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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 9 – 2. Kapitel

Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 9
Die Lady mit dem Kanarien-Brillant
2. Kapitel
Eifersucht

Die Lady konnte Sherlock Holmes keine weitere Frage stellen, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür und Lord Canbury betrat den Raum. Er trug eine Taille, die zu einer sehr vornehmen Balltoilette gehören musste.

»Da, sehen Sie sich das Corpus Delicti einmal an, verehrter Mr. Sherlock Holmes«, sagte der Lord, während er die Taille auf einem kleinen Marmortisch vor dem Detektiv ausbreitete. »Sehen Sie, hier hat der Kanarienbrillant gesessen. Von hier hat ihn die Hand des Räubers abgerissen.«

»Es muss eine ziemlich kräftige Hand gewesen sein«, sagte Sherlock Holmes, während er die Taille mit scheinbarer Aufmerksamkeit betrachtete. »Denn der Stoff ist ziemlich haltbar – beste chinesische Seide, die lässt sich nicht so leicht zerreißen. Ich möchte diese Taille mit mir nehmen, wenn Sie gestatten, Mylady«, wandte sich Sherlock Holmes dann an die schöne, bleiche Frau, die wie zusammengebrochen in dem Schaukelstuhl lehnte und seine Frage nur mit einem wortlosen Kopfneigen beantwortete.

»Ich danke Ihnen, Mylady. Ich bitte Sie jetzt, Mylord, lassen Sie mir durch Ihren Kammerdiener die Taille einpacken, denn ich kann sie doch nicht so, wie sie hier ist, über die Straße tragen.«

Dem Lord war es ersichtlich nicht angenehm, dass er wieder einen Auftrag ausführen sollte, den er sonst immer von einem seiner vielen Domestiken hatte ausführen lassen. Indessen sah er wohl ein, dass hier mit der größten Heimlichkeit vorgegangen werden musste, und so verließ er noch einmal das Gemach.

»Hören Sie mich an, Mylady«, raunte Sherlock Holmes Diana in demselben Moment zu, »ich will Ihnen eine Erklärung meiner Handlungsweise geben – aber nicht hier, nicht jetzt, da uns der Lord doch höchstens eine Minute allein lassen wird. Ich erwarte Sie heute Nacht um 12 Uhr in meiner Wohnung in der Baker Street 7. Damit Sie ohne Furcht den Weg antreten können, wird Sie eine halbe Stunde vor Mitternacht in einem geschlossenen Mietwagen mein Gehilfe Harry Taxon erwarten. Vertrauen Sie sich ihm vollkommen an, er wird Sie sicher zu mir führen.«

»Unmöglich«, hauchte die schöne Lady, »wie könnte ich es wagen, dieses Haus zu verlassen, da der Lord – mein Gatte – misstrauisch geworden ist. Ohne Zweifel wird er jeden meiner Schritte aufs Schärfste überwachen.«

»Lord Canbury wird sich heute Nacht nicht in London aufhalten«, entgegnete Sherlock Holmes mit einer Bestimmtheit, die ihm einen scheu fragenden Blick der Lady eintrug.

»Ich werde dafür Sorge tragen, dass er nicht in der Stadt ist. Ich erwarte Sie also mit Bestimmtheit. In meiner Wohnung werde ich Ihnen dann den Kanarienbrillanten zeigen, den wir Ihrem Gemahl nach einigen Tagen mit einem feinen Trick in die Hände spielen werden. Auch den Liebesbrief, den ich Ihnen geraubt habe«, fügte Sherlock Holmes mit einem lautlosen Lachen hinzu, »werden Sie wiederbekommen. Das geschieht jedoch nur, damit Sie vor meinen Augen diesen verhängnisvollen Brief verbrennen, der Sie beinahe um die Ehre – um das Leben – gebracht hätte.

Und dann sehen Sie, Mylady«, fuhr Sherlock Holmes mit lauter Stimme fort, denn sein geübtes Ohr hatte leise, schleichende Schritte vernommen, die sich über den Teppich des angrenzenden Zimmers der Tür näherten, »dann sehen Sie, wird das Stück chinesische Seide, das an Ihrer Taille fehlt, ein wichtiges Beweismittel sein, denn ich hoffe, dieses Stück Seide wird sich irgendwo in London finden lassen.«

Die Tür wurde geöffnet, der Lord trat ein und überreichte Sherlock Holmes ein kleines, in Papier gewickeltes Paket.

»Das haben Sie ja prächtig zusammengerollt, Mylord«, rief Sherlock Holmes. »So kann ich die ganze Taille in meine Tasche stecken, was mir sehr angenehm ist. Freilich rollt man chinesische Seide unter Umständen auch bis zu dem Umfang eines Fingerhutes zusammen, selbst wenn es sich um zehn Meter handelt. Und nun, Mylady, leben Sie wohl. Ich bitte Sie noch einmal, sich die Geschichte nicht so zu Herzen zu nehmen, denn es unterliegt keinem Zweifel, dass wir den Kanarienbrillanten finden werden. Ein so kostbares Stück lässt sich nicht der Öffentlichkeit entziehen. Gerade die Kostbarkeit und Seltenheit des Stückes machen es für den Räuber unmöglich, den Brillanten schnell zu verkaufen. Wenn er es wagen sollte, gehört er schon uns.«

Sherlock Holmes hatte die weiße Hand der Lady wieder ergriffen und drückte sie herzlich.

Im selben Moment neigte Lady Diana ihr Haupt zu seinem nieder und flüsterte mit leiser Stimme: »Ich komme!«

Eine Minute später verließen der berühmte Detektiv und Lord Canbury das Boudoir der Lady Diana.

Der Lord führte seinen Gast durch eine Flucht luxuriös eingerichteter Zimmer, bis sie einen mit Teppichen belegten Korridor erreichten.

Sherlock Holmes wollte sich der Treppe zuwenden, da öffnete der Lord plötzlich eine Tür und rief dem Detektiv mit leiser Stimme zu: »Ich bitte Sie, treten Sie hier noch für einen Augenblick ein – es ist mein Arbeitszimmer – ich habe mit Ihnen zu reden.«

In diesem Augenblick dachte Sherlock Holmes: Jetzt wird er seine eigene Frau beschuldigen. Nur ruhig, denn es gilt, diesen Hieb zu parieren.

»Ich stehe zu Ihren Diensten, Mylord«, sagte Sherlock Holmes, als Lord Canbury hinter ihm die Tür geschlossen hatte. »Wenn Sie mir vielleicht noch etwas mitteilen können, was auf das Verschwinden des Kanarienbrillanten Bezug hat, so ist mir alles sehr lieb, was ich in dieser Beziehung hören kann. Aus vielen Angaben baut sich der schmale Steg zusammen, der vielleicht zur richtigen Erkenntnis führt.«

Während Sherlock Holmes diese Worte sprach, erschrak er fast über die plötzliche und furchtbare Art, mit der sich das Aussehen Lord Canburys verändert hatte.

Der junge englische Aristokrat hatte plötzlich jede Spur von Farbe aus seinem Gesicht verloren – gerade, als ob kein Blut mehr durch seine Adern liefe.

Die Stirn war in Falten gelegt. Seine Augenbrauen trafen sich über der Nasenwurzel und ein fast feindseliger, glühender Blick flammte aus seinen Augen auf.

»Mr. Sherlock Holmes«, stöhnte der Lord, »ich habe einen furchtbaren Verdacht. Ich muss ihn Ihnen mitteilen, denn Sie müssen ihn wissen.«

»So sprechen Sie, Mylord!«

»Ich lege meine ganze Ehre in Ihre Hände. O mein Gott, ich schäme mich fast, es auszusprechen, aber ich fühle, dass ich offen zu Ihnen sein muss.«

»Wenn Sie Ihre Ehre in meine Hände legen, Mylord«, rief Sherlock Holmes, »so können Sie gewiss sein, dass diese Hände viel eher mein eigenes Leben preisgeben werden, als das kostbare Gut, das Sie mir anvertraut haben.«

»Wohlan denn, so hören Sie«, rang es sich zuckend von den Lippen des Lords, »ich habe Grund zu glauben, zu vermuten, dass der Kanarienbrillant überhaupt nicht gestohlen worden ist.«

»Ah! Nicht gestohlen?«, fragte Sherlock Holmes verwundert. »Aber wie sollte er denn sonst von der Brust der Lady gekommen sein, dieser unschätzbare Brillant? Sollte er etwa verloren gegangen sein und die Lady hätte sich nicht getraut, diesen Verlust einzugestehen?«

»Ah, wenn es nur so wäre!«, sprach der Lord. »Mein halbes Vermögen, mein ganzes, würde ich für diese Brillanten opfern, Mr. Sherlock Holmes. Doch wer hat jemals das Herz seiner Frau bis auf den Grund ermessen? Welcher Mann könnte sicher sein, dass die Liebe, die sein Weib ihm zeigt, auch wirklich echt ist?«

»Eifersüchtig, Mylord?«

»Nun, ich habe Grund zur Eifersucht, Grund zum Argwohn«, presste Lord Canbury mit dumpfer Stimme hervor. »Was, wenn die Lady sich dieses kostbaren Schmuckes entäußert hätte, um ihrem Liebhaber, der in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist, zu helfen?«

»Still!«, stieß Sherlock Holmes mit ernstem Gesicht hervor und streckte die Hand empor. »Das ist ein so furchtbarer Verdacht, dass er nicht einmal ausgesprochen werden darf. Indessen, wir werden dieser Spur nachgehen, und ich glaube, wir können uns sogleich Gewissheit darüber verschaffen, ob der Argwohn berechtigt ist.«

»Wie wäre das möglich, Mr. Sherlock Holmes?«, fragte der junge Lord mit vor Aufregung stockender Stimme.

»Wenn ein Mensch den Schmuck zu Geld gemacht hat, der nicht zur Gilde der professionellen Diebe und Einbrecher von London gehört – und das ist, wenn Lady pflichtvergessen genug gewesen wäre, um den Schmuck ihrem Liebhaber zu geben, ja ganz ausgeschlossen – dann befindet sich der Kanarienbrillant nicht mehr in London, sondern in Liverpool. Jeder Juwelier, der besonders kostbare Brillanten gekauft hat, gibt diese sofort an einen gewissen James Robin weiter. Dessen Geschäft ist es, wertvolle Brillanten – und welcher seltene Edelstein wäre nicht an der Brillantenbörse bekannt – außer Landes zu bringen. Dieser James Robin wohnt in der Market Street 211 in Liverpool. Leider ist es mir selbst unmöglich, heute Abend noch nach Liverpool zu reisen, denn Fred Förster von der Nugget Street erwartet mich heute Nacht zu einer Razzia. Es bleibt Ihnen also nichts anderes übrig, als diese Reise selbst anzutreten, denn schnell muss gehandelt werden, wenn wir Erfolg haben wollen.«

»Aber wenn ich diese Reise antrete, wird es die Lady erfahren und den Liebhaber warnen.«

»Sie können nach Liverpool fahren, ohne dass die Lady eine Ahnung davon hat«, versetzte Sherlock Holmes.

»Heute um 17 Uhr geht der Expresszug nach Liverpool ab. Um 21 Uhr treffen Sie dort ein. Sie suchen Robin auf, der abends am besten zu sprechen ist, und bieten ihm eine bedeutende Summe, falls er Ihnen den Kanarienbrillanten verschafft. Um 3 Uhr nachts können Sie wieder auf dem Liverpooler Bahnhof sein und um 5 Uhr in Ihrem Schlafzimmer, um sich von den Strapazen auszuruhen. Damit niemand in Ihrem Haus etwas von Ihrer Abwesenheit erfährt, müssen Sie eine wichtige, langwierige Klubsitzung vorschieben.«

»Ich reise nach Liverpool«, erwiderte der Lord. »Wenn ich den Kanarienbrillanten bei Robin finde, dann …«

»Denken Sie daran, Mylord, dass unser großer Dichter die Eifersucht das grünäugige Scheusal genannt hat. Im Übrigen weiß ich nicht, ob ich, wenn ich eine Frau hätte und den Beweis ihrer Treulosigkeit erhielte, nicht ebenso handeln würde wie Sie, Mylord. Leben Sie wohl, Mylord. Morgen um diese Zeit werde ich mich wieder bei Ihnen einfinden.«

»Leben Sie wohl, Mr. Sherlock Holmes«, rief der Lord mit erbebender Stimme, während er ihm krampfhaft die Hand drückte. »Verlassen Sie mich nicht, denn mir ist, als hätte mich die ganze Welt verraten, und Sie – Sie wären mein einziger Freund.«

»Ich bin auch Ihr Freund, und die erste Pflicht eines Freundes ist es, jeden feindseligen Hieb des Schicksals, den er parieren kann, von dem Freund fernzuhalten. Leben Sie wohl!«

Als Sherlock Holmes bald darauf das Palais des Lords von Canbury verließ, atmete er tief auf. Dann flüsterte er leise vor sich hin: »So hätte er sie auch getötet, wenn er am Abend des 7. den Brief Fred Archers auf ihrer Brust gefunden hätte – ich habe ihr das Leben gerettet, und vielleicht auch ihm selbst.«

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