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Mörder und Gespenster – Band 1 – 5. Teil

August Lewald
Mörder und Gespenster
Band 1

Der Werwolf

Kapitel 5

Während der Werwolf mit seiner leichten Beute eilig nach Hause trabte, setzte der Metzger seinen Weg ins Kloster über Stein und Stock fort. Es war noch nicht die gewohnte Stunde, als er dort anlangte; er hatte den Weg zurückgelegt, ohne sich Zeit zu lassen. Er musste den Pförtner wecken und tat dies mit so ungestümer Hast, dass dieser sich vom Lager aufraffte, in der Meinung, das Kloster stehe in Flammen. Er entsetzte sich, als er den todbleichen Mann vor sich stehen sah, der kaum sein »Gelobt sei Jesus Christus!« hervorzubringen vermochte.

Der Metzger betrat die Zelle des Pförtners und musste sich einige stärkende Tropfen erbitten, um seine Schwäche zu überwinden, während der Küchenmeister herbeigerufen wurde, um das Fleisch in Empfang zu nehmen.

Bei genauerer Betrachtung der Fleischstücke sah dieser alsbald, dass das Beste fehlte. Dem Metzger würde man unter diesen Umständen die Lieferung für das Kloster nehmen, da es genug Bewerber gab, die ihm den guten Handel entreißen wollten. Auf diese Drohung konnte der doppelt Geplagte nichts anderes tun, als sein Abenteuer zu gestehen. Die Sache war von solcher Wichtigkeit, dass der Prior davon in Kenntnis gesetzt werden musste. Bei so früher Tagesstunde den dicken Herrn zu wecken, war jedoch unmöglich. Der Metzger musste sich also damit abfinden und seinen Markt versäumen, um das Erwachen des klösterlichen Oberhirten abzuwarten.

Der Prior saß bei einem reichlichen Frühmahl, als der Metzger zu ihm geführt wurde, dessen Gesicht noch alle Spuren des nächtlichen Schreckens trug. Der Geistliche hörte die Erzählung aufmerksam an. War es Nachlässigkeit des Metzgers, der das Stück vielleicht zu Hause gelassen hatte? War es Treulosigkeit, die ihn antrieb, aus schnöder Gewinnsucht das Stück einem anderen teurer zu verkaufen? Oder war es ein frecher Dieb, der in irgendeiner schrecklichen Maske dem abergläubischen Mann das Stück geraubt hatte? In jedem Fall war die Küche und mit ihr der Magen des geistlichen Herrn bedroht. Dies erforderte Bedenken und reifliche Erwägung.

Der gute Metzger war der Meinung gewesen, das ganze Kloster würde sogleich mit seinen heiligen Schutzwaffen, mit Fähnlein, Kreuzen und Wedeln, zur Stelle des Hexentanzes hinausziehen und den Ort fürderhin von dem unheimlichen Spuk säubern, damit er in Zukunft ruhig seine Straße ziehen könne. Allein daran war nicht zu denken. Nach einer langen, nachdenklichen Pause legte der Prior ihm die Buße auf, zu fasten und eine gewisse Anzahl bestimmter Gebete zu sprechen. Dann wurde ihm eröffnet, dass er beim nächsten Mal eine doppelte Ration aufladen sollte, um die Gelüste des hungrigen Werwolfs nach blutigem Fleisch zu stillen, ohne den Bedarf des Klosters zu beeinträchtigen. Dabei sollte er das beliebte saftige Tafelstück sorgfältig in Acht nehmen, damit es nicht in die Klauen des gespenstischen Ungeheuers, sondern allein in die Hände des Bruder Küchenmeisters gelangte, der sich mit der Zubereitung auskannte. Anderenfalls würde er die Klosterlieferung für immer verlieren, sollte sich der heutige Fall jemals wieder ereignen. Mit diesem Bescheid wurde der Metzger barsch entlassen.

Traurig kam er in seinem Dorf an. Der geldgierige Mann war doppelt bedroht, von dem Gespenst wie von den Klosterherren. Dabei hatte er einen doppelten Verlust erlitten: das Stück Fleisch, das er dem Werwolf geben musste, und den Verlust des Wochenmarktes, wo er einen guten Schnitt zu machen pflegte. Seine Frau bemerkte sein verändertes Aussehen und seine trübe Laune, doch er blieb ihr gegenüber verschlossen und teilte ihr nichts von seinem Erlebnis mit. Ein Tag verging nach dem anderen und sein Kummer wuchs, ebenso wie die Anteilnahme seiner Frau, die noch einen geheimen Grund hatte, sich um seine trübe Stimmung zu bekümmern. War es vielleicht Eifersucht, die ihn plagte? Sie fühlte sich nicht frei von Schuld und fürchtete sich deshalb.

Der Freitag war wieder gekommen und der Metzger sorgte für frisches Fleisch zur Stärkung nach dem Fasttag und für einen guten Braten am Sonntag. Er ließ die Gesellen arbeiten und stand dabei zerstreut und wie abwesend, den Schweiß auf der Stirn und mit rollenden Blicken. Da konnte sich die Frau nicht länger zurückhalten. Sie zog ihn ins Zimmer und beschwor ihn bei allen Heiligen, ihr zu sagen, was ihm fehle. Er widerstand nicht länger und gestand ihr alles. Als die Frau die Ursache seines Grams vernommen hatte, konnte sie ein heimliches Lachen nicht unterdrücken.

»Simon ist kein Werwolf«, rief sie. »Du bist ein Narr und wurdest von einem listigen Dieb bestohlen, der sich deine Furcht zunutze machte und deinen Argwohn auf den armen Simon lenkte.«

Sie führte dergleichen Reden mehr, aber wie konnte sie ihren Mann, dessen Angst mit jedem Augenblick wuchs, damit wohl besänftigen? Er sah seinen baldigen Tod vor Augen und dachte, dass ihn nichts retten wird.

Indessen nahte der Abend heran. Das Fleisch wurde auf den Karren geladen, um diesmal früher und möglichst noch vor Einbruch der Nacht die gefahrvolle Stelle zu passieren. Doch die Arbeit war so viel und die Gesellen wollten nicht fertig werden. Die Nacht war zwar noch nicht da, aber der Abend so dunkel, dass man keine Hand vor Augen sehen kann. Der Metzger war noch immer nicht abgefahren.

»Nimm doch deinen besten Knecht mit, den Jost. Der ist so stark, dass er sich dem Ungetüm zur Wehr setzen kann. So kommst du der Sache am leichtesten auf den Grund«, sprach die Frau.

»Und wäre er der Stärkste und würde ich zehn mit mir nehmen – was vermöchten sie alle gegen die Gewalten der Hölle?«, seufzte der Metzger. »Dann möchte ich es auch nicht laut werden lassen, der Werwolf könnte sich noch grimmiger an mir rächen.«

»Nun gut«, sprach die Frau nach einigem Besinnen, »dann lasse den Jost und die anderen alle daheim. Ich will dich begleiten, ich fürchte mich nicht. Zum Überfluss stecke ich das Reliquiensäckchen meiner seligen Großmutter ein. Da können mir alle Werwölfe und Hexen der Welt nichts anhaben.«

Der Metzger blickte seine Frau scharf an und schien ihren Antrag zu billigen. Nicht, dass er an die Galanterie der Werwölfe glaubte – er wusste selbst ja zu wenig davon –, sondern der Gedanke, die Gefahr auf seine Ehehälfte zu übertragen, mochte ihm einleuchten, nach dem gemeinen Ausdruck »mit gefangen, mit gehangen«.

Sie zog sich warm an, und er stopfte seine Pfeife. Dann schickten sie sich nicht ohne starke innere Bewegung zur Abfahrt an. Als sie den Karren, der mit blutigen Fleischstücken beladen war, bestiegen, dröhnte es dumpf Mitternacht vom alten Turm des Dörfchens.

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