Das Gespensterbuch – Zehnte Geschichte
Das Gespensterbuch
Herausgegeben von Felix Schloemp
Mit einem Vorwort von Gustav Meyrink
München 1913
Gustav Meyrink
Das Präparat
Die beiden Freunde saßen in einem Eckfenster des Café Radetzky und steckten die Köpfe zusammen.
»Er ist fort. Heute Nachmittag ist er mit seinem Diener nach Berlin gefahren. Das Haus ist vollkommen leer. Ich komme gerade von dort und habe mich genau überzeugt. Die beiden Perser waren die einzigen Bewohner.«
»Also ist er doch auf das Telegramm hereingefallen?«
»Darüber war ich keinen Moment im Zweifel. Wenn er den Namen Fabio Marini hört, ist er nicht zu halten.«
»Das wundert mich eigentlich, denn er hat doch Jahre mit ihm zusammengelebt, bis zu seinem Tod. Was könnte er da noch Neues über ihn in Berlin erfahren?«
»Oho, Professor Marini soll ihm noch vieles geheim gehalten haben. Er hat es selbst einmal so nebenbei erwähnt, vor etwa einem halben Jahr, als unser guter Axel noch unter uns war.«
»Ist denn tatsächlich etwas Wahres an dieser geheimnisvollen Präparationsmethode Fabio Marinis? Glaubst du wirklich so fest daran, Sinclair?«
»Von glauben kann hier gar keine Rede sein. Mit diesen Augen habe ich in Florenz eine von ihm präparierte Rindsleiche gesehen. Ich sage dir, jeder hätte geschworen, dass das Rind bloß schlafe – keine Spur von Starre, keine Runzeln, keine Falten, sogar die rosa Hautfarbe eines Lebendigen war vorhanden.«
»Hm. Du denkst, der Perser könne wirklich Axel ermordet haben?«
»Das weiß ich nicht, Ottokar, aber es ist doch unsere beider Gewissenspflicht, uns Gewissheit über Axels Schicksal zu verschaffen. Was, wenn er damals durch irgendein Gift bloß in eine Art Totenstarre versetzt worden wäre? Gott, wie habe ich den Ärzten auf dem Anatomischen Institut zugeredet, sie angefleht, noch Wiederbelebungsversuche zu machen! Was wollen Sie denn eigentlich, hieß es, der Mann ist tot, das ist klar, und ein Eingriff an der Leiche ohne Erlaubnis von Dr. Daraschekoh ist unzulässig. Sie wiesen mir den Kontrakt vor, in dem stand, dass Axel dem jeweiligen Inhaber dieses Scheins seinen Körper nach dem Tod verkaufe und dafür am so und so Vielten 500 Gulden in Empfang genommen und quittiert habe.«
»Nein, es ist grässlich, und so etwas hat in unserem Jahrhundert noch Gesetzeskraft. Wenn ich daran denke, erfasst mich eine namenlose Wut. Der arme Axel! Wenn er nur geahnt hätte, dass dieser Perser, sein wütendster Feind, der Besitzer des Kontrakts sein könnte! Er war immer der Ansicht, das Anatomische Institut selbst … Und konnte der Advokat denn gar nichts ausrichten?«
»Alles umsonst. Nicht einmal das Zeugnis des alten Milchweibes wurde beachtet, das aussagte, Daraschekoh habe einmal in seinem Garten bei Sonnenaufgang den Namen Axels so lange verflucht, bis ihm im Paroxysmus der Schaum vor den Mund getreten sei. Ja, wenn er nicht europäischer Doktor der Medizin wäre! Wozu aber noch reden? Willst du mitgehen oder nicht, Ottokar? Entschließe dich.«
»Gewiss will ich, aber bedenke: Wenn man uns erwischt, gelten wir als Einbrecher! Der Perser hat einen tadellosen Ruf als Gelehrter. Der bloße Hinweis auf unseren Verdacht ist doch, weiß Gott, kein plausibler Grund. Nimm es mir nicht übel, aber ist es wirklich ganz ausgeschlossen, dass du dich geirrt hast, als du Axels Stimme vernahmst? Fahre nicht auf, Sinclair. Bitte sage mir noch einmal genau, wie das damals geschah. Warst du nicht vielleicht schon vorher aufgeregt?«
»Aber gar keine Spur! Eine halbe Stunde früher war ich auf dem Hradschin. Ich sah mir wieder einmal die Wenzelkapelle und den Veitsdom an. Diese alten, fremdartigen Bauten mit ihren Skulpturen, die wie aus geronnenem Blut wirken, machen immer wieder einen so tiefen, unerhörten Eindruck auf unsere Seele. Dann ging ich zum Hungerturm und durch die Alchemistengasse. Dann spazierte ich die Schlossstiege hinunter und blieb unwillkürlich stehen, da die kleine Tür, die durch die Mauer zum Haus Daraschekohs führt, offen war. Im selben Augenblick hörte ich deutlich – es musste aus dem Fenster herübertönen – eine Stimme, und ich schwöre einen heiligen Eid darauf: Es war Axels Stimme, die rief: Eins, zwei, drei, vier. Ach Gott, wäre ich doch damals sofort in die Wohnung eingedrungen! Aber ehe ich mich besinnen konnte, hatte der türkische Diener Daraschekohs die Mauerpforte zugeschlagen. Ich sage dir: Wir müssen in das Haus – wir müssen! Was, wenn Axel wirklich noch lebte? Schau, man kann uns ja gar nicht erwischen. Wer geht nachts schon über die alte Schlossstiege? Und ich kann jetzt mit Sperrhaken umgehen, du wirst staunen.«
Die beiden Freunde hatten sich bis zur Dunkelheit in den Straßen umhergetrieben, ehe sie ihren Plan ausführten. Dann kletterten sie über die Mauer und standen vor dem altertümlichen Haus, das dem Perser gehörte.
Das Gebäude, einsam auf der Anhöhe des fürstlichen Parks, lehnte wie ein toter Wächter an der Seitenmauer der grasbewachsenen Schlossstiege.
»Dieser Garten, diese alten Ulmen da unten haben etwas namenlos Grauenhaftes«, sagte Ottokar Dohnal. »Sieh nur, wie drohend sich der Hradschin vom Himmel abhebt und diese paar erleuchteten Nischenfenster dort in der Burg. Wahrhaftig, es weht eine seltsame Luft hier auf der Kleinseite. Es ist, als hätte sich alles Leben tief in die Erde zurückgezogen, aus Angst vor dem lauernden Tod. Hast du nicht auch das Gefühl, dass dieses schattenhafte Bild eines Tages plötzlich versinken muss, wie eine Vision, eine Fata Morgana? Dass dieses schlafende, zusammengekauerte Leben wie ein gespenstisches Tier zu etwas Neuem, Schrecklichem erwachen muss! Und sieh nur, da unten, die weißen Kieswege – wie Adern.«
»Komm doch schon«, drängte Sinclair. »Mir schlottern die Knie vor Aufregung. Hier, halte mir unterdessen den Situationsplan.«
Die Tür war bald geöffnet und die beiden tappten eine alte Treppe empor, auf die der dunkle Sternenhimmel durch die runden Fenster kaum einen Schein warf.
»Nicht anzünden! Man könnte von unten, vom Gartenhaus, das Licht bemerken. Hörst du, Ottokar? Geh dicht hinter mir. Achtung, hier ist eine Stufe ausgebrochen! Die Gangtür ist offen … Hier, hier … Links.«
Sie standen nun in einem Zimmer.
»Mach doch keinen solchen Lärm.«
»Ich kann nichts dafür, die Tür ist von selbst wieder zugefallen.«
»Wir werden Licht machen müssen. Ich fürchte, jeden Augenblick etwas umzuwerfen. Es stehen lauter Stühle im Weg.«
In diesem Moment blitzte ein blauer Funken an der Wand auf und es war ein Geräusch zu hören, das wie ein seufzendes Einatmen klang.
Leises Knirschen schien aus dem Boden, aus allen Fugen, zu dringen.
Eine Sekunde lang war wieder Totenstille, dann zählte eine röchelnde Stimme laut und langsam: Eins, zwei, drei …
Ottokar Dohnal schrie auf, kratzte wie wahnsinnig an seiner Streichholzschachtel und seine Hände flogen vor grauenhaftem Entsetzen. Endlich Licht – Licht! Die beiden Freunde blickten sich in die kalkweißen Gesichter. »Axel!«
Vier, fünf, sechs, sieben … Aus der Nische kam das Zählen.
»Die Kerze anzünden! Rasch, rasch!«
Acht, neun, zehn, elf …
An einem Kupferstab von der Decke der Wandvertiefung hing ein menschlicher Kopf mit blondem Haar. Der Stab drang mitten in die Scheitelwölbung. Unter dem Kinn war der Hals mit einer seidenen Schärpe umwickelt und darunter befanden sich die Luftröhre und die Bronchien, die zu den zwei rötlichen Lungenflügeln führten. Dazwischen bewegte sich rhythmisch das mit goldenen Drähten umwundene Herz, die auf den Boden zu einem kleinen elektrischen Apparat führten. Straff gefüllte Adern leiteten Blut aus zwei dünnhalsigen Flaschen empor.
Ottokar Dohnal hatte die Kerze auf einen kleinen Leuchter gestellt und klammerte sich an den Arm seines Freundes, um nicht umzufallen.
Das war Axels Kopf. Seine Lippen waren rot und seine Gesichtsfarbe blühend, er sah fast lebendig aus. Seine weit aufgerissenen Augen starrten mit einem grässlichen Ausdruck auf einen Brennspiegel an der gegenüberliegenden Wand. Diese Wand schien mit turkmenischen und kirgisischen Waffen und Tüchern bedeckt zu sein. Überall waren die bizarren Muster orientalischer Gewebe zu sehen.
Das Zimmer war voller präparierter Tiere – Schlangen und Affen in seltsamen Verrenkungen lagen unter umhergestreuten Büchern.
In einer gläsernen Wanne auf einem Seitentisch schwamm ein menschlicher Bauch in einer bläulichen Flüssigkeit.
Von einem Postament blickte die Gipsbüste Fabio Marinis ernst auf das Zimmer herab.
Die Freunde konnten kein Wort hervorbringen. Hypnotisiert starrten sie auf das Herz dieser furchtbaren menschlichen Uhr, das wie lebendig zitterte und schlug.
»Um Gottes willen, fort von hier! Ich werde ohnmächtig. Verflucht sei dieses persische Ungeheuer.«
Sie wollten zur Tür.
Da! Wieder dieses unheimliche Knirschen, das aus dem Mund des Präparats zu kommen schien.
Zwei blaue Funken zuckten auf und wurden von dem Brennspiegel direkt in die Pupillen des Toten reflektiert.
Seine Lippen öffneten sich, und schwerfällig streckte sich die Zunge vor. Sie bog sich hinter die Vorderzähne, und die Stimme röchelte: »Ein Viertel.
Dann schloss sich der Mund und das Gesicht starrte wieder geradeaus.
»Grässlich! Das Gehirn funktioniert, es lebt. Fort, fort ins Freie, hinaus! Nimm die Kerze, Sinclair.«
»Öffne doch endlich, um Himmels willen! Warum öffnest du nicht?«
»Ich kann nicht, da … da, schau!«
Die innere Türklinke war eine menschliche Hand, mit Ringen geschmückt – die Hand des Toten. Die weißen Finger krallten sich ins Leere.
»Hier, hier, nimm das Tuch. Was fürchtest du dich? Es ist doch nur Axels Hand.«
Sie standen wieder auf dem Gang und sahen, wie die Tür langsam ins Schloss fiel.
Daran hing eine schwarze gläserne Tafel: Dr. Mohammed Darascheroh, Anatom.
Die Kerze flackerte im Luftzug, der über die ziegelsteinerne Treppe emporwehte.
Da taumelte Ottokar an die Wand und sank stöhnend in die Knie. »Hier! Das da …« Er wies auf den Glockenzug.
Sinclair leuchtete näher hin.
Mit einem Schrei sprang er zurück und ließ die Kerze fallen.
Der blecherne Leuchter klirrte von Stein zu Stein.
Wie wahnsinnig, die Haare gesträubt und mit pfeifendem Atem, rasten sie in der Finsternis die Stufen hinab.
»Persischer Satan! Persischer Satan!«
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