Die wunderbare und merkwürdige Geschichte vom Zauberer Virgilius … Teil 15
Oskar Ludwig Bernhard Wolff
Die wunderbare und merkwürdige Geschichte vom Zauberer Virgilius,
seinem Leben, seinen Taten und seinem Ende
Volksbücher Nr.46, Verlag Otto Wigand, Leipzig
Wie Virgilius starb
Da Virgilius in seinem Leben bereits viele wunderbare und künstliche Dinge vollbracht hatte, versprach er dem Kaiser, noch viel größere und wunderbarere Dinge zu vollbringen, falls er so glücklich sein sollte, am Leben zu bleiben. So wollte er unter anderem erreichen, dass die Fruchtbäume und das Getreide dreimal im Jahr tragen, dass jeder Baum zur gleichen Zeit reife Früchte und Blüten haben sollte, dass Schiffe ebenso leicht und jederzeit gegen den Strom wie mit dem Strom segeln können sollten, dass man einen Pfennig ebenso leicht verdienen wie ausgeben könnte, dass Frauen ihre Kinder ohne Schmerzen zur Welt bringen könnten und vieles andere mehr, was hier zu weit führen würde, wenn man es einzeln aufzählen wollte.
Zunächst zauberte er eine große Burg mit nur einem Eingang, sodass niemand hineinkommen konnte als durch dieses Tor und auf keine andere Weise. Um die Burg herum ließ er ein großes Wasser fließen, das ebenfalls niemand überqueren konnte. Diese Burg stand außerhalb Roms und den Eingang sicherten vierundzwanzig eiserne Keulen. Zu jeder Seite standen zwölf Mann, die unaufhörlich nacheinander mit den Keulen auf den Boden schlugen, sodass jeder, der darunter geriet, totgeschlagen wurde. Wollte Virgilius hinein, so waren im Augenblick alle vierundzwanzig Keulen ruhig, jedoch nur vor ihm, vor niemandem sonst. In dieser Burg legte er heimlich einen großen Teil seiner Schätze nieder. Als dies geschehen war, dachte er darüber nach, wie er sich selbst wieder jung machen könnte, denn er wollte noch viele Jahre leben, um all die versprochenen Wunder auszuführen.
So ging er eines Tages zum Kaiser und bat ihn um dreiwöchigen Urlaub. Der Kaiser, der Virgilius immer bei sich haben wollte, wollte ihm jedoch keinen Urlaub zugestehen. Da begab sich Virgilius in seine Burg und nahm den Diener mit, dem er am meisten vertraute. Als sie außerhalb Roms vor der Burg ankamen, hieß Virgilius den Diener, zuerst hineinzugehen.
Dieser sah die Keulen fortwährend niederschlagen und weigerte sich, hineinzugehen. Er sagte: »Ginge ich hinein, so würden sie mich töten.«
Daraufhin zeigte ihm sein Herr und Meister, wie es beschaffen war und wie man es machen musste, damit die Keulen ruhten. Dann gingen sie beide hinein. Als sie drinnen waren, drehte Virgilius die Schrauben wieder so, dass die Keulen sich erneut in Bewegung setzten und erneut darauf losschlugen.
Virgilius sagte zu dem Diener: »Du bist mein liebster und bester Freund und der, dem ich unter allen Menschen am meisten traue.«
Nach diesen Worten führte er ihn in ein unterirdisches Gewölbe, in dem er eine Zauberlampe aufgehängt hatte, die Tag und Nacht brannte. Er sprach zu ihm: »Siehst du das Fass, das dort steht? Da hinein musst du mich tun. Du musst mich erschlagen und in kleine Stücke zerhacken. Meinen Kopf musst du in vier Stücke hacken und ihn als unterste Schicht im Fass einsalzen. Darauf legst du die anderen Stücke und in die Mitte das Herz. Dann setzt du das Fass unter die Lampe, sodass sie neun Tage lang in dasselbe tropft und leckt. Neun Tage lang musst du täglich einmal die Lampe auffüllen. Wenn all dies geschehen ist, werde ich erneut jung gemacht sein und noch lange, lange Jahre leben.«
Als der Diener seinen Herrn so reden hörte, wurde er sehr bestürzt und sagte: »Das tue ich nun und nimmermehr. Wie könnte ich euch in meinem ganzen Leben erschlagen?«
Virgilius antwortete: »Du musst es aber jetzt tun, und es soll dein Schaden nicht sein.« Er redete ihm so lange zu, bis der Diener einwilligte. Er erschlug ihn, hackte ihn in Stücke, den Kopf in vier Teile, wie ihm befohlen worden war, legte das Herz in die Mitte, salzte alles gut ein, packte es in das Fass und hängte die Lampe gerade darüber, sodass sie stets hinein tropfen konnte. Nachdem er dies getan hatte, verließ er die Burg, drehte die Schrauben, sodass die ehernen Männer mit den Keulen unaufhörlich auf die eisernen Ambosse schlugen, und kehrte jeden Tag zurück, um die Lampe aufzufüllen, wie Virgilius es ihm befohlen hatte.
Nach sieben Tagen aber, da Virgilius noch immer nicht zurückgekehrt war, vermisste der Kaiser ihn sehr und wunderte sich über seine Abwesenheit. Deshalb ließ er den Diener rufen, den Virgilius allen anderen vorzog, und fragte ihn, wo sein Herr sei.
Der Diener antwortete: »Gnädigster Kaiser, gefalle es Eurer Majestät, ich weiß nicht, wo er ist. Vor sieben Tagen habe ich ihn zuletzt gesehen. Da ging er fort, allein ich kann nicht sagen, wohin, denn er nahm mich nicht mit sich.«
Darüber ergrimmte der Kaiser sehr und sprach: »Du lügst, falscher Dieb, der du bist. Sage mir auf der Stelle, wo er sich befindet, oder ich lasse dich hinrichten.«
Der Diener erschrak sehr und erwiderte: »Gnädigster Herr und Kaiser, vor sieben Tagen ging ich mit ihm aus der Stadt zur Burg. Dort begab er sich hinein, und ich verließ ihn, denn er hieß mich draußen bleiben.«
Der Kaiser sprach: »Gehe mit mir nach der Burg.«
Als sie dort ankamen und hinein wollten, konnten sie nicht, denn die ehernen Männer mit den Keulen ließen sie nicht hinein.
Der Kaiser befahl dem Diener: »Bringe die Keulen zur Ruhe, damit wir hinein können.«
Der Diener versetzte: »Ich weiß nicht, wie ich das machen soll.«
»Dann musst du sterben!«, rief der Kaiser.
In seiner Todesangst stellte jener nun die Schrauben, und die Männer ließen ihre Keulen ruhen. Der Kaiser begab sich mit seinem ganzen Gefolge in die Burg. Sie durchsuchten alle Winkel und suchten so lange, bis sie zuletzt in das unterirdische Gewölbe kamen. Dort sahen sie die Lampe über dem Fass, in dem der tote Virgilius lag.
Der Kaiser fragte den Diener, wie er so frech sein könne, den Virgilius erschlagen zu haben. Dieser aber erwiderte nichts, sondern blieb stumm. In seiner Wut zog der Kaiser sein Schwert und tötete den Diener.
Als dies geschehen war, erblickten der Kaiser und sein Gefolge plötzlich ein nacktes Kind, das dreimal um das Fass herumlief und dabei die Worte sprach: »Verflucht sei der Tag, an dem ihr je hierher kamt.« Darauf verschwand es und wurde nie mehr gesehen. Virgilius blieb tot im Fass.
Darüber hatte der Kaiser fortan große Trauer, ebenso wie Virgilius’ Geschlecht, alle Studenten, die in der Stadt Neapel wohnten, und die Stadt Neapel selbst, deren Gründer Virgilius gewesen war. Der Kaiser wollte sich der Schätze und Reichtümer des Virgilius bemächtigen, aber niemand hatte den Mut, sie aus dem unterirdischen Gewölbe zu nehmen, da sie vor den ehernen Männern mit den eisernen Keulen Angst hatten. So blieben die Schätze für ewige Zeiten dort. Einen so großen Zauberer wie Virgilius hat es seitdem auf Erden nie wieder gegeben.
ENDE
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