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Das unheimliche Buch – Das unbewohnte Haus

Das unheimliche Buch
Herausgegeben von Felix Schloemp

A. M. Frey
Das unbewohnte Haus

Mitten im Gewühl der Großstadt, in einer alten, engen Straße, steht ein altes, unbewohntes Haus. Doch die enge Straße führt von den Eingeweiden der Stadt zu ihren riesigen Speiseschüsseln hinunter, zum Marktplatz. Die Eingeweide sind immer hungrig. Deshalb greifen tagaus, tagein, vieltausend leere, unersättliche Hände durch die alte Straße nach den Speisen auf dem Marktplatz und kehren gefüllt wieder zurück.

Daher ist die alte, enge Straße durchlärmt von einem wogenden Strom – sie, die Hochbetagte, die doch ein Anrecht auf Ruhe hätte. Daher kommt es, dass sie sich Schminke und modische Kleidung gefallen lassen muss. Wo ist ihr liebes, holpriges, grasdurchwachsenes Pflaster geblieben? Ein grauer, harter Teppich, langweilig in seiner faltenlosen Vornehmheit, bedeckt ihren Boden. Und wo ist der trauliche Prunk ihrer alten Behausungen? Ein neues Häuserkleid glänzt wohlgebügelt nach jüngstem Zuschnitt und vergisst dabei, schreiende Plakate zu tragen und unfeine Geschäfte zu beherbergen.

Und doch ist die alte Straße in ihrem Inneren geblieben, wie sie war. Sie hat den Duft ihrer früheren Zeit nicht verloren und ihr zärtlich behagliches Gebaren nicht eingebüßt. Immer noch geht sie in fürsorglichen Windungen um Dinge herum, deren Gegenwart wir gar nicht mehr ahnen, und hegt immer noch eine Vorliebe für zufriedene Umständlichkeit.

Und ein Fleck in ihrer modischen Gewandung hat sich aus vergessenen Tagen erhalten: ein prächtiges altes Haus. Warum behauptet es unter den neuen, bunten Lappen seine verschossene Pracht? Es ist vom Giebel bis zum Keller unbewohnt. Durch seine breite Toreinfahrt, die unter der Wucht der grauen Steinmassen geduckt ist, gelangt man zu den bewohnten Hinterhäusern und mitten hinein in das geschäftige Treiben der Werkstätten. Seine stillen Räume aber sind leer. Die untersten Fenster tragen eine rostige Hülle aus eisernen Fensterläden, die Fenster im ersten und zweiten Stock schauen mit staub- und spinnwebverschleierten Augen in den Trubel der Straße und verachten die jungaufgeschossene Umgebung.

Dabei ist die Umgebung auch liebenswert. Links stemmt ein plumper, gelber Flegel die Ellbogen gegen den bröckelnden Bau, während rechts ein schmales, hochnäsiges Glasgehäuse über das altersgraue Dach ragt. Aber es bestreitet seinen Platz doch. Es steht immer noch sicher auf breitem Grund und kümmert sich gar nicht um die feindselige Nachbarschaft.

Der gelbe Flegel beherbergt einen Bäckerladen und eine Unzahl kleiner Kinder. In seinem Inneren geht es lebhaft zu und an seinen Fenstern wechseln in einem fort die Gesichter – ganz anders als bei dem stillen Grübler nebenan, der alles Lebendige von sich abgetan hat.

Doch nicht alles. Denn manchmal schleicht ein großer Kater die niedrigen Treppen herunter und hockt in der Einfahrt – grau wie das Haus. Er ist es auch, der allein einen notdürftigen Verkehr mit der Nachbarschaft aufrechterhält. Ab und zu schreitet er bedächtig zum Bäcker nebenan und schnurrt durch den Laden. Lange hält er es dort jedoch nie aus. Bald kommen die Kinder und wollen mit ihm spielen, dabei verkennen sie jedoch sein ernstes Wesen und verursachen so seinen überstürzten Aufbruch. Zu dem hochnäsigen Herrn zur Rechten verirrt er sich hingegen selten. Er geht nur hinüber, weil er neugierig ist und ergründen will, welche lächerlichen Dinge – Kleider, Töpfe, Hüte, Schüsseln, Schuhe – in seinem gläsernen Leib aufgestapelt sind. Aber man empfängt ihn stets recht unwirsch und weist ihn zurecht, er solle sich wieder entfernen. Denn kaufen tut er ja doch nichts. Spaziergänge, die ihn weiter als zu den beiden Nachbarn führen, flößen ihm Unbehagen ein. Deshalb kehrt er immer bald wieder heim – und immer mit verletztem und erbittertem Herzen. Dann steigt er unhörbar die dunklen Treppen hinauf – niemand weiß, wohin – und lässt sich lange nicht mehr blicken.

Eines Tages nun – das war schon sehr merkwürdig, aber große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus – erschien der alte graue Kater mit einer zartblauen Schleife um den dürren Hals. Niemand wusste, wer sie ihm umgebunden hatte. Die Leute schüttelten die Köpfe, erst erstaunt und dann belustigt. Aber sie respektierten den lächerlichen Halsschmuck doch als Ausfluss einer Macht, die er nun auf seiner Seite hatte, und begegneten ihm mit erzwungener Höflichkeit.

Der alte Graupelz zeigte sich auch öfter als früher. Freilich saß er nur für Augenblicke unter dem geduckten Haustor und zog sich bald wieder in seine geheimen Gemächer zurück. Wenn er jedoch mit sich selbst schnurrend und sich mit der Pfote die narbige Nase reibend seine grünen Augen aufmerksam über das hastende Straßenbild gleiten ließ, schien er recht zufrieden zu sein. Und jeder Mensch mit Geschmack musste zugeben, dass das zarte Blau der Schleife ausgezeichnet zu dem Grau seines Rockes passte.

Es war an einem schönen Herbstmorgen. Oder besser gesagt an einem Morgen, der schön zu werden versprach. Denn es war noch sehr früh am Tag und die Sonne steckte in dicken Nebeltüchern. Ich schlenderte durch die langsam erwachende Stadt und kam, ohne es zu wollen, in die Gegend des unbewohnten Hauses. Hier und da schoben Händlerinnen ihre Obstkarren die menschenleeren Straßen entlang, vom Markt, wo sie in aller Frühe ihren Tagesvorrat kaufen.

An einer Mündung mehrerer Straßen, wo auch die Alte Enge vom Marktplatz heraufzieht, stand ein Schutzmann. Gerade als ich an ihm vorbeigehen wollte, steuerte eine Obstfrau mit ihrem Wagen auf ihn zu. Mir fiel die Hast ihrer Bewegungen und der verwirrte Ausdruck ihres runzeligen Gesichts auf – deshalb blieb ich stehen.

Sie sprach den Schutzmann mit gedämpfter, ängstlicher Stimme an und fragte, ob er das alte, leerstehende Haus kenne, das in die enge Straße hineinragt.

»Gewiss«, sagte der Schutzmann, »die Straße gehört ja zu meinem Revier.«

»Ja, also«, fuhr die Alte fort, »da habe ich eben etwas erlebt. Es ist nicht zu glauben. Als ich mit meinem Wagen an dem alten Haus vorbeikam, habe ich gar nicht aufgepasst. Plötzlich klirrte ein Fenster und eine Stimme rief ›Katharina Kreiderer‹.« Sie sei stehengeblieben und habe aufgeschaut. In dem alten, leeren Haus, an einem geöffneten Fenster im ersten Stock, habe sie eine vornehme Dame gesehen! Sie sei jung und schön gewesen, mit langen schwarzen Locken, die ihr bis auf die Schultern fielen, und sie habe ein hellblaues, bauschiges, ausgeschnittenes Seidenkleid getragen, wie man es jetzt gar nicht mehr trägt. Und neben ihr auf dem Fensterbrett sei eine graue Katze gewesen, um den Hals eine Schleife in derselben Farbe wie das Kleid der schönen, gepuderten Dame.

Der Schutzmann lächelte. Das mit der Katze stimme, sagte er. Er habe sie selbst mehrmals in der letzten Zeit vor dem Haus bemerkt, mit einem blauen Band um den Hals. Aber das Übrige sei doch wohl …

»Er soll nur erst weiterhören«, unterbrach ihn die Händlerin.  Es habe Katharina Kreiderer gerufen – und so heiße sie auch, so wahr ihr Gott helfe! »Katharina Kreiderer, ich benötige Obst für unseren Tisch heute Abend. Du sollst nicht leer ausgehen, wenn du mir eine Schürze voll von deinen Pflaumen, Äpfeln, Birnen und Trauben heraufbringst.«

So habe die Dame gesprochen, mit einer dünnen, aber deutlichen Stimme, und ein Geldstück auf die Straße fallen lassen. Sie bückte sich und hob die Münze auf – es war ein Goldstück.

»Aber recht schönes Obst! Wir feiern ein kleines Fest heute Nacht. Nun, wird’s bald?«, habe die dünne Stimme ärgerlich gerufen. Da habe sie sehr erschrocken reagiert und so viel Angst bekommen, dass sie sich weder hinauf die Treppen noch fortzulaufen getraut habe. Schließlich habe sie, was ihr gerade in die Hände gekommen sei – Äpfel, Trauben und Birnen – unter das Tor gelegt und geschüttet.

»Genug! Genug! Ich komme hinunter!«, habe die Dame droben endlich gelacht und das Fenster zugeschlagen. Da hörte sie auf, Früchte niederzulegen, und wagte es, schleunigst mit ihrem Karren davonzufahren.

Und nun stehe sie hier. Dies sei ihr vor wenigen Minuten zugestoßen, so wahr ihr Gott helfe.

Der Schutzmann gab sich als Aufgeklärter. Er wiegte das behelmte Haupt und lächelte.

Während der Erzählung war ein alter Herr zu uns getreten. Er lächelte auch, meinte aber, man könne ja die paar Schritte bis zu dem fraglichen Haus hinuntergehen und nachsehen.

Doch die Obstlerin lehnte heftig ab. Sie wolle niemals wieder in die verhexte Straße gehen.

Schließlich brachten wir sie doch dazu, sich unserem dreifachen Schutz anzuvertrauen.

Vor dem Haus fand sich nichts. Keine Spur von Obst unter dem Tor. Die Fenster waren geschlossen und die Bewohner starrten mit trüben Augen gleichmütig in die Straße. Ringsum war kein menschliches Wesen zu sehen. Nur der alte Kater hockte in der Toreinfahrt und schlich die Treppen hinauf, als wir näherkamen.

Man merkte ihrem Karren gar nicht an, dass sie Obst abgeladen hatte. Er sei ja bis obenhin gefüllt, erklärte der Schutzmann. Wo sie denn das Goldstück habe, von dem sie vorhin gesprochen habe, fragte er.

Die Alte durchkramte alle Taschen und durchwühlte ihre kümmerlichen Pfennige – es fand sich kein Goldstück.

Kein Obst fehlte, aber auch kein Goldstück war vorhanden. Da hatte man es ja deutlich: Sie hatte gesponnen, bemerkte der Schutzmann. Entweder habe der Frühnebel sie genarrt oder sie habe am Abend zuvor zu viel getrunken.

Da wurde die Alte böse, begann beleidigt zu keifen und sagte, sie wisse, was sie erlebt habe, habe kein Wort zu viel gesagt, sei nicht betrunken und ihr Lebtag ein anständiges Weib gewesen.

Doch der Schutzmann setzte seine Amtsmiene auf, schnitt den langen Faden ihrer Rede ab und befahl ihr, sich fortzumachen – und zwar schleunigst, widrigenfalls …!

Die Alte trollte sich eifrig brummend. Und der Schutzmann kehrte auf seinen Posten an der Straßenkreuzung zurück.

Auch ich wollte mich auf den Weg machen. Allmählich fraß sich die Sonne durch den Nebel. Es wurde lebhafter in der Stadt. Als ich ein paar Schritte gegangen war, merkte ich, dass der alte Herr mir gefolgt war.

»Ja, ja! Das unbewohnte Haus!«, sagte er und rückte seine goldene Brille zurecht. »Es ist seltsam. Niemand wundert sich, dass es leer steht. Heute weiß niemand etwas darüber und will auch nichts wissen. Die Behörden kümmern sich nicht darum. Niemand will es niederreißen und auf dem Grundstück neu bauen. Es ist wirklich merkwürdig«, wiederholte er und schüttelte lächelnd den Kopf.

Ich wurde neugierig und fragte: »Wissen Sie etwas Näheres?«

Er blieb stehen und sah mich an: »Hören Sie, ich muss mich wirklich des Gedankens erwehren, dass es am Ende doch bewohnt ist.« Er lachte wieder: »Ja, ja! Jetzt lache ich. Aber vorhin, als die Obstfrau erzählte, überkam mich ein seltsames Gefühl.«

»Wissen Sie denn etwas Bedeutungsvolles über das Haus?«, wiederholte ich meine Frage.

»Ja – oder besser: nein. Was ich weiß, ist nicht so, dass man ihm nach ruhigem Überlegen einen wirklichen Wert beimessen könnte. Aber wenn Sie möchten, erzähle ich Ihnen gern, was mir bekannt ist.«

Ich bat ihn darum.

»Also – ich schöpfe meine Kenntnisse über das Haus aus alten Schriften und Stadtbüchern. Ich krame mit Vorliebe in den gedruckten Überbleibseln einer vergangenen Zeit. So fand ich eines Tages in einer Chronik unserer Stadt aus dem Jahr 1708 einen Bericht über das merkwürdige Schicksal eines neu erbauten Hauses, das durch seine Pracht damals Aufsehen erregte. Ein reicher Advokat hatte es bauen lassen und bewohnte es mit seiner jungen Frau und seiner Dienerschaft. Da fand man wenige Monate nach dem Einzug des Paares an einem Herbstmorgen im Oktober die beiden Eheleute tot mit schweren Stichwunden: ihn auf der Straße vor dem Haus, sie in einem der prächtigen Zimmer, nackt und auf dem Speisetisch festgebunden, wie die Chronik ausdrücklich sagt. Von dem Gesinde war keine Seele zu entdecken, auch später fand sich niemand ein. Man erfuhr lediglich, dass in jener Mordnacht Gäste im Haus gewesen sein mussten, denn die Nachbarn hatten Musik und vielstimmiges Lachen gehört. Aber auch von den Gästen konnte keiner ermittelt werden. Die Bluttat blieb unaufgeklärt und ungesühnt. Soweit die Chronik von 1708.«

»Woraus entnehmen Sie denn«, fragte ich, »dass jenes Haus und das, welches uns heute beschäftigt hat, das gleiche ist?«

»Darüber besteht für mich kein Zweifel. Es geht aus der eingehenden Schilderung seiner Lage und Bauart unbedingt hervor, die sich sowohl in der Chronik als auch in einer anderen Schrift jener Zeit findet. Sahen Sie das verwitterte Wappen über dem Tor? In jener Schrift wird es bei der Beschreibung des Hauses erwähnt, ebenso wie noch manches andere, das ich wiedergefunden habe. Ich habe damals – es mögen zwölf Jahre her sein – alles eingehend geprüft und verglichen. Mir ist unzweifelhaft, dass jenes vor zwei Jahrhunderten neu erbaute Haus, das nach kurzem Glück seinen Herrn verlor und unbewohnt stand, und dieses alte, das heute unbewohnt steht, ein und dasselbe sind.«

Ich wollte etwas bemerken, aber der alte Herr kam mir zuvor.

»Warten Sie nur«, sagte er, »die Hauptsache der ganzen Geschichte kommt noch! Ist es nicht ein gelungener Zufall, dass mir erst neulich in der Staatsbibliothek beim Herumstöbern in alten Druckschriften eine vergilbte Zeitung aus dem Jahr 1808 in die Hände fiel, die eine lächerliche Geschichte von jenem Haus erzählt? Die Zeitung trug das Datum des vierten Oktobers und berichtete von dem unbewohnten Haus in der Ledergasse – Sie sehen, schon damals hieß es Das unbewohnte Haus – Folgendes: Ein Anwohner der Straße habe in später Nachtstunde – es ging schon gegen Morgen, als er heimkehrte, der Himmel weiß, woher und in welcher geistigen Verfassung – Lichter und Lärm in dem sonst leeren Bau wahrgenommen. Neugierig blieb er stehen und sah hinter den Scheiben Gestalten hin und her eilen. Plötzlich sei ein Fenster aufgerissen worden, ein Körper sei hinausgeflogen und unten auf das Pflaster geschlagen. Da habe ihn das Grausen gepackt und er sei nach Hause geflüchtet. Auf die Anzeige des nächtlichen Beobachters hin sei das Haus am nächsten Morgen durchforscht worden – natürlich ohne Erfolg.

Der alte Herr schwieg. Nach einer Pause sagte er lächelnd: »Sie wundern sich am Ende gar, dass mir diese Geschichten so deutlich im Gedächtnis geblieben sind! Aber ich meine, das ist doch erklärlich, weil ich vom ersten Augenblick an, der mich auf das Haus aufmerksam machte, sein Schicksal im Blick behielt und weil mir die beiden Berichte – der aus der Chronik und der aus der Zeitung – die zwischen ihnen ein Jahrhundert liegt, so merkwürdig verknüpft erscheinen. Es ist, als ob sie sich ergänzen wollen, als ob nach hundert Jahren der Schlüssel zu jener dunklen Bluttat gefunden werden soll, als ob ein Betrunkener eines Nachts in seinen Wahnvorstellungen das sieht, was ein Nüchterner genau hundert Jahre früher leibhaftig hätte sehen können. Es ist, als ob …«

Er brach ab und sagte schnell: »Aber Sie müssen nicht denken, dass ich an das Gefasel der alten, vergilbten Zeitung von 1808 glaube. Sie erwähnt noch, das Haus stehe seit Menschengedenken leer; von der alten Chronik weiß sie nichts. Ich aber halte es für möglich, ja, ich möchte fast sagen, für wahrscheinlich, dass der Bau seit seinen ersten, so schnell ums Leben gekommenen Bewohnern niemanden mehr beherbergt hat.«

Wir waren unterdessen mitten in der Stadt angekommen, im Getümmel der Straßenbahnwagen und Automobile. Der alte Herr blieb stehen und sagte: »Und nun heute die Obstfrau! Wie seltsam der Zufall spielt.« Er lächelte wieder sein feines Lächeln. »Er möchte einen gerne zum Narren machen, der Zufall. Gerade vor diesem Hause lässt er eine Obstfrau in Sinnestäuschungen verstricken – wie damals in der Nacht jenen Mann! Es ist wirklich gut, dass solche Zufälle, die über das ganze Jahrhundert hinweg scheinbar Fäden knüpfen, nicht allzu häufig sind. Aber jetzt leben Sie wohl!«, rief er auf einmal ganz erschrocken. »Ich halte Sie am Ende schon zu lange auf? Entschuldigen Sie meine Redseligkeit.«

Ich wehrte ab, dankte für seine freundliche Auskunft und wir trennten uns.

Im Hin und Her des Tages vergaß ich bald den alten Herrn, die Ostfrau und den Schutzmann.

Und als ich am Abend – müder als sonst, daran erinnere ich mich genau – ins Bett sank, kam mir keine Erinnerung an den frühen Morgen und sein Erlebnis. Das ist sonderbar, und ich habe später manchmal darüber nachgedacht. Ich finde jedoch keine andere Erklärung als eben jene Müdigkeit.

Aber mitten in der Nacht – nach Stunden eines traumlosen Schlafes – brachte mich irgendetwas zum Erwachen und zauberte mir noch bei halbem Bewusstsein die Bilder aus der Ledergasse in die geschlossenen Augen – so eindringlich, dass ich mein schlaftrunkenes Dämmern abschüttelte, mich im Bett aufsetzte und nachzudenken begann.

Die Frau, wie sie in ihren Pfennigen nach dem Goldstück suchte, mit Fingern, die noch bebten von der nackten Erregung. Die graue Katze, wie sie lautlos die staubigen Treppen hinaufglitt und sich in ein ungewisses Dunkel auflöste. Der Schutzmann mit blitzenden Helm, ganz Wirklichkeit, ein sicherer Fels im Ansturm der Händlerin, die ihre Geschichte erzählte. Der alte Herr und seine ausgegrabenen Berichte – er, der alles mit Zufall und Täuschung zu erklären und zu schlichten suchte, gestaltete dabei alles nur noch verwirrender. Die Chronik von 1708, die Zeitung von 1808 – ein Stich fährt mir durch die Brust und versetzt mir den Atem: Welches Jahr schreiben wir denn jetzt? Wahrhaftig, 1908. Und von wann stammt der Bericht aus jener vergilbten Zeitung? Vom Herbst 1808! Und die Chronik? Welches näheren Datums glaubte der Alte sich zu entsinnen? Des vierten Oktober, wenn ich mich nicht irre. Und heute schreiben wir …? Den vierten Oktober!

Ich mache hastig Licht und sehe nach der Uhr. Sie zeigt kurz nach zwei Uhr morgens. Ich stehe auf und suche im Kalender. Es stimmt schon, wir schreiben den vierten Oktober 1908, seit eindreiviertel Stunden. Es stimmt alles!

Ich ziehe mich an – ganz mechanisch – und erst, als ich damit fertig bin, wird mir bewusst, was ich beginnen will. In der Nacht auf den 4. Oktober 1708, vor zweihundert Jahren, hatte sich jene geheimnisvolle Tat zugetragen – ein Jahrhundert später hatte sie sich wieder gemeldet – und heute, genau nach zweihundert Jahren, muss ich hinunter in die Ledergasse! Was soll die Erscheinung am Fenster gesagt haben: »Wir feiern heute Nacht ein Fest?« Ich muss hinunter!

Es treibt mich unwiderstehlich zum unbewohnten Haus. Ich eile die ausgestorbenen Straßen entlang, durch die ein leiser Nebel braust.

Der Weg ist weit. Es schlägt halb drei, als ich in die Ledergasse einbiege. Kein Laut durchbricht die dunkle Stille.

Noch bevor ich dem unbewohnten Haus gegenüber bin, sehe ich einen Lichtschein aus den Fenstern des ersten Stocks. Ich wundere mich nicht. Ich finde meinen festen Glauben bestätigt.

Bald stehe ich, gegen die Häuserwand der anderen Straßenseite gedrängt, und schaue hinauf.

Die Scheiben sind nicht verdeckt. Zwei Kronleuchter mit vielen Kerzen flackern in gelben Flämmchen. Zarte Violinen schmeicheln mit einer tändelnden Melodie. Sechs oder acht Gestalten sitzen im Kreis, von einigen kann ich den Kopf, von anderen auch die Brust sehen. Mir scheint, es sind lauter Männer, in zwangloser Bewegung, lachend und plaudernd. Verwischte Geräusche, nichts Bestimmbares, wie ganz von weitem, überwuchert von den hellen Violinen, tasten sich an mein Ohr.

Ich brenne darauf, mehr zu sehen. Das Schicksal ist mir günstig. Das Haus, an dem ich lehne, hat vergitterte Fenster. Ich klettere in das Gitterwerk und suche einen festen Stand.

Nun überblicke ich durch drei Fenster mühelos das große Zimmer. Ich habe mich geirrt. Unter den Anwesenden ist eine Frau. Die übrigen sechs sind allerdings Männer.

Die Dame – mir fällt die Beschreibung der Händlerin ein – sieht der weiblichen Gestalt auffallend ähnlich. In ihrem Schoß liegt der blaubeschleifte graue Kater. Er sieht jung und geschmeidig aus und schlägt spielend mit seinen Tatzen nach ihrer Halskette.

Auf der weiß gedeckten Tafel stehen Gläser, Karaffen, Teller und zwei prächtige Schüsseln, die mit Früchten gefüllt sind. Bei ihrem Anblick fällt mir wieder die Obstfrau ein.

Die Männer sind sorgsam und bunt gekleidet, ihre Tracht erinnert an Mode von vor zweihundert Jahren.

Nur einer, ein großer Blasser mit dunklen Haaren, ist ganz in Schwarz gehüllt. Er muss der Herr des Hauses sein, denn er steht auf und schenkt seinen Gästen eigenhändig aus einer funkelnden Karaffe die Gläser voll.

Auch die Dame in hellblauer, tief ausgeschnittener Seide erhebt sich und langt mit weißen Händen nach den Früchten des Aufsatzes. Während sie sich zwischen zwei Gästen hindurchzwängt, um in die Mitte des Tisches greifen zu können, neigt sie sich. Dabei presst der eine die Lippen auf ihren Busen, während der andere seinen Arm fühlend um ihre Hüfte legt. Ein Dritter hat sich von hinten herangeschlichen und küsst ihren Nacken. Sie lächelt, wirft den Kopf zurück und späht nach dem Mann in Schwarz, der am anderen Ende der Tafel den Flüsternden den Rücken kehrt. Ein vierter macht eine gemeine Geste gegen den Ahnungslosen, und alle verziehen das Gesicht, um ein Lachen zu unterdrücken. Nur der Letzte, ein schmächtiger, blonder, wohl noch junger Mensch, sitzt regungslos da. Ich kann seine Züge nicht erkennen, denn er sitzt so starr da, seit ich die Gesellschaft beobachte.

Und immer schwirren die unsichtbaren Violinen. Die Töne müssen aus einem rückwärts gelegenen Raum kommen.

Als der Schwarze sich wendet, ist die Frau an ihren Platz zurückgekehrt und alle zeigen ein harmloses Grinsen. Auch er lächelt, doch sein Lächeln ist wie eine Maske: ohne inneren Antrieb und ohne Leichtigkeit. Er geht wie gestachelt hierhin und dorthin, spricht mit dem einen und dem anderen, und seine dunklen Augen heucheln, seinen Lippen zu folgen, aber sie schauen nur in sich selbst.

Endlich tritt er ans Fenster. Ich fürchte mich schon entdeckt, doch er starrt auf die Straße und lässt sein gequältes Lächeln fallen. Eine furchtbare Entschlossenheit kämpft sich durch seine Züge und versteinert sie. Ein paar Augenblicke steht er so, dann holt er sein Lächeln wieder hervor, wendet sich, wirft einen Blick auf die Uhr, tritt eilig zu der Dame und flüstert ihr etwas ins Ohr.

Sie erhebt sich gemächlich, streut noch das eine oder andere lustige Wort hin und geht hinaus.

Es schlägt gerade drei Uhr.

Die Zurückgebliebenen werden lebhafter. Einige sind angetrunken. Ihre Bewegungen verraten ein willenloses Behagen. Ihr ungebundenes Lachen taumelt zu mir herüber.

Der Mann in Schwarz geht der Reihe nach zu jedem seiner Gäste. Er verbirgt ihnen seine Nüchternheit, lacht dem einen ins Gesicht und schlägt dem anderen auf die Schulter.

Dann stimmt er ein Lied an und alle lauschen. Ich höre seine Stimme wie aus weiter Ferne. Manchmal versagt sie ganz, erstickt, dann strömt sie lauter. Aber immer klingt sie, als sei sie eingeschlossen, eingesargt – vermodert und verstaubt.

Da bricht der Gesang mit einem Schrei ab, die Tür fliegt auf, und aus dem Dunkel windet sich ein nackter Menschenkörper in das gelbe Licht der vielen Flämmchen.

Alle sind aufgesprungen und flüchten vom Tisch weg, in die Ecke, gegen eins der Fenster. Scheiben klirren, werden zerstoßen und spritzen auf das Pflaster.

Nur der Schwarze steht noch in der Nähe der Tür. Ich höre durch das zerbrochene Fenster jedes Wort. »Packt sie fest!«, befiehlt seine heisere Stimme. »Keine Besorgnis!«

Es ist die Dame von vorhin. Drei Diener kämpfen mit der sich wehrenden Frau.

»Vorwärts, vorwärts!«, drängt die heisere Stimme.

Zwei der Gäste wollen sich einmischen. Doch der Mann in Schwarz wirft sich herum, reißt den Degen von der Seite und höhnt: »Einen Augenblick, ihr werten Herren! Meinem Weib soll nichts geschehen, von mir nicht! Und euch soll auch nichts geschehen. Einen Augenblick!«

Die Fünf warten wieder dumpf in der Ecke, verwirrt und unsicher vom Wein und dem, was sie sehen.

Unterdessen haben die Diener die Nackte auf den weißen Tisch gezerrt. Sie legen Stricke um ihre Füße und um die Platte, sodass sie nun fügsam und stumpf mitten auf dem Tisch an ihn gefesselt steht. Ihre Hände sind ihr auf den Rücken gebunden.

Die Diener verschwinden. Der Schwarze droht schweigend und wie erstarrt an der Tür. Die Frau versucht, in die Knie zu sinken, kann es aber nicht und richtet sich stöhnend wieder auf. Die Fünf verharren geduckt. Es ist ganz still.

Da ertönt eine Stimme aus dem Regungslosen an der Tür: »Ich habe euch heute Nacht geladen, ihr lieben Freunde, um Gericht zu halten. Das Urteil ist gefällt. Es bedarf nur des Vollzugs. Vollzug des Gerichtes! Ihr seid es wert, es zu vollziehen. Ihr seid […]«

Er bricht ab und wirft seine grauenhafte Starre von sich: »Ist einer unter euch, der sie nicht schon so gesehen hat? Einer, der sich rühmen könnte, die Dirne nicht besessen zu haben? Nur einer? Dann soll sie frei ausgehen!«

Tiefe Stille folgt seinen überstürzten Worten.

Dann spricht der Schwarze ruhiger weiter: »Ich wusste es wohl: Keiner ist unter euch. Aber viele sind noch, die so dastehen würden wie ihr – wie ihr –«

Und plötzlich ausbrechend: »Tötet sie! Ihr sollt sie töten! Gerade ihr!«

Das Weib schreit auf.

Da löst sich einer aus dem Haufen und drängt auf den Gatten ein. Er schlägt ihm die Waffe aus der Hand und wiederholt: »Tötet sie! Oder ihr verlasst das Haus nicht lebendig!«

Ein anderer springt an die Tür. Sie ist verschlossen. Der Schwarze lächelt und treibt ihn zurück. »Tötet sie!«, wiederholt er. »Tötet sie!«

Er hält ein weißes Papier in der einen und seinen Degen in der anderen Hand.

Geraten die in der Ecke langsam unter seinen Bann? Sind sie ratlos, umnebelt vom Dunst des Weines und den verwirrenden Begebenheiten? Ruckweise und geschleppt schieben sie sich gegen den weißen Tisch vor. Nur der schmächtige Blonde bleibt zurück.

Das Weib sieht sie näherkommen, ist unfähig zu schreien, ihr Körper zittert, in ihren Augen steht die versteinerte Qual eines schönen, gemarterten Tieres.

Da wirft einer seinen Degen in die Höhe, ein zweiter folgt ihm, und fast gleichzeitig stoßen sie auf die zuckende Brust los.

Sogleich sinkt der Körper röchelnd hintenüber und fällt dumpf auf den Tisch. Der Kopf schlägt mitten in einen kostbaren Aufsatz. Ein paar Früchte rollen zu Boden. Die Knie steil in die Höhe gereckt, so liegt sie da, während sich das blendende Tafeltuch mit fließenden roten Streifen schmückt.

Die vier wenden sich ernüchtert und planlos voneinander ab. Doch der Untätige, der schmächtige Blonde, zerbricht seine unsichtbaren Fesseln, stürzt zu ihr hin, kniet vor ihr nieder und greift nach dem Arm, der über den Tischrand hängt. Er küsst ihn, schluchzt, stammelt etwas wie »Ich, nur ich« und küsst ihn wieder.

Während der ganzen Zeit verharrt der Schwarze mit den Händen vor dem Gesicht. Nun lässt er sie herabgleiten. Das weiße Papier hält er dabei immer zwischen den Fingern. Er wirkt wie ein Toter, der Bewegung und Stimme von einem Unbekannten leiht. Und diese Stimme sagt gedankenlos und wie verschüttet: »Ich hätte es nicht gekonnt, ich hätte es nicht gekonnt. Jetzt ist es geschehen.«

Er will zu der Leblosen gehen, fasst das Papier, als wolle er es lesen, sieht den Schmächtigen bei ihr kauern und zögert. Die Blicke der beiden Männer treffen sich und ein aufglimmender Funke des Hasses springt vom Jungen zum Schwarzen, setzt ihn in Brand und fliegt aus dessen Augen weiter in die der anderen.

Und mit einem Schlag wechselt das Bild. Das Geschehene ist abgetan und Neues drängt zur schnellen Entscheidung.

Der Schmächtige springt auf, die vier anderen stürzen in einer plötzlichen, unheilvollen Verständigung vor, unabwendbar das Schicksal des Schwarzen beschließend – alle gegen einen, alle gegen ihn.

Er wird gegen ein Fenster geworfen, das krackend auffliegt. Man hört fluchende Stimmen. »Der Hund! Mach ihn kalt! Er hat das Messer des Blonden in der Kehle, wird über den Rand des Fensters gedrängt, stürzt und schlägt krachend auf die Straße.

Kaum habe ich meinen entsetzten Blick vom Gestürzten ins Zimmer schweifen lassen, da wendet sich auch schon alles. Die gelben Flammen schrumpfen, die Gestalten werden von den Wänden aufgesogen, schimmernde Schatten umgeben den Tisch. Es dauert nicht lange, und das letzte Licht ist erloschen. Es ist tiefe Dunkelheit.

Durchkältet und mit steifen Gliedern verlasse ich meinen unbequemen Posten. Soll ich hinüber zu dem schwarzen Fleck am Boden unter dem Fenster gehen? Ich muss mich dazu zwingen. Als ich davorstehe, entdecke ich nichts als eine nebelnasse schwarze Stelle im Pflaster. Ein weißes Papier liegt hart am Haus.

Ich hebe es auf und werfe einen letzten Blick zu den dunklen, stillen, gleichmütigen Räumen empor. Dann erreiche ich eine Straßenlampe. Dort entfalte ich das Papier. Es ist ein Brief, der mit ungeschickter Hand geschrieben wurde. Ich kann manches nicht entziffern. Er nennt fünf Namen und erzählt verworren von der Untreue einer Frau. Mit »Katharina Kreiderer« ist er unterzeichnet.

Ich stecke ihn in die Tasche und sehne mich nach Hause. Denn das Fieber schüttelt mich.

Als ich am Morgen in meinem Zimmer erwachte, musste ich mich lange besinnen. Dann stand ich auf und wollte den Brief holen. Aber ich kehrte vergebens alle Taschen um. Er war nicht zu finden.

Nun war es mir, als hätte ich alles geträumt – oder als träumte ich noch. Dann wieder war ich überzeugt von der Wirklichkeit des Erlebten. Doch diese Überzeugung hielt nicht an, sondern zerrann und machte wieder dem Glauben an einen Traum Platz. Ich versuchte, mir klar zu werden, was den Ausschlag gab: das Erscheinen des blaubeschleiften Katers, der frühe Herbstmorgen, die Erzählung des alten Herrn mit der Brille oder die nächtlichen Vorgänge?

Je länger ich grübelte, desto unentwirrbarer wurde alles. Dieser Zustand quälte mich lange, bis ich es aufgab, Klarheit zu erlangen, und dadurch Klarheit gewann. Ich sagte mir: Die erstrebte Gewissheit – ist sie nicht belanglos? Was du gesehen hast, hast du gesehen. Und was geschehen ist – vor dir, in dir – ist geschehen, wahr und wahrhaftig. Was tut es zur Sache, in welcher Welt? Ob in der der Wirklichkeit oder in einer anderen? Und was bedeutet es, dass man es wieder vergessen kann? Dass es in die brodelnden Tiefen zurücksinkt, aus denen es aufgetaucht ist?

Es hat sich zugetragen, gleichviel.

Es folgt: Sebaldusnacht von Paul Busson


Die vollständige Story steht als Hörbuch zur Verfügung.

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