Worst Case
T.J. Newman
Worst Case
Originaltitel: Worst Case Scenario
Thriller, Taschenbuch, Goldmann, München, 19. Juni 2025, 416 Seiten, 12,00 EUR, ISBN 9783442496303, Übersetzung aus dem Amerikanischen von Thomas Bauer
Stromausfälle: meist unerwartet, stets ärgerlich. Für einen Teil der Bürger der beschaulichen Kleinstadt Waketa im US-Bundesstaat Minnesota ein Grund zur Besorgnis – mindestens. Der Preis, wenn man seit über 50 Jahren im Schatten eines Atomkraftwerks lebt, liebt und arbeitet. Etwa der frisch verwitwete Feuerwehrkommandant Steve Tostig, der die Trauer vertagen muss. Die Nuklearingenieurin Jocelyn Joss Vance erlebt den Blackout vor Ort am heimischen Frühstückstisch. Und deutet die Signale leider richtig. Es ist was mit dem Atomkraftwerk. Doch weder Steve noch Joss ahnen, was sie unmittelbar vor der eigenen Haustür erwartet: Flugzeugtrümmer, eine Schneise der Zerstörung und des Todes, die pfeilgerade gen Clover Hill-Kernkraftwerk führt. Der Verursacher? Eine Boeing 757, deren Kapitän aus heiterem Himmel einen tödlichen Herzinfarkt erlitt. Zu jäh für Gegenmaßnahmen und ein garantiertes Todesurteil für die 295 Seelen an Bord. Eine Tragödie, die einer Katastrophe gipfelt, weil die Boeing ausgerechnet mitten auf das Kraftwerkgelände stürzt. Schnell realisiert man: Einen der Kühltürme hat es übel erwischt, hoch radioaktives Kühlwasser entweicht in einer beängstigenden Geschwindigkeit, eine Kernschmelze ist lediglich eine Frage der Zeit. Ein sogenannter Stufe 7-Zwischenfall? Vergleichbar mit Fukushima oder Tschernobyl? Weit gefehlt. Die weitreichenden Folgen heben den Vorfall sogar noch eine Stufe höher. Bedeutet: potenziell dauerhafte Folgen nicht nur für einen Großteil des nordamerikanischen Kontinents, sondern zudem für den Rest der Welt. 16 Stunden bleibt der bunt zusammengewürfelten Truppe – undankbar wenig. Bedeutend weniger Zeit bleibt dagegen den Feuerwehrfrauen und -männern für den fünfjährigen Connor, den der Absturz zum Vollwaisen machte und der hilflos und von einem Flammenmeer umgeben im Auto der Eltern feststeckt …
Vom Tellerwäscher zum Millionär, besser gesagt von der Flugbegleiterin zur international gefeierten Bestsellerautorin: Der kometenhafte Aufstieg von T. J. Newman klingt fast zu märchenhaft, um wahr zu sein. Dokterte sie auf Nachtflügen und in der Anfangsphase der Corona-Pandemie beim unfreiwilligen Zwangsurlaub am Plot ihres Debüts Flug 416, ahnte sie nicht, welcher Mammutbaum daraus entwachsen würde. Die Konzepte, die sie unter anderem auf Servietten notierte, waren die Saat für einen New York Times-Bestseller. Auch hierzulande schaffte es Flug 416 auf die die Bestsellerliste des Spiegels. Mehr noch: Universal sicherte sich die Filmrechte für 1,5 Millionen Dollar. Bereits beim Nachfolger, Absturz kabbelten sich Filmstudios und Produzenten untereinander, darunter Nicole Kidman, Alfonso Cuarón (Gravity) und ein gewisser Spielberg. War der Hype gerechtfertigt? Aber Hallo. War Flug 416 ein routinierter Thriller, machte Newman mit Absturz einen mittelschweren Quantensprung. Das Schicksal der Überlebenden, die auf dem Meeresgrund im Wrack einer abgestürzten Maschine auf Rettung harren, war von der ersten bis zur letzten Seite ein Pageturner vom Allerfeinsten. Nun also Worst Case. Allein von den Dimensionen der Geschichte abermals ein gewaltiger Satz weg von der sonstigen Konkurrenz. Narrativ ebenso. Newman schreibt furchtlos und koordiniert. Der präzise dargestellte Absturz der 757 sorgt bereits nach weniger als zehn Minuten Lesezeit für klamme Hände. Filmreife Dramatik, ohne dabei distanziert zu wirken. Neben Newmans Talent für Spannung ihre zweite große Stärke: sie reduziert sämtliche handelnden Personen niemals auf bloße Staffage. Niemand verkommt zum reinen Mittel zum Zweck. Ihr liegen diese Menschen am Herzen. Mit ihren Fehlern. Ihren persönlichen Geschichten. Es menschelt also. Da verzeiht man der Dame so manches von anderen bereits gefährlich strapazierte (Hollywood-)Klischee. Es passt eben alles bestens ineinander. Die Balance zwischen globaler Gefahr, wahnwitziger Action und persönlichen Tragödien meistert sie beeindruckend. Vorbild Michael Chrichton wäre sicher mächtig stolz. Auch in Sachen Recherche. T.J. Newman hat eindeutig ihre Hausaufgaben gemacht. Dass sie sich mit Passagierflugzeugen auskennt: logisch. Aber auch in Sachen Kernkraft & Co. zeigt sie sich versiert und teilt nebenher ordentlich aus, was die angeblich so saubere Stromversorgung anbelangt. Wer keine Tomaten auf den Augen hat, bei dem dürfte ein ganzer Weihnachtbaum angehen. Über 400 Seiten lang schustert sie ein Over-the-Top-Szenario, das niemals den Fokus verliert, sich aber auch Zeit für die Männer und Frauen nimmt, die das Unmögliche zu stemmen versuchen – inklusive der einen oder anderen Träne auf dem Weg.
Fraglos hat die Thrillerwelt einen neuen Superstar. Ihr Name? T. J. Newman. Ich für meinen Teil fiebere ihrem nächsten Buch bereits entgegen.
(tsch)
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