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Der Welt-Detektiv – Band 12 – 5. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 12
Das Grab im Moor
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

5. Kapitel

Der nächtliche Transport

Ben ahnte nicht, dass sein Besuch bei Jack Petray von einem unerwünschten Zeugen beobachtet worden war. Zwar wusste Harry Taxon nicht, was der Hochgewachsene bei Petray gewollt hatte, aber allein die Tatsache des nächtlichen Besuchs genügte ihm, um zu dem Entschluss zu kommen, sich diesen Mann etwas näher zu betrachten. Vielleicht stieß er dadurch überraschend schnell auf eine Spur, die das Rätsel klären konnte.

Lautlos huschte er hinter Ben her, als dieser das Haus des Pförtners verließ. Das war nicht ganz einfach, aber schließlich war Harry nicht umsonst Schüler eines Sherlock Holmes gewesen! Zunächst ging es kreuz und quer durch das Gassengewirr, dann wandte sich der Beschattete plötzlich dem Hafenviertel zu.

Am Grand Durry Canal bog Ben in die Windmill Lane ein und folgte dieser Straße bis fast zum Wet-Dock. Dann verschwand er in einer schmalen Gasse, die entlang der mächtigen Speicher der Royal Victualling Yards verlief.

»Der Kuckuck mag wissen, wo der Kerl hin will!«, brummte Harry vor sich hin. »Ich schätze, dass wir gleich am Wasser stehen. Und was dann?«

Im selben Augenblick stieg ein Gedanke in ihm auf, der ihn heftig erregte. »Teufel«, stieß er hervor, »ob der Mensch Freunde hat, die ihn dort erwarten?« Unwillkürlich eilte er ihm schneller nach.

Und richtig, nach nicht einmal zwanzig weiteren Schritten tat sich die breite Wasserfläche vor ihm auf. Ben schritt schnurstracks auf eine Wellblechbude zu und klopfte an die Tür.

Ein bärtiger Mann, dem man den einstigen Matrosen von Weitem ansah, erschien und nickte, als er den Draußenstehenden erkannte.

»Alles klar«, sagte er. »Kommt wohl, um das Boot zu holen?«

Ben bejahte. Es war mittlerweile halb zwölf Uhr geworden. Viel Zeit war nicht zu verlieren. Auf einen Wink folgte Ben dem Voranschreitenden den Steg entlang, wo neben einer Anzahl einfacher Ruderboote auch ein schnittiges Kabinen-Motorboot lag. Harry Taxon wandte kein Auge von der Szene. Der Verfolgte würde in einigen Sekunden das Boot besteigen und fortfahren. Das stand für ihn fest. Was sollte er tun, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren? Sein Hirn arbeitete fieberhaft. Sollte er die Abfahrt verhindern? Oder sollte er heimlich mitfahren? Aber wie? Es war unmöglich, an das Boot heranzukommen, ohne von einem der Männer gesehen zu werden.

Eine ganz verflixte Situation!

»Wann kommt das Boot zurück?«, fragte der Bärtige.

Der andere hatte bereits das Fahrzeug bestiegen. »In zwei Stunden«, antwortete er. Dann ließ er den Motor anspringen. Harry Taxon befand sich in einem Zustand fieberhafter Erregung. Wozu hatte sich der Mensch das Motorboot ausgeliehen? Etwa, um …? Plötzlich stieg Harry ein Verdacht auf. Er wartete nicht ab, bis das Boot davonschoss und in der Finsternis verschwand, sondern kehrte um und jagte mit voller Geschwindigkeit zurück, woher er gekommen war.

Der Schweiß rann ihm in Strömen über den Körper, aber er achtete nicht darauf. Er stürmte dahin, als gälte es, den Weltrekord zu brechen. An der Ecke Clyde/Staunton Street stieß er mit einem Polizisten zusammen. Beide kamen zu Fall und kugelten sich auf dem harten und alles andere als sauberen Pflaster. Der Polizist stieß einen Fluch aus, aber als er die Fäuste ausstreckte, um den Unbekannten zu fassen, griffen sie bereits in Leere. Harry hatte sich mit affenartiger Geschwindigkeit zur Seite geworfen, war wieder auf die Füße gesprungen und bereits im Dunkel verschwunden, ehe der ergrimmte Polizist seinen Zorn in einem zweiten Fluch Luft machen konnte. Und vierzehn Minuten später war er am Ziel.

Das Haus Petrays lag wie zuvor in tiefer Finsternis. Doch diesmal ging Taxon nicht wieder in jenen Winkel in Deckung, sondern lief weiter … Zwei, drei Häuser weit, bis er eine schmale Gasse fand, die zur Themse führte. Von hier aus konnte er die Rückseite des Petray’schen Hauses deutlich sehen. Was er sah, ließ seine Augen flammend aufblitzen. Längsseits des Hauses lag das Motorboot! Der Fremde stand aufrecht darin und nahm nacheinander drei große Säcke in Empfang, die aus einer Luke, die sich etwa einen halben Meter über dem Wasserspiegel befand, herausgehoben wurden. Die Last war schwer, denn der Mann im Boot vermochte sie nicht zu tragen. Er ließ Sack für Sack niedergleiten und schleppte jeden einzeln in die Kabine. Harry Taxon wusste genug! Diesmal ließ er den Kerl nicht mehr aus den Augen.

Blitzschnell überkletterte er das niedrige Geländer, zog sich die Stiefel aus, band sie sich um den Hals, entledigte sich des Rocks und barg ihn zwischen dem Geländer. Dann sprang er mit einem eleganten Satz kopfüber in die Flut. Unter Wasser schwimmend erreichte er das Motorboot kurz bevor der Unbekannte den Motor wieder anspringen ließ. Harry Taxon biss die Zähne zusammen. Er packte zu und klammerte sich an der Umrahmung des großen Bullauges fest. Im gleichen Augenblick schoss das Boot davon. Durch die Wucht des plötzlichen Wasserdrucks wurde Harry unsanft gegen die Bootswand geschleudert. Trotz des empfindlichen Schmerzes ließ er das Fenster nicht los. Der Triumph, einen der meistgesuchten Verbrecher gefunden zu haben, war stärker als jedes andere Gefühl. Keinen Augenblick zweifelte er daran, dass sich in den Säcken jene Toten befanden, die mit Jacks Unterstützung aus der Morgue geraubt worden waren. Es musste mit dem Teufel zugehen, wenn er nun nicht auch das Letzte herausbekam! Sherlock Holmes, sein vergötterter Meister, würde Augen machen!

Mit der Zeit spürte Harry jedoch, dass es eine reichlich unbequeme und dazu lebensgefährliche Sache war, als Außenbordler an einer nächtlichen Bootsfahrt teilzunehmen. Der Bootsführer bugsierte das Fahrzeug oft so dicht an anderen Schiffen und Brückenpfeilern vorbei, dass Harry mehr als einmal in Gefahr geriet, zerquetscht zu werden. Da kam ihm in der Not ein Gedanke. Das Bullauge war groß genug, um in die Kajüte hineinzuschlüpfen. Vorläufig hinderte ihn das dicke Glas jedoch daran, seinen Gedanken in die Tat umzusetzen. Sollte er die Scheibe einfach zertrümmern?

Er zog einen Schlüssel aus der Tasche, nahm ihn mit festem Griff zwischen die Finger und führte einen heftigen Schlag gegen das Glas aus – leider ohne Erfolg. Bevor Harry den Schlüssel ein zweites Mal auf das Glas niedersausen lassen konnte, stoppte der Motor plötzlich.

Gleichzeitig machte das Boot eine scharfe Biegung nach links und legte wenig später am Ufer an.

»Endlich!”, erscholl eine tiefe Männerstimme aus dem Dunkel. »Seit einer Stunde hocke ich schon hier!«

Harry Taxon erfasste im Nu die Situation: Das Motorboot hatte sein nächtliches Ziel erreicht. Er wartete die Antwort des Fahrers nicht ab, sondern verschwand blitzschnell unter Wasser. Zehn Meter stromabwärts tauchte er wieder auf, ohne von jemandem gesehen zu werden.

Das steile Ufer zu erreichen, kostete einige Anstrengung, aber er schaffte es dennoch. Das Wasser rann ihm in kleinen Bächen vom Körper. Er presste seine Kleidung so gut es ging aus und schlich dann zu der Stelle, an der das Boot angelegt hatte. Es war stockfinster. Leise Stimmen wiesen ihm jedoch den Weg und bald sah er die Umrisse des Fahrzeugs wieder vor sich.

Flach auf dem Bauch liegend, beobachtete er, wie nacheinander die drei Säcke an Land befördert wurden. Dann verließ der Anführer das Boot. Harry richtete sich höher auf. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und er stellte deutlich fest, dass die beiden Männer einen Sack nach dem anderen fortschleppten.

Harry Taxon pirschte sich näher an die beiden heran. Da erkannte er, was vor sich ging. In unmittelbarer Nähe des Ufers zog sich eine Chaussee dahin. Dort wartete ein langgestreckter, geschlossener Kraftwagen. Und er war es, der die seltsame Fracht aufgenommen hatte. Die Säcke wurden also noch weiterbefördert! Harry biss die Zähne zusammen. Er musste wissen, was mit den Toten geschah! War es nicht möglich, sich ungesehen hinten auf das Auto zu schwingen? Kaum hatte er diesen Gedanken geformt, schlich er auch schon los, um ihn in die Tat umzusetzen. Doch er ahnte nicht, dass das Schicksal etwas anderes bestimmt hatte!

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