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Der Phantom-Wolfshund

Otis Adelbert Kline
Der Phantom-Wolfshund

Kapitel I

Doktor Dorp legte widerwillig das Manuskript beiseite, steckte seinen Füllfederhalter in die Tasche und stand auf, um seine Besucher zu empfangen.

Er war sichtlich verärgert über diese dritte Unterbrechung am Nachmittag. Doch sein genervter Gesichtsausdruck wich einem freundlichen Lächeln, als er die massige Gestalt im Türrahmen erkennen konnte. Er erkannte Harry Hoyne von der Hoyne Detective Agency – einen kräftigen Mann mit rotem Gesicht, dessen eisengraues Haar und Schnurrbart ihn als weit über das mittlere Alter hinaus verrieten.

Der schlanke, gebeugte Mann, der ihn begleitete, war ihm völlig unbekannt. Er hatte blasse, falkenkartige Gesichtszüge, kleine, schlangenhafte Augen, die seltsam aus den tief liegenden Augenhöhlen funkelten, sowie lange, knochige Finger, die an Vogelkrallen erinnerten.

»Hallo, Doc«, grüßte der Detektiv freundlich und drückte die Hand seines Gastgebers mit seiner großen, muskulösen Pranke. »Darf ich Ihnen Herrn Ritsky vorstellen?«

Der Doktor verspürte ein kaltes, klammes Gefühl, als er die Hand des Fremden ergriff und die Vorstellung quittierte. War es der Kontrast zwischen diesen kalten Fingern und den starken, warmen Händen des Detektivs, der dieses Gefühl hervorgerufen hatte? Er wusste es nicht, aber irgendwie, instinktiv, mochte er Mr. Ritsky nicht.

»Ich habe einen seltsamen Fall für Sie, Doc«, sagte Hoyne, nahm eine angebotene Zigarre und steckte sie sich unangezündet tief in den Mund. »Genau Ihr Spezialgebiet – Geister und so etwas. Ich habe Mr. Ritsky gesagt, Sie seien der Einzige, der ihm dieses Rätsel lösen könne. Ich war gestern Abend bei ihm zu Hause und das Ding hat mich erschreckt: Es war zu substanzlos, zu schwer fassbar, zu unwirklich. Und doch könnte ich schwören, dass da etwas war. Ich habe es gehört, aber es ist mir entwischt und hat keine Spuren hinterlassen. Wenn es um Fingerabdrücke geht, bin ich zwar kein Dummkopf, aber ich muss zugeben, dass mich diese Sache, was auch immer es ist, hoffnungslos verwirrt hat.«

Ritsky lehnte eine Zigarre ab und sagte, er wage wegen seines Herzleidens nicht zu rauchen. Der Arzt wählte sorgfältig eine Zigarre aus, zündete sie langsam an, nahm genüsslich einen Zug und lehnte sich mit erwartungsvollem Blick zurück.

»Was ist letzte Nacht passiert?«, fragte er.

»Vielleicht fangen wir am besten ganz von vorne an«, sagte Hoyne. »Sehen Sie, dieser Fall hat eine ganze Geschichte, und Mr. Ritsky kann sie besser erzählen als ich. Scheuen Sie sich nicht, ihm alles zu erzählen, Mr. Ritsky. Der Doktor kennt sich mit solchen Dingen bestens aus – er hat sogar ein Buch darüber geschrieben. Mal sehen. Wie hieß das Buch, Doc?«

»Untersuchungen über Materialisationsphänomene

»Genau! Ich kann mir den Titel nie merken. Wie auch immer, Mr. Ritsky, erzählen Sie ihm Ihre Geschichte und stellen Sie ihm alle Fragen, die Sie möchten. Er ist der Experte auf diesem Gebiet.«

Ritsky betrachtete einen Moment lang seine klauenartigen Hände und ballte die knochigen Finger zu Fäusten. Plötzlich blickte er auf.

»Haben Tiere eine unsterbliche Seele?«, fragte er ängstlich.

»Ich fürchte, Sie haben meine Fähigkeiten als Aufzeichner wissenschaftlicher Fakten leider überschätzt«, antwortete der Arzt mit einem leichten Lächeln. »Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Ich glaube nicht, dass irgendjemand das weiß. Die meisten Menschen glauben, dass sie keine haben, und ich neige zu dieser Ansicht.«

»Dann könnte so etwas wie der Geist eines Hundes nicht existieren?«

»Das würde ich nicht sagen. Nichts ist unmöglich. Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als wir in unserer Philosophie träumen, wie Shakespeare sagte. Allerdings halte ich eine Materialisierung des körperlosen Geistes eines Hundes oder eines anderen niederen Tieres für höchst unwahrscheinlich.«

»Aber wenn Sie einen mit eigenen Augen gesehen hätten …«

»Ich würde die Beweise meiner Sinne wahrscheinlich anzweifeln. Haben Sie schon einmal einen gesehen?«

»Ob ich schon einmal einen gesehen habe?«, stöhnte Ritsky. »Guter Gott, Mann, ich würde jeden Cent geben, um dieses Ding loszuwerden! Seit zwei Jahren macht es meine Nächte zur Hölle! Ich bin von einem vollkommen gesunden, normalen Menschen zu einem körperlichen Wrack geworden. Manchmal glaube ich, ich verliere den Verstand. Wenn es nicht aufgehalten wird, wird mich das Ding entweder umbringen oder in den Wahnsinn treiben.«

Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

»Das ist höchst seltsam«, sagte der Arzt. »Sie sagen, die Erscheinung hat Sie vor zwei Jahren zum ersten Mal heimgesucht?«

»Nicht in ihrer jetzigen Form. Aber sie war trotzdem da. Das erste Mal sah ich sie kurz nachdem ich diesen verfluchten Hund getötet hatte. Genau genommen einen Monat danach. Ich erschoss ihn am 21. August und er – oder es – kam zurück, um mich am 21. September zu verfolgen. Wie lebhaft erinnere ich mich an die Eindrücke dieser ersten Nacht des Schreckens! Wie sehr habe ich am nächsten Tag versucht, mir einzureden, es sei nur ein Traum gewesen, dass so etwas unmöglich sei. Ich hatte mich um elf Uhr schlafen gelegt und wurde zwischen ein und zwei Uhr morgens aus tiefem Schlaf durch das Winseln und Jaulen eines Hundes geweckt. Da es auf dem Grundstück keine Hunde gab, können Sie sich meine Überraschung vorstellen. Ich wollte gerade aufstehen, als etwas direkt über meinem Fußende

meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Im schwachen Licht erschien es mir grau-weiß und ähnelte stark dem Kopf und den hängenden Ohren eines Hundes. Mit Entsetzen bemerkte ich, dass es sich langsam auf mich zubewegte. Vor Schreck war ich wie gelähmt, als es ein leises, dumpfes Knurren von sich gab.

Mit einer letzten Willensanstrengung sprang ich aus dem Bett und knipste das Licht an. In der Luft, wo ich das Ding gesehen hatte, war jedoch nichts zu sehen. Die Tür war verschlossen und die Fenster mit Fliegengittern versehen. Nach einer gründlichen Suche fand ich nichts Ungewöhnliches im Zimmer. Verwirrt durchsuchte ich das ganze Haus von oben bis unten, fand aber keine Spur von dem Ding, welches die Geräusche verursacht hatte.

Seit diesem Tag habe ich nie wieder mit einem Gefühl der Sicherheit meinen Kopf auf ein Kissen gelegt. Zunächst besuchte es mich in Abständen von etwa einer Woche. Diese Abstände verkürzten sich allmählich, bis es schließlich jede Nacht kam. Mit zunehmender Häufigkeit seiner Besuche schien die Erscheinung zu wachsen. Zunächst spross ein kleiner Körper, wie der eines Terriers, der in keinem Verhältnis zu dem riesigen Kopf stand. Jede Nacht wuchs dieser Körper ein wenig, bis er die vollen Proportionen eines russischen Wolfshundes annahm. Vor Kurzem hat es versucht, mich anzugreifen, aber ich habe es jedes Mal vereitelt, indem ich das Licht angemacht habe.

»Sind Sie sicher, dass Sie das alles nicht geträumt haben?«, fragte der Arzt.

»Könnte es sein, dass jemand anderes meine Träume hört?«, entgegnete Ritsky. »Wegen dieser Geräusche konnten wir nur einen einzigen Bediensteten behalten. Alle mit Ausnahme unserer Haushälterin, die ziemlich taub ist, haben die Geräusche gehört und uns daraufhin verlassen.«

»Wer gehört zu Ihrem Haushalt?«

»Außer der Haushälterin und mir gibt es nur noch meine Nichte und Mündel, ein zwölfjähriges Mädchen.«

»Hat sie die Geräusche gehört?«

»Sie hat nie etwas davon erwähnt.«

»Warum ziehen Sie nicht in eine andere Wohnung?«

»Das würde nichts nützen. Wir sind in den letzten zwei Jahren fünfmal umgezogen. Als das Ganze anfing, lebten wir auf dem Anwesen meiner Nichte in der Nähe von Lake Forest. Wir überließen das Haus den Hausmeistern und zogen nach Evanston. Die Erscheinung folgte uns. Wir zogen nach Englewood. Das Ding folgte uns. Seitdem hatten wir drei verschiedene Wohnungen in Chicago. Es kam mit gleicher Regelmäßigkeit in alle.«

»Würden Sie mir bitte die verschiedenen Adressen aufschreiben, an denen Sie gewohnt haben?«

»Gerne, wenn das zur Aufklärung dieses Rätsels beiträgt.«

Der Arzt holte einen Bleistift und ein Blatt Notizpapier, und Ritsky schrieb die Adressen auf.

Doktor Dorp überflog sie sorgfältig.

»Villa Rogers«, sagte er. »Ist Ihre Nichte Olga Rogers dann die Tochter des Millionärs James Rogers und seiner schönen Frau, der ehemaligen russischen Tänzerin, die beide mit der Titanic ums Leben gekommen sind?«

»Olgas Mutter war meine Schwester. Nach dem tragischen Tod ihrer Eltern hat mich das Gericht zu ihrem Vormund und Verwalter des Nachlasses ernannt.«

»Das sind alle Informationen, die wir vorerst benötigen, Mr. Ritsky. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich Sie heute Abend nach dem Essen besuchen. Wenn Mr. Hoyne mich begleiten möchte, werden wir sehen, was wir tun können, um dieses Rätsel zu lösen. Bitte achten Sie darauf, dass niemand in Ihrem Haus etwas von dem Zweck unseres Besuchs erfährt. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie möchten, dass wir einige elektrische Geräte installieren.«

»Ich werde mit Glocken läuten«, sagte Hoyne, als sie sich zum Gehen erhoben.

 

Kapitel II

Kurz nachdem seine Gäste gegangen waren, raste Doktor Dorp die Sheridan Road entlang in Richtung Villa Rogers.

Die Fahrt dauerte fast eine Stunde und er verbrachte eine weitere halbe Stunde damit, das Hausmeisterpaar zu befragen. Er kehrte mit einem gut gefüllten Notizbuch nach Hause zurück und begann sofort, die Ausrüstung für die Arbeit am Abend zusammenzustellen. Diese bestand aus drei Kameras mit speziell konstruierten Verschlüssen, mehreren kleinen elektrischen Mechanismen, einer Rolle isoliertem Draht, einer Blitzpistole und einem Werkzeugkasten.

Nach dem Abendessen holte er Hoyne zu Hause ab und sie machten sich auf den Weg zum Spukhaus.

»Sie sagen, Sie haben diesen Fall letzte Nacht untersucht, Hoyne?«, fragte der Arzt.

»Ich habe es versucht, aber soweit ich sehen konnte, gab es nichts zu sehen, außer dem Winseln dieses Hundes.«

»Wo waren Sie, als Sie die Geräusche hörten?«

»Ritsky hatte sich zurückgezogen. Ich schlief in einem Sessel in seinem Zimmer. Gegen zwei Uhr wurde ich von einem leisen, aber deutlichen Winseln geweckt. Dann hörte ich einen Schrei von Ritsky. Er knipste das Licht aus, setzte sich zitternd auf das Bett und mir fielen die Schweißperlen auf seiner Stirn auf.

›Hast du es gesehen?‹, fragte er mich.

›Was gesehen?‹, fragte ich.

›Den Hund?‹

Ich sagte ihm, ich hätte nichts gesehen, aber das Geräusch deutlich gehört. Unter uns gesagt, glaube ich allerdings, dass ich für einen Moment einen weißen Blitz neben seinem Bett gesehen habe, aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.«

»Wir werden heute Nacht unseren Augen nicht trauen«, sagte der Arzt. »Ich habe drei Augen, die nicht von Hysterie beeinflusst werden und keine Halluzinationen registrieren.«

»Drei Augen? Wovon redest du?«

»Von Kameras natürlich.«

»Aber wie …«

»Warte, bis wir dort sind. Ich werde es dir zeigen.«

Ein paar Augenblicke später wurden sie von der Haushälterin, einer stämmigen Frau von etwa sechzig Jahren, in die Wohnung gelassen. Ritsky stellte sie seiner Nichte vor, einer verträumten, zarten, hübschen Schülerin mit seidigen, goldenen Locken, die im fahlen Weiß ihrer Haut glänzten.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte der Arzt, »würden wir uns jetzt gerne umsehen. Es wird einige Zeit dauern, die Verkabelung zu installieren und andere notwendige Vorbereitungen zu treffen.«

Ritsky führte sie durch die geräumige, geschmackvoll eingerichtete und kunstvoll dekorierte Wohnung. Der Grundriss war recht einfach und gewöhnlich. Zuerst kam das große Wohnzimmer, das sich über die gesamte Vorderseite des Hauses erstreckte. Es öffnete sich nach rechts zum Esszimmer und in der Mitte zu einem Flur, der zum hinteren Teil des Gebäudes führte. Hinter dem Esszimmer befand sich die Küche und dahinter das Zimmer des Dienstmädchens. Ritskys Schlafzimmer lag direkt gegenüber dem Esszimmer. Danach folgten das Schlafzimmer seiner Nichte, ein Gästezimmer und ein Badezimmer. Jedes der drei Schlafzimmer im vorderen Bereich war mit einem eigenen Bad und einem großen Kleiderschrank ausgestattet.

Der Arzt begann damit, die drei Kameras in Ritskys Zimmer zu installieren und sie so an der Wand zu befestigen, dass sie das Bett aus drei Richtungen filmten. Nachdem er sie richtig fokussiert hatte, stellte er den Blitz auf ein zusammenklappbares Stativ und richtete ihn auf das Bett.

Der Raum wurde von einer Alabasterschale beleuchtet, die von der Decke hing und sich über einen Schalter am Bett ein- und ausschalten ließ. Außerdem gab es zwei Wandleuchten, eine auf jeder Seite der Kommode, sowie eine kleine Leselampe auf einem Tisch in einer Ecke. Diese drei Lampen wurden über separate Zugschnüre bedient.

Ritsky holte ihm eine Trittleiter. Nachdem er die Hängelampe ausgeschaltet hatte, entfernte er eine der Glühbirnen aus der Leuchte und setzte eine Vierfachfassung ein. Von dieser Fassung aus verlegte er Kabel entlang der Decke und Wand hinunter zu den drei Kameras und dem Blitzgerät. Als er mit diesen Vorbereitungen fertig war, hatten sich Miss Rogers und die Haushälterin zurückgezogen.

Hoyne betrachtete das fertige Werk mit unverhohlener Bewunderung.

»Wenn sich etwas in diesem Raum befindet, werden diese drei mechanischen Augen es mit Sicherheit entdecken, sobald Ritsky den Schalter umlegt«, sagte er begeistert.

»Nun, Mr. Ritsky«, begann der Arzt, »ich möchte, dass Sie sich für diese Nacht ganz in unsere Hände begeben. Bleiben Sie ruhig, fürchten Sie sich nicht und befolgen Sie meine Anweisungen genauestens. Ich schlage vor, dass Sie sich jetzt zu Bett begeben und versuchen, etwas zu schlafen. Wenn die Erscheinung Sie beunruhigt, schalten Sie einfach das Licht an, wie Sie es in der Vergangenheit getan haben. Berühren Sie den Lichtschalter jedoch nicht, es sei denn, das Ding erscheint. Die fotografischen Platten werden nach der Entwicklung zeigen, ob Sie unter einer bloßen Halluzination gelitten haben, die durch Autosuggestion hervorgerufen wurde, oder ob echte Materialisationsphänomene aufgetreten sind.«

Nachdem sie die Fenster geschlossen und verriegelt hatten, stellten sie die Trittleiter im Flur neben Ritskys Tür auf. Dann holten sie einen Zweitschlüssel von ihm, baten ihn, sich einzuschließen und den Schlüssel abzuziehen, damit sie jederzeit Zutritt hatten.

Als alles vorbereitet war, brachten sie leise zwei Stühle aus dem Schlafzimmer in den Flur und begannen ihre stille Nachtwache.

 

Kapitel III

Beide Männer saßen fast drei Stunden lang schweigend da. Der Arzt schien in Gedanken versunken zu sein und Hoyne kaute nervös auf seiner unvermeidlichen, nicht angezündeten Zigarre herum. Das Haus war still, bis auf das Ticken der Uhr im Flur, die stündlich den Lauf der Zeit ankündigte.

Kurz nachdem die Uhr zwei geschlagen hatte, hörten sie ein leises Stöhnen.

»Was war das?«, flüsterte der Detektiv heiser.

»Warten Sie!«, antwortete der Arzt.

Bald darauf wiederholte sich das Geräusch, gefolgt von langem Schluchzen.

»Es ist Mia Rogers«, sagte Hoyne aufgeregt.

Doktor Dorp stand auf und schlich leise zur Tür des Kinderzimmers. Nachdem er einen Moment lang gelauscht hatte, öffnete er die Tür einen Spalt breit und trat ein. Bald kehrte er zurück und ließ die Tür einen Spalt offen. Das Schluchzen und Stöhnen ging weiter.

»Genau wie erwartet«, sagte er. »Ich möchte, dass Sie in das Zimmer des Kindes gehen, still sind und sich alles merken, was Sie sehen und hören. Bleiben Sie dort, bis ich Sie rufe«, sagte er und bereitete sich auf einen erschreckenden Anblick vor.

»Was – was ist los?«, fragte Hoyne nervös.

»Nichts, was Ihnen schaden könnte. Was ist los? Haben Sie Angst?«

»Angst, zum Teufel!«, knurrte Hoyne. »Kann man Ihnen nicht eine Frage stellen?«

»Wir haben jetzt keine Zeit für Fragen. Gehen Sie rein und tun Sie, was ich sage, wenn Sie mir helfen wollen.«

»In Ordnung, Doc. Es ist Ihre Entscheidung.«

Der hochgewachsene Detektiv betrat das Zimmer des schluchzenden Kindes und quetschte seinen massigen Körper in einen zierlichen Schaukelstuhl, von dem aus er das Bett sehen konnte. Sie wälzte sich hin und her und stöhnte, als hätte sie Schmerzen. Hoyne, der Mitleid mit ihr hatte, fragte sich, warum der Arzt sie nicht weckte.

Bald hörte sie auf, sich zu winden. Sie ballte die Hände und stieß einen leisen, gurgelnden Schrei aus, während eine weiße, durchsichtige Masse langsam zwischen ihren Lippen hervorkam. Der erstaunte Detektiv starrte mit offenem Mund. Er war so erschrocken, dass er vergaß, seine Zigarre auszupressen. Das hauchdünne Material quoll noch mehrere Minuten lang hervor, die dem angespannten Beobachter wie Stunden vorkamen. Dann bildete es eine nebulöse, wabernde Wolke über dem Bett, löste sich vollständig von dem Mädchen und schwebte durch die halb geöffnete Tür hinaus.

Doktor Dorp, der im Flur stand, sah ein weißes, nebliges Etwas mit undeutlichen Umrissen aus dem Schlafzimmer aufsteigen. Es schwebte durch den Flur und blieb direkt vor Ritskys Tür stehen. Er näherte sich vorsichtig und lautlos und bemerkte, dass es schnell kleiner wurde. Dann entdeckte er den Grund. Es floss durch das Schlüsselloch!

In kurzer Zeit war es vollständig verschwunden. Er wartete atemlos.

Was war das? Plötzlich durchbrach der klagende Schrei eines Hundes die Stille. Er stieg auf die Trittleiter, um durch das Glasfenster ins Zimmer zu sehen. Kaum hatte er den zweiten Schritt gemacht, verwandelte sich das klagende Geräusch in ein gurgelndes Knurren, gefolgt von einem Schrei tödlicher Angst und dem dumpfen Knall einer Blitzpistole.

Der Arzt sprang von der Leiter herunter, rief Hoyne herbei und gemeinsam betraten sie das verfluchte Schlafzimmer. Der Raum war hell erleuchtet von der Alabasterschale und erfüllt vom widerlichen Rauch des Blitzpulvers.

Hoyne öffnete die Fenster und kehrte zu dem Arzt zurück. Dieser blickte nachdenklich auf Ritsky, der offenbar ohnmächtig geworden war. Er war halb aus dem Bett gefallen und hing mit einem knochigen Arm heraus. Sein ausgemergeltes Gesicht war ein Bild äußerster Angst.

»Mein Gott!«, rief Hoyne. »Sehen Sie sich seine Kehle und seine Brust an! Der schäumende Speichel eines Hundes!«

Der Arzt nahm eine kleine Porzellanschale aus seiner Tasche, nahm den Deckel ab und kratzte mit der Klinge seines Taschenmessers einen Teil der schleimigen Ablagerung in die Schale.

»Sollten wir nicht besser versuchen, ihn wieder zu Bewusstsein zu bringen?«, fragte Hoyne.

Nachdem sie ihn wieder ins Bett gehoben hatten, beugte sich der Arzt vor und legte sein Ohr an die Brust des Mannes. Er nahm sein Stethoskop aus dem Koffer und hörte erneut. Dann richtete er sich ernst auf.

»Keine irdische Macht kann ihn wiederbeleben«, sagte er leise. »Ritsky ist tot!«

 

Kapitel IV

Sie blieben im Haus und warteten auf die Ankunft des Leichenbeschauers und des Bestatters. Doktor Dorp eilte derweil mit seiner Ausrüstung und der Probe des Schleims, den er von der Leiche gekratzt hatte, nach Hause. Hoyne war verwirrt darüber, dass der Arzt das Haus und die Kleidung des Toten durchsucht hatte, bevor er gegangen war.

Der Detektiv war bis fast zehn Uhr in der Wohnung der Ritskys beschäftigt. Nachdem er in einem Restaurant gefrühstückt und eine Tasse Kaffee getrunken hatte, ging er direkt zum Haus des Arztes.

Er fand den Psychologen in seinem Labor, vertieft in ein kompliziertes chemisches Experiment. Er schüttelte ein Reagenzglas, das er über einem kleinen Spiritusbrenner erhitzt hatte, hielt es gegen das Licht, stellte es in ein kleines Gestell, in dem mehrere andere, teilweise mit Flüssigkeit gefüllte Gläser standen, und nickte seinem Freund freundlich zu.

»Guten Morgen, Doe«, grüßte Hoyne. »Hast du schon herausgefunden, was wir dem Leichenbeschauer sagen werden?«

»Die direkte Todesursache von Ritsky kenne ich schon lange. Es war Angst. Die indirekte Ursache, also das, was die Angst ausgelöst hat, erforderte hingegen sorgfältige Untersuchungen und umfangreiche chemische Forschungen.«

»Und das war …«

»Psychoplasma.«

»Ich verstehe dich nicht, Doe. Was ist Psychoplasma?«

»Sie haben sicherlich schon von der Substanz Ektoplasma gehört, über die Sir Arthur Conan Doyle zahlreiche Vorträge gehalten hat. Oder von einer ähnlichen Substanz namens Teleplasma, die Baron von Schrenck-Notzing entdeckt hat, als er an Materialisationssitzungen mit dem Medium Eva teilnahm.

Während der Baron diese Substanz in Europa beobachtete und fotografierte, führte mein Freund und Kollege, Professor James Braddock, ähnliche Untersuchungen in diesem Land durch. Er nannte die Substanz Psychoplasma. Mir gefällt dieser Name besser als die beiden anderen, da die Substanz zweifellos durch die Kraft des subjektiven Geistes aus unsichtbaren Materieteilchen erzeugt oder gebildet wird.

Ich habe in der Vergangenheit viele Proben dieser Substanz untersucht und analysiert. Die Platte, die ich jetzt unter dem Verbundmikroskop habe, und die verschiedenen chemischen Bestimmungen, die ich gerade abgeschlossen habe, zeigen eindeutig, dass es sich um Psychoplasma handelt.«

»Aber wie – woher kommt es?«

»Ich habe gestern etwas über die Geschichte von Ritsky und seinem Mündel erfahren. Lassen Sie mich Ihnen dies zunächst erläutern: Der Mann hat die Wahrheit gesagt, als er behauptete, er sei zum Vormund seiner Nichte ernannt worden, und auch, als er sagte, er habe einen Hund erschossen. Bei dem Hund handelte es sich um einen russischen Wolfshund, den die Eltern dem Mädchen geschenkt hatten, als sie auf Reisen in Russland waren. Als er ankam, war er noch halb so groß, und die beiden wurden bald unzertrennliche Gefährten, die zusammen auf dem Grundstück herumtollten und spielten oder durch das große Haus stürmten.

Einige Zeit nach dem Tod von Olgas Eltern zog Ritsky, der damals eine radikale Zeitung in New York herausgab, in die Villa Rogers. Der inzwischen ausgewachsene Hund entwickelte eine heftige Abneigung gegen ihn und biss ihn einmal ziemlich schwer. Als er verkündete, das Tier erschießen zu lassen, weinte das Mädchen heftig und schwor, sich umzubringen, wenn Shag, wie sie ihn genannt hatte, getötet würde. Es schien, als betrachte sie den Hund als Zeichen der Liebe ihrer Eltern, die fortgesegelt waren, um nie wieder zurückzukehren.

»Shag! Das ist der Name!«, unterbrach Hoyne aufgeregt. »Nachdem das weiße Ding aus dem Zimmer geschwebt war, machte sie Geräusche wie ein Hund, antwortete mit den Worten Guter alter Shag und tätschelte einen imaginären Kopf. Als sie dieses Knurren von sich gab, jagte mir das allerdings einen Schauer über den Rücken.«

»Der rachsüchtige Ritsky«, fuhr der Arzt fort, »war entschlossen, Shag zu töten, und fand eine Gelegenheit, ihn mit einer Pistole zu erschießen, als das Mädchen im Haus war. Kurz darauf schleppte sich das treue Tier zu den Füßen seiner Herrin und starb in ihren Armen. Er konnte ihr nicht sagen, wer ihm das Leben genommen hatte, aber sie musste es gewusst haben und hegte daher einen Hass gegen ihren Onkel, von dem sie objektiv nichts wusste.

Die meisten Menschen verfügen über potenzielle mediale Fähigkeiten. Wie sich diese Fähigkeiten bei bestimmten Menschen entwickeln und bei anderen praktisch schlummern, ist eine Frage, die nie zufriedenstellend geklärt werden konnte.

Ich persönlich glaube, dass sie oft aufgrund intensiver emotionaler Verdrängungen entstehen, die keinen normalen Ausdruck durch den objektiven Verstand finden und sich daher in abnormalen psychischen Manifestationen äußern.

Dies schien bei Olga Rogers der Fall zu sein. Sie entwickelte diese Fähigkeit subjektiv, ohne objektiv zu wissen, dass es sie gab. Eine der auffälligsten psychischen Fähigkeiten ist die Erzeugung oder Zusammenfügung einer Substanz namens Psychoplasma, ihr verschiedene Formen zu geben und sie sich bewegen zu lassen, als ob sie einen eigenen Willen hätte.

Olga entwickelte diese besondere Kraft in bemerkenswertem Maße. Unter der Leitung ihrer subjektiven Intelligenz nahm die Substanz die Form ihres geliebten Tieres an und suchte Rache an dessen Mörder. Wir kamen einen Tag zu spät, um das Objekt ihres unbewussten Hasses zu retten.«

»Schade, dass Sie in der Nacht zuvor nicht da waren«, sagte Hoyne. »Der arme Teufel wäre heute noch am Leben, wenn Sie in der ersten Nacht mit mir zusammen gewesen wären, um das Ding zu betäuben.«

»Wir hätten ihm vielleicht eine Gefängnisstrafe oder den Galgen ersparen können«, antwortete der Arzt etwas sarkastisch. »Das haben Sie natürlich nicht gesehen.«

Er nahm einen kleinen silbernen Stift vom Tisch und reichte ihn dem Detektiv.

»Was hat das damit zu tun?«

»Öffnen Sie es! Schrauben Sie den Deckel ab. Vorsichtig!«

Hoyne schraubte den Deckel vorsichtig ab und sah, dass die Kammer, die für zusätzliche Bleistücke gedacht war, mit einem weißen Pulver gefüllt war.

»Arsen«, sagte der Arzt knapp. »Haben Sie die kränkliche Blässe des Mädchens bemerkt? Und die dunklen Ringe unter ihren Augen? Ihr liebevoller Onkel und Vormund hat sie langsam vergiftet und die Dosis von Zeit zu Zeit erhöht. In einem Monat oder sechs Wochen wäre sie gestorben und Ritsky, ihr nächster Verwandter, hätte ihr Vermögen geerbt.«

»Ich will verdammt sein!«, explodierte Hoyne.

Der Laborassistent von Doktor Dorp kam herein und reichte seinem Arbeitgeber ein Paket mit Abzügen.

»Hier sind die Abzüge der Fotos von letzter Nacht«, sagte der Arzt. »Möchten Sie sie sehen?”

Hoyne nahm die Abzüge mit zum Fenster und betrachtete sie aufmerksam.

Auf allen war Ritsky zu sehen, wie er sich aus dem Bett lehnte, die Hand auf dem Lichtschalter, das Gesicht zu einer Grimasse des Entsetzens verzerrt – und an seiner Kehle hing, in den hässlichen Kiefern des riesigen russischen Wolfshundes, das weiße, missgestaltete Gespenst!

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