln klarmachen« setzte der Mann namens Bill nach einer kurzen Pause fort. »Dann trinken wir ein bisschen und sprechen über unseren neuen Job.«
»Sei flott damit«, sagte Dick und holte mehrere kleine Pakete hervor, die in braunem Papier eingepackt und unter seiner Gabardine versteckt waren.
Der andere Mann entledigte ebenfalls die Taschen seiner Fustian-Jacke von verschiedenen Paketen und stapelte sie auf dem Tisch.
Dann nahm ein seltsames und geheimnisvolles Vorgehen seinen Lauf. Der Mann in der Fustian-Jacke näherte sich dem Kamin und setzte einen kleinen Schraubendreher, den er aus seiner Tasche gezogen hatte, an eine Schraube im Eisenrahmen des Rostes an. Nach wenigen Momenten konnte er den gesamten Rost mit den Händen entfernen, wodurch eine quadratische Öffnung beträchtlicher Größe sichtbar wurde. In diesen Raum steckten die beiden Männer die Pakete, die sie aus ihren Taschen genommen hatten. Der Rost wurde wieder eingesetzt, die Schrauben wurden festgezogen und die Arbeit war abgeschlossen.
Der Mann in der Gabardine trat dann auf den Teil der Wand zu, der zwischen den beiden Fenstern lag. Der junge Mann im angrenzenden Raum bemerkte nun zum ersten Mal, dass die Fensterläden jener Fenster geschlossen waren und grobes braunes Papier über sämtliche Ritzen und Fugen geklebt worden war. Dick legte seine Hand auf eine besondere Weise an die Wand und ein Schiebebrett offenbarte sofort einen geräumigen Schrank. Dort entnahmen die beiden Männer Speisen, Gläser, Pfeifen und Tabak keinesfalls grober Art. Nachdem sie die Nische wieder hermetisch geschlossen hatten, setzten sie sich um den Tisch, um die auf so geheimnisvolle Weise bereitgestellten Leckereien zu verzehren.
Die Angst des armen jungen Mannes in der nächsten Kammer, als er diese außergewöhnlichen Vorgänge betrachtete, ist leichter vorstellbar als darstellbar. Sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass er sich in der Höhle von Gesetzlosen, vielleicht sogar Mördern, befand, in einem Haus, das über geheime Mittel zur Verschleierung jeder Art von Infamie verfügte. Seine Augen wanderten vom kleinen Fenster, durch das er die oben beschriebenen Vorgänge beobachtet hatte, weg und blickten ängstlich in den Raum, in dem er sich versteckt hielt. Er erwartete beinahe, den Boden unter seinen Füßen sich öffnen zu sehen. Mechanisch blickte er hinunter, als ihm diese Vorstellung durch den Kopf schoss, und zu seinem Entsetzen und Schrecken sah er eine Falltür im Boden. Da war kein Irrtum möglich: Sie war etwa drei Fuß lang und zwei Fuß breit und ein wenig unter dem Niveau ihres Rahmens versenkt.
In der Nähe des Randes der Falltür lag ein Gegenstand, der die Aufmerksamkeit des jungen Mannes auf sich zog und seine Ängste verstärkte. Es war ein Messer mit einer langen, wie ein Dolch spitz zulaufenden Klinge. Etwa drei Zentimeter dieser Klinge waren mit einer eigentümlichen Rostschicht bedeckt. Der junge Mann schauderte. Konnte es menschliches Blut sein, das dieses Mordwerkzeug befleckt hatte?
Jedes Detail, ganz gleich wie unbedeutend, trug dazu bei, an einem solchen Ort die schlimmsten Ängste und die schrecklichsten Vermutungen zu wecken oder zu bestätigen.
Die Stimmen der beiden Männer im nächsten Raum drangen an das Ohr des jungen Mannes. Da er feststellte, dass eine Flucht immer noch undurchführbar war, entschloss er sich, seiner mit Angst gemischten Neugierde nachzugeben.
»Nun, jetzt zu dem anderen Job, Dick?«, sagte Bill.
»Der hat jemanden angestoßen«, war die Antwort. »Aber er hat mir alles darüber erzählt, und wir können es genauso gut besprechen. Es ist in der Gegend von Islington, dort oben zwischen Kentish Town und Lower Holloway.«
»Wessen Hütte ist es?«
»Ein nobler Typ namens Markham. Er ist ein alter Mann und hat zwei Söhne. Der ältere ist bei seinem Regiment, der jüngere ist etwa fünfzehn – ein bloßes Kind.«
»Nun, von ihm ist keine Gefahr zu erwarten. Aber was ist mit dem Dienstpersonal?«
»Es gibt nur zwei männliche Bedienstete und drei Frauen. Einer der Bediensteten ist der alte Butler, der zu fett ist, um irgendetwas Nützliches zu tun, der andere ist ein junger Tiger.«
»Und das ist alles?«
»Das ist alles. Jetzt sind du, ich und Jem genug, um diese Hütte zu knacken. Wann soll es geschehen?«
»Wie wäre es mit morgen Nacht? Es gibt keinen Mond, von dem man sprechen könnte, und die Geschäfte in anderen Gegenden laufen schleppend.«
»So sei es. Hier geht es dann zum Erfolg unseres neuen Jobs bei dem alten Markham.« Als der Einbrecher diese Worte aussprach, kippte er ein Glas Brandy hinunter.
Sein würdiger Begleiter ahmte dieses Beispiel nach. Danach wandten sie sich anderen Themen zu.
»Ich sage dir, Bill, in diesem alten Haus wurden schon einige fröhliche Spiele gespielt, nicht wahr?«
»Das glaube ich auch. Es war Jonathan Wilds Lieblingshütte, und er war darin kein Dummkopf, wenn es darum ging, Dinge im Verborgenen zu halten.«
»Nein, sicher nicht. Ich wette, dass die gut versteckte Treppe im nächsten Raum, die mit einer Falltür versehen ist, schon viele Leichen in die Fleet geworfen hat.«
»Ah! Und das, ohne darüber zu reden. Aber die Falltür ist seit einigen Jahren zugenagelt.«
Der unglückliche junge Mann in der angrenzenden Kammer erstarrte in stiller Angst wie eine Säule, als er diese schrecklichen Details hörte.
»Warum wurde die Falltür zugenagelt?«
»Weil sie jetzt keine Verwendung hat, da das Haus unbewohnt ist und keine Reisenden mehr hier übernachten. Außerdem gibt es noch eine andere …«
Ein lauter Donnerschlag verhinderte, dass der Rest dieses Satzes die Ohren des jungen Mannes erreichte.
»Ich habe gehört, dass die Stadt vorhat, große Veränderungen in diesem Viertel vorzunehmen«, bemerkte Dick nach einer Pause. »Wenn sie so nah kommen, müssen wir unsere Quartiere wechseln.«
»Nun, kennen wir nicht andere Hütten, die genauso gut sind wie diese – und das direkt unter der Nase der Behörden?« Je näher man ihnen kommt, desto sicherer fühlt man sich. Wer würde jetzt denken, dass es hier, in der Peter Street und auf dem Saffron Hill solche Hütten gibt? Herrje, wie wir lachen, wenn diese Typen im Gemeinderat und im Unterhaus aufstehen und die Bullen bis zum Himmel loben, als wären sie die schlausten Polizisten der Welt, während sie das Geld der Leute verplempern, um sich selbst zu unterhalten!«
»Oh! Bei den Veränderungen! Ich glaube nicht, dass es in den nächsten zwanzig Jahren welche geben wird. Sie sprechen immer lange von Verbesserungen, bevor sie beginnen, sie umzusetzen.«
»Aber wenn sie anfangen, werden sie diese hübsche alte Hütte nicht verschonen! Es würde mir das Herz brechen, zu sehen, wie sie sie abreißen. Ich würde viel lieber selbst ein Dutzend Leichen da hinunterwerfen, als zusehen, wie auch nur ein einziger Balken dieses Ortes schlecht behandelt wird.
»Ah! Wenn die Maurer kommen, um den alten Kasten auseinanderzunehmen, werden einige schöne Dinge der Welt bekannt werden. Diese Keller hier unten, in denen sich ein Mann fünfzig Jahre lang verstecken könnte, ohne von der Polizei aufgespürt zu werden, werden wohl ein oder zwei Knochen zutage fördern, nehme ich an – und das nicht von einem Schaf, einem Schwein oder einem Bullen.«
»Die Hälfte der Leute in dieser Nachbarschaft fürchtet sich sogar tagsüber, hierherzukommen, weil sie sagen, es sei von einem Geist heimgesucht«, bemerkte Bill nach einer kurzen Pause. »Aber ich für meinen Teil würde mich nicht fürchten, hier zu allen Stunden der Nacht zu kommen und auch alleine hier zu sitzen, selbst wenn alle, die in Tyburn oder Newgate gehängt wurden, und alle, die in die Fleet gestürzt wurden, auferstehen würden.«
Der Mann verstummte, wurde blass und fiel wie betäubt in seinen Stuhl zurück. Seine Pfeife fiel ihm aus den Fingern und zerschellte auf dem Boden.
»Was zum Teufel ist jetzt los?«, fragte sein Begleiter und warf einen besorgten Blick um sich.
»Da! Da! Siehst du nicht …«, keuchte der verängstigte Schurke und zeigte auf das kleine Fenster zum Nebenraum.
»Es ist nur irgendein verdammter Blödsinn von Crankey Jim«, rief Dick, der in solchen Angelegenheiten mutiger war als sein Begleiter. »Ich werde das verdammt schnell in Ordnung bringen!«
Er griff nach der Kerze und wollte zur Tür eilen, als sein Genosse ihm nachstürmte und schrie: »Nein, ich will nicht im Dunkeln bleiben! Ich kann es nicht ertragen! Verdammt, wenn du gehst, gehe ich mit dir!«
Die beiden Schurken machten sich demnach zusammen auf den Weg in den nächsten Raum.
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