Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 9 – 3. Kapitel
Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 9
Die Lady mit dem Kanarien-Brillant
3. Kapitel
Eine zerbrochene Fensterscheibe
»Hat jemand nach mir gefragt, Mrs. Bonnet?«
Mit diesen Worten betrat Sherlock Holmes sein Haus in der Baker Street, als er um l0 Uhr abends in dasselbe zurückkehrte.
»Ein Herr hat einige Male nach Ihnen gefragt«, gab die würdige Hausdame zur Antwort, »und auf Ihrem Schreibtisch liegen einige Briefe.«
»Sind dieselben durch einen Boten oder mit der Post gekommen?«
»Mit der Post, Mr. Sherlock Holmes, der kleine Paddy, der für den erkrankten Briefträger Shefferson den Dienst versieht, hat sie gebracht.«
»Ich danke Ihnen, Mrs. Bonnet. Ist Harry schon fort?«
»Soeben gegangen, Mr. Sherlock Holmes.«
»War er den ganzen Nachmittag über, wie ich ihm befohlen habe, zu Hause?«
»Den ganzen Nachmittag. Dann hat er allein das Souper genommen und sich vor einer Viertelstunde etwa entfernt.«
Sherlock Holmes nickte, dann stieg er die Treppe empor, die in das obere Stockwerk und in seine Gemächer führte. Auf der halben Treppe drehte er sich um und rief Mrs. Bonnet zu: »Falls eine Dame kommen sollte, die sich in Begleitung Harrys befindet, so lassen Sie dieselbe ruhig zu mir herauf. Treten Sie auch nicht aus Ihrem Zimmer, denn ich wünsche nicht, dass diese Dame in Verlegenheit gebracht wird.«
»Sehr wohl, Mr. Sherlock Holmes«, versetzte Mrs. Bonnet. »Ich denke, wir kennen uns jetzt schon mehr als zwanzig Jahre, und ich habe immer noch die Befehle, die Sie mir gegeben haben, zu Ihrer besten Zufriedenheit ausgeführt.«
»Das ist wahr«, gab Sherlock Holmes zur Antwort, dann verschwand er um die Treppenbiegung, und wenige Minuten später betrat er sein Arbeitszimmer.
»Ich habe noch eineinhalb Stunde Zeit, bis Lady Diana Canbury mir die Ehre ihres Besuches schenken wird«, sagte Sherlock Holmes zu sich selbst, nachdem, er sich seines Rockes entledigt und dafür einen bequemen Hausrock angelegt hatte.
»Da ich müde bin, will ich diese Zeit benutzen, um ein wenig zu schlafen. Der Ton der Hausglocke wird mich sofort wecken, sobald mir Harry die Lady bringt. Treffen wir also unsere Vorbereitungen.«
Diese waren bei Sherlock Holmes sehr eigentümlicher Art. Er konnte nämlich nicht schlafen, wenn er nicht die Pfeife im Mund hatte. Er musste immer erst eine Pfeife Tabak rauchen, bevor er seine Nerven soweit beruhigt hatte, dass sie die völlige Abspannung des Schlafes duldeten.
Sherlock Holmes stopfte sich also seine kurze Pfeife, zündete dieselbe an, dann legte er sich auf das Sofa, und während er die Rauchwolken sinnend betrachtete, die in seltsamen Gestalten wirbelten und quirlten, sanken ihm die Augen zu, und er schlief ein.
Er schlief wirklich fest. Dabei hielt er aber beständig die Pfeife zwischen den Zähnen, und zwar so geschickt, dass niemals auch nur der kleinste Feuerfunke aus dem Pfeifenkopf auf ihn niederfallen konnte.
Er hatte sich diese Art von Schlafen angewöhnt, weil er auf diese Weise seinen Geist und seinen Körper ausruhen ließ und doch durch das Halten der Pfeife und das geschickte Balancieren derselben immer noch in dem Zustand des Wachseins sich befand.
Tatsächlich hörte er auch jeden Ton in seinem Zimmer, jedes Geräusch auf der Straße oder vor seinem Fenster und jeden Schritt, der in seinem Haus getan wurde.
Plötzlich fuhr der Detektiv empor, richtete sich auf und sagte: »Sie sind soeben unten vorgefahren. Jetzt hebt Harry die Lady aus dem Wagen – ah, jetzt geht die Glocke. Doch, was ist das? Das ist nicht Harrys Schritt – ein Mann stürmt die Treppe in wilder Hast hinauf – Lord Percy Canbury.«
Nach einem kurzen Anklopfen wurde die Tür ohne Weiteres geöffnet, und Lord Canbury stürmte in das Arbeitszimmer Sherlock Holmes’ hinein.
Es gehörte die ganze Willensstärke eines Sherlock Holmes dazu und die Kraft dieses seltsamen Mannes, niemals den Ausdruck seiner Gedanken auf seinem Gesicht widerspiegeln zu lassen, um in diesem Moment ruhig zu sein – ja, sogar dem Lord lächelnd entgegenzutreten und ihm die Hand zu reichen.
Denn ein schneller Blick auf die Stutzuhr hatte Sherlock Holmes darüber belehrt, dass sein Schläfchen ziemlich lange gedauert hatte und dass fünf Minuten auf 12½ Uhr fehlten.
Um Mitternacht aber hatte Lady Diana den Wagen bestiegen, den ihr Sherlock Holmes gesandt hatte, und es war eigentlich wunderbar, dass Harry Taxon noch nicht mit seiner schönen Begleiterin im Haus des Detektivs eingetroffen war, da doch die Fahrt vom Palais des Lords bis in die Baker Street 20, höchstens 25 Minuten dauern konnte.
Was aber sollte daraus werden, wenn der Lord seine Gemahlin hier im Haus Sherlock Holmes’ wiedersah, sie hier antraf zu einer so ungewöhnlichen Stunde? Würde er nicht mit gutem Recht eine Erklärung dafür verlangen, die dann zur Aufdeckung des ganzen Vorfalles führen konnte?
Und was zum Teufel hatte den Lord daran gehindert, wie es zwischen ihm und Sherlock Holmes verabredet worden war, mit dem 5-Uhr-Zug nach Liverpool zu reisen? Hatte doch Sherlock Holmes mit Bestimmtheit darauf gerechnet, dass er auf diese Weise den Lord aus London entferne und die Bahn für Lady Diana frei und sicher gemacht haben würde.
»Sie merken mein Erstaunen, Mylord«, sagte Sherlock Holmes mit ruhig klingender Stimme, »Sie hier zu sehen. Ich vermutete Sie jetzt schon auf dem Rückweg von Liverpool nach London – Sie sind also nicht abgereist? Haben James Robin, den bekannten Händler, nicht aufgesucht? Das ist eigentlich gegen unsere Verabredung, Mylord!«
»Etwas Ungewöhnliches ist geschehen, Mr. Sherlock Holmes«, erwiderte der Lord, und seine Stimme klang sehr erregt.
»Leider war es mir nicht möglich, Sie im Laufe des Nachmittags zu Gesicht zu bekommen. Ich habe mehrere Male nach Ihnen gefragt, aber Ihre Haushälterin sagte mir stets, dass Sie noch immer nicht nach Hause gekommen seien. Jetzt erst, als ich durch die Baker Street ging, entdeckte ich Licht hinter Ihren Fenstern, und ich schloss daraus, dass Sie zu Hause seien.«
»Sie haben mir also eine sehr wichtige Mitteilung in unserer Angelegenheit zu machen?«
»Hören Sie mich an, Mr. Sherlock Holmes«, sagte der Lord, indem er aus seinen Taschen ein sehr gewöhnlich aussehendes, ein wenig beschmutztes Kuvert hervorzog. »Ich habe durchaus Ihren Anordnungen nachkommen wollen und begab mich daher um 5 Uhr zum Viktoria-Bahnhof, um den Luxusexpress zu benutzen, den Sie mir empfohlen hatten. Da ich aus guten Gründen keinen Diener mitgenommen hatte, so begab ich mich selbst zum Kassenschalter, um mir das Billett zu lösen. In demselben Augenblick, in dem ich es fordern will, klopft mich von rückwärts jemand auf die Schulter. Ich wende mich um – da steht eine stark verschleierte Dame hinter mir, drückt mir diesen Brief in die Hand und ruft mir zu: ›Lesen Sie sofort, Mylord! Der Brief ist wichtig – und handeln Sie schnell.‹
Ich wollte noch eine Frage an die Verschleierte richten – ich wollte Sie zurückhalten, aber schon war sie im Gewühl des Publikums, das die Bahnhofshalle erfüllte, verschwunden, und trotz des eifrigsten Suchens konnte ich sie nicht mehr wiederfinden.
Ich erbrach dieses wenig appetitlich aussehende Kuvert, zog einen vergilbten Zettel aus demselben hervor und las folgende Worte.
Der Lord hatte, während er sprach, dem Kuvert einen Zettel entnommen, der nicht größer war als ein halber Briefbogen eines Oktavformates, auf dem mit Tintenstift die Worte niedergeschrieben waren:
Mylord! Wenn Sie Ihren Kanarienbrillanten zurückhaben wollen, so kommen Sie heute zwischen 1 und 2 Uhr nachts an den Eingang des Tunnels, der von Finchley Road nach Southend hinüberführt. Bringen Sie 5000 Pfund Sterling in Noten der englischen Bank mit, dann kann der Handel geschlossen werden.
Bedingung: Keinen Begleiter, keine Polizei, keinerlei Mitteilung an dieselbe.
Fürchten Sie nicht, dass man Ihnen eine Falle gestellt hat. Dem gegenwärtigen Besitzer des Kanarienbrillanten ist daran gelegen, ihn ohne Aufsehen zu einem soliden Preis loszuschlagen.
Während der Lord den Wortlaut des Briefes mit erregter Stimme vorlas, hatte Sherlock Holmes sein Haupt seitlich geneigt und deutlich gehört, wie ein Wagen durch die Baker Street fuhr – ein zweispänniger Wagen, das unterschied Sherlock Holmes sofort.
Das war ohne Zweifel Lady Diana, die hier mit ihren Gatten um keinen Preis zusammentreffen durfte, wenn nicht alles aufgedeckt werden sollte.
Sherlock Holmes’ Gestalt streckte sich, sein scharf geschnittenes Gesicht nahm einen fast steinernen Ausdruck an, seine großen grauen Augen erweiterten sich, und jene ungewöhnliche Energie, die der berühmte Detektiv im entscheidenden Moment immer an den Tag legte, brach sich in blitzartigen Blicken aus seinen Augen Bahn.
»Nun, was sagen Sie zu diesem seltsamen Ereignis?« fragte der Lord. »Ohne Ihren Rat wollte ich mich nicht zu diesem voraussichtlich nicht ungefährlichen Rendezvous begeben. Aber wir müssen uns schnell entscheiden, denn bis ich in einem Wagen bis zu dem Tunnel von Finchley Road komme, vergeht eine volle Stunde, und wenn ich den geheimnisvollen Fremden zu lange warten lasse, treffe ich ihn vielleicht nicht mehr an.«
»Ich werde Ihnen sofort meine Meinung sagen«, versetzte Sherlock Holmes, indem er sich seinem Schreibtisch zuwandte, obwohl er in diesem Augenblick hörte, wie der Zweispänner vor seinem Tor hielt und deutlich unterschied, dass Harry Taron leichtfüßig aus dem Wagen hinaussprang. »Vorher möchte ich aber noch die Handschrift ein wenig unter meine Lupe bringen – nun, wo ist denn wieder diese Lupe? Nichts Abscheulicheres gibt es für mich, als wenn ich irgendeinen Gegenstand suchen muss – ah, richtig; ich habe ja heute Morgen einen Gegenstand dort beim Fenster unter meiner Lupe gehabt. Sie muss also dort liegen – verdammt, das war ungeschickt!«
In demselben Augenblick, in welchem er sich dem Fenster genähert hatte, war er plötzlich gestolpert, nach vorwärts gefallen und mit dem Ellenbogen in die Scheiben hineingestürzt.
Das zertrümmerte Fensterglas fiel nach außen, die Scherben stürzten auf die Straße nieder.
»Wenn Harry kein Esel ist«, murmelte Sherlock Holmes vor sich hin, »so wird er dieses nicht misszuverstehende Zeichen begreifen.«
»Haben Sie sich auch nichts zuleide getan, Mr. Sherlock Holmes?«, fragte Lord Canbury teilnehmend, indem er auf den Detektiv zustürzte, »o mein Gott, ich glaube gar, Sie bluten ein wenig am Arm.«
»Es ist nur unbedeutend«, erwiderte Sherlock Holmes, während er, um den Lord vom Fenster fernzuhalten, mit unsicheren Schritten auf ihn zu taumelte, »aber ich besitze nicht sehr viel Blut, habe auch daher nicht viel zu verlieren, und sehen Sie, diese wenigen Tropfen schon, bringen mich einer Ohnmacht nahe.«
»Gestatten Sie, dass ich Sie stütze«, sagte der Lord und schlang seinen Arm um den Detektiv, »ich werde Sie zum Sofa führen.«
Das wollte ich ja nur, dachte Sherlock Holmes, und während er sich auf das Sofa niederließ, zog er den Lord neben sich auf das Polster nieder.
Dabei hörte er mit großer Genugtuung, wie der Wagen sich schnell wieder entfernte, und nachdem eine Minute verstrichen war und die Hausglocke noch nicht geläutet wurde, da wusste er, dass Harry Taron ihn verstanden hatte.
»Da sehen Sie, Mylord, ein Detektiv besitzt auch Nerven! Doch nun ist alles vorüber, sprechen wir von unserer Angelegenheit – Mylord – ich widerrate Ihnen entschieden, sich zum Tunnel der Finchley Road zu begeben. Ich kann Ihnen bestimmt versichern, dass Sie dort den Kanarienbrillanten nicht bekommen werden.«
Selbstverständlich nicht, dachte Sherlock Holmes, während er diese Worte sprach, und unwillkürlich richtete sich sein Blick auf seinen großen eichenen Schreibtisch, der dem Sofa gegenüber sich erhob. »Den Kanarienbrillanten habe ich selbst im Geheimfach meines Schreibtisches in Verwahrung – es ist eine Falle, die man dem Aristokraten stellt.«
»Aber bedenken Sie nur, Mr. Sherlock Holmes«, wandte Lord Canbury ein, »es ist für mich von höchster Wichtigkeit, diesen Brillanten zu bekommen, und gern opfere ich dafür 5000 Pfund Sterling, die ich übrigens schon in Banknoten bei mir trage. Aber ich habe auch noch einen anderen triftigen Grund, das mir vorgeschlagene Rendezvous nicht zu versäumen. Sie, Mr. Sherlock Holmes, habe ich einen Blick in meine Seele tun lassen, in die Verfassung meines Gemütes, in der ich mich gegenwärtig befinde und die – ich möchte sagen – von Stunde zu Stunde unerträglicher wird. Ja – ich bin eifersüchtig. Ich habe Grund, zu glauben, dass ich von Lady Diana getäuscht, hintergangen werde.
Wenn ich aber im Tunnel der Finchley Road den Beweis erhalte, dass der Brillant ihr wirklich geraubt wurde, dann habe ich auch den Beweis dafür, dass nicht dieser ganze Überfall in der Equipage, wie ich leider befürchte, ein von Lady Diana schlau erdachtes Märchen ist, durch das sie lediglich ihren eigenen Fehltritt verbergen will. Und dann, Mr. Sherlock Holmes, wenn ich die Garantie dafür bekomme, dass ich meiner jungen Frau, welche ich heiß und zärtlich liebe, Unrecht getan habe, dann werde ich wieder ein glücklicher Mann werden!«
»Aber diesen Beweis werden Sie nicht heute Nacht bekommen und nicht im Tunnel der Finchley Road«, versetzte Sherlock Holmes bedächtig.
»Gleichviel, ich werde der Aufforderung dieses geheimnisvollen Briefes Folge leisten. Ich gehe, Mr. Sherlock Holmes, möge auch kommen, was wolle!«
»Wissen Sie denn auch, dass Sie Ihr Leben dabei riskieren?«, fragte der Detektiv. »Die Gegend der Finchley Road ist sehr verrufen, dort ist London so ziemlich zu Ende. In unmittelbarer Nähe des Tunnels liegen unbebaute Landstrecken, auf denen sich allerlei verbrecherisches Gesindel bei Nacht herumtreibt, dem es auf ein Menschenleben durchaus nicht ankommt.«
»Ich habe einen sechsschüssigen Revolver bei mir und einen Schlagring«, versetzte der Lord.
Ein fast mitleidiges Lächeln umspielte die Lippen Sherlock Holmes’ bei dieser Erklärung des Lords.
»Ich sehe, Mylord«, rief er, »Sie haben noch sehr naive Ansichten über unsere Verbrecher. Gegen die richtet man nichts mit einem sechsschüssigen Revolver, noch weniger mit einem Schlagring aus.«
»Und wenn ich selbst bei dem Unternehmen zugrunde gehen sollte«, stieß Lord Canbury mit erregter Stimme hervor, »ist es besser, als wenn ich die Ungewissheit mit mir trage. Ich will wissen, ob Lady Diana meiner Liebe würdig ist, ich will wissen, ob mein Glück nicht nur ein Scheinglück gewesen, ob mein ganzes Dasein nicht auf einem trügerischen Sumpf aufgebaut ist! Leben Sie wohl, Mr. Sherlock Holmes, ich fahre von hier aus zum Tunnel der Finchley Road!«
Mit einer energischen Bewegung erhob sich der Lord.
Sherlock Holmes folgte dem Beispiel seines Besuchers.
Er erhob sich ebenfalls vom Ledersofa.
»»Ich sehe, Lord Canbury«, rief der Detektiv, »meine gut gemeinte Warnung kann Sie nicht zurückhalten; doch geben Sie mir wenigstens das Versprechen, dass Sie sich um keinen Preis der Welt in den Tunnel hineinlocken lassen werden. Dann wären Sie nämlich sicher verloren. In der Nähe des Tunnels auf der Finchley Road befindet sich eine Taverne; verlangen Sie von demjenigen, der mit Ihnen am Eingang des Tunnels zusammentreffen wird, dass er sich mit Ihnen in die Taverne Zur Feldmaus begibt. Das wird der geheimnisvolle Herr, der Sie zum Rendezvous eingeladen hat, vermutlich tun, denn er weiß ganz genau, dass er in der Taverne Zur Feldmaus sicher ist. Ihnen aber, Mylord, will ich etwas mitgeben, was Ihnen unbedingt den Schutz des Tavernenwirtes verschaffen wird. Haben Sie die Güte und stecken Sie sich diese Nadel in Ihre Krawatte.«
Sherlock Holmes zog bei diesen Worten aus seiner eigenen Krawatte eine unscheinbare Nadel, die eine ganz kleine goldene Hand darstellte, welche zur Faust geschlossen war und nur den kleinen Finger sehen ließ, an dessen Spitze ein unscheinbarer Rubin saß.
»Danke, Mr. Sherlock Holmes«, rief der Lord, indem er die Nadel in seiner Krawatte befestigte, »ich werde mit dem Unbekannten entschieden nur in der Taverne Zur Feldmaus unterhandeln – das verspreche ich Ihnen. Und nun, leben Sie wohl, es ist höchste Zeit, dass ich die Fahrt antrete, denn zwischen ein und zwei Uhr wollte ich dort sein, und es ist jetzt schon zehn Minuten über halb eins.«
»Gestatten Sie mir, dass ich Sie zur Haustür begleite«, sagte Sherlock Holmes, indem er die Lampe vom Tisch nahm, »Mrs. Bonnet dürfte das ganze Haus schon längst dunkel gemacht haben. Und noch einen Rat möchte ich Ihnen geben, Mylord«, fuhr Sherlock Holmes fort, während er dem Gast die Treppe hinableuchtete. »Zweifeln Sie nicht an Lady Dianas Liebe und an ihrer Treue, seien Sie gewiss, dass sie den Schwur, den sie Ihnen am Altar geleistet hat, treulich und gern erfüllt.«
»Ah, wenn ich das glauben könnte«, erwiderte der Lord, »Mr. Sherlock Holmes – dann wäre ich ein glücklicher Mann!«
»Sie können es glauben«, versetzte der Detektiv, während er die Haustür öffnete, »und nun – Glück auf den Weg, Mylord.«
Nochmals drückte Lord Canbury dem Detektiv die Hand, dann hüllte er sich fester in seinen Mantel, um sich gegen den niederfallenden Schnee zu schützen, und schnell war er um die Ecke der Baker Street verschwunden. Sherlock Holmes hatte die Haustür nicht wieder verschlossen. Er stellte die Lampe auf eine Treppenstufe, rieb sich dann seine hageren Hände, dass die Finger knackten und murmelte vergnügt vor sich hin: »Die Situation war kritisch, aber ich habe sie glücklicherweise noch zum Guten wenden können. Es wäre schrecklich gewesen, wenn der Lord hier in meiner Wohnung mit seiner Frau zusammengekommen wäre, da hätte sich die Wahrheit nicht länger verbergen lassen und wer weiß, wie der junge leidenschaftliche Mann die Erklärung aufgefasst hätte. Hoffentlich erlebt er in der Finchley Road nicht zu viel Unangenehmes. Ah, meine Nadel wird ihn schon schützen, wenn er klug genug ist, die Unterhandlungen in der Taverne Zur Feldmaus zu führen, und jetzt kommen wir mit der Lady zu Ende.«
Sherlock Holmes trat dicht an die Haustür, doch so, dass seine schlanke Gestalt von derselben verborgen wurde und nur sein Gesicht zum Vorschein kam.
Dann spitzte er seine Lippen und stieß dreimal rasch hintereinander einen schrillen Pfiff hervor.
Im selben Augenblick lösten sich aus einer Mauernische des gegenüberliegenden Hauses zwei dunkle Gestalten ab und kamen schnell über den beschneiten Weg herüber.
Es waren Harry Taxon und Lady Diana Canbury.
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