Aus dem Reiche der Phantasie – Heft 2 – Die Totenstadt – 7. Teil
Robert Kraft
Aus dem Reiche der Phantasie
Heft 2
Die Totenstadt
Verlag H. G. Münchmeyer, Dresden, 1901
Verwildert
Als Richard eines Tages vom Söller aus die Umgebung beobachtete, sah er am Rande des Waldes eine dunkle Gestalt sich bewegen. Die Entfernung war zu groß, als dass er etwas Näheres erkennen konnte, doch das Geschöpf musste groß sein, denn es schien auf zwei Beinen zu gehen. Wahrscheinlich war es ein Mensch.
Zitternd vor Aufregung holte Richard ein Fernrohr und richtete es auf die Gestalt. Es war in der Tat ein Mensch! Ohne erst durch das Fernrohr nähere Beobachtungen anzustellen, griff er gewohnheitsmäßig nach den Waffen und eilte in die Richtung, in der er den Menschen zuletzt gesehen hatte. Er musste dabei durch den Wald und dann durch hohes Gras, und plötzlich stand er vor dem Betreffenden.
Es war ein etwa zehnjähriger Junge. Er war splitternackt, hatte schwarzbraune Haut und langes hellblondes Haar, das ihm auf den Rücken fiel. Er hielt einen Bogen und Pfeile in den Händen und trug viel Goldschmuck um die Hand- und Fußgelenke und um den Hals. Auf der Brust hing ihm eine goldene Uhr, an den Fingern blitzten Ringe und auch in den Ohren. Es war alles solches Geschmeide, wie Richard es noch jetzt auf den Straßen und in den Läden der Stadt liegen sah.
Die Begegnung war wie die eines Australnegers mit einem Europäer. Der kleine, mit scharfen Sinnen begabte Wilde hatte die Annäherung Richards offenbar schon gehört, sich zur Flucht gewandt und war dann überrascht worden. Jetzt stand er hilflos da, zitternd, die Pfeile hinter dem Rücken versteckend. In seinem stupiden Gesicht stand halb grenzenloses Staunen, halb entsetzliche Angst und er wusste nicht, ob er jetzt noch fliehen durfte.
»Fürchte dich nicht, ich tue dir nichts«, sagte Richard. »Wer bist du, Kleiner?«
Schon dachte er, dass der Wilde ihn nicht verstehen könne, da öffnete jener den Mund und antwortete: »Ich heiße Anton.«
Nun war es Richard, der furchtbar erschrak. Denn vermutlich war der Junge niemand anderes als der Sohn des Schusterehepaares. Er war vor Schmutz und Ungeziefer kaum wiederzuerkennen, ein vollkommener Wilder, und doch waren die Befürchtungen bezüglich seiner Eltern berechtigt, denn wie konnte ein Kind so aussehen und erzogen werden!
»Bist du der Sohn des Schusters?«, fragte Richard.
»Mein Vater heißt Karl und meine Mutter ist Marie. Anton hat Hunger«, entgegnete der Knabe und fügte einen fürchterlichen Fluch hinzu.
Richard lockte ihn mit sich. Er wurde immer wieder von Entsetzen befallen, noch mehr aber von Mitleid. Der ganze Jammer der Menschheit ergriff ihn – konnte man auch von ihm sagen.
Dieses Wesen, das neben ihm herging und in seiner Gestalt einem Menschen glich, war fast schon weniger als ein auf der niedrigsten Stufe stehender Wilder. Selbst ein Wilder ist das Produkt der Entwicklung seines Geschlechts und hat eine gewisse Erziehung genossen – dieses Geschöpf aber besaß gar keine Erziehung, es war ein verwilderter Mensch oder vielmehr ein Raubtier. Das drückte sich auch in den Augen des Jungen aus, als er jetzt, zutraulicher geworden, mit gieriger, aber auch ängstlicher Hand Richards Kleider und sein Gewehr betastete. Sein ganzes Gebaren war ein widerwärtiges Gemisch aus menschlichem Verstand und tierischer Gier.
Richard konnte nur wenig über den Jungen erfahren. Er sprach Deutsch, aber unzählige Worte fehlten ihm. Seine Eltern lebten. Sie wohnten im Schweizerhaus. Das war ein Vergnügungsetablissement in der Nähe der Stadt. Es waren noch sechs andere Kinder da, zusammen drei Jungen und vier Mädchen. Sie kannten keine Kleidung mehr. Wozu auch bei der Wärme? Ihre Pfeilspitzen bestanden aus verrosteten Nägeln, manchmal wurden aber auch spitze Steine verwendet. Die Mutter hatte einen schweren, scharfen Stein, wenn sie Holz hackte. Sie schossen Vögel, Ratten, Mäuse, Fische, Eidechsen und Frösche und brieten sie anschließend am Feuer. Wenn es jedoch sehr feucht war und sie deshalb kein Feuer entzünden konnten, aßen sie die Tiere roh. Als Zukost dienten Früchte.
Das war so ziemlich alles, was Richard aus dem Jungen herausbringen konnte. Er sah ein, dass, wenn die letzten Nägel in Rost zerfielen, die Nachkommen des Ehepaares wieder zu Steinmenschen werden und noch tiefer herabsinken mussten. Schon dieser Junge war ein schreckliches Zerrbild eines Menschen. Er fluchte beständig, wie er es vom Vater gehört hatte, und missbrauchte dabei den Namen Gottes. Von einem Gott selbst wusste er jedoch nichts. Der Begriff »Mensch« war ihm völlig unbekannt. Ja, seine Eltern, Geschwister und er selbst hatten nicht einmal neue Namen erfunden. Die Bananen nannte Anton zum Beispiel »lange Dinger« und dieses Wort würde nun feststehend in ihre neue Sprache übergehen.
Richard nahm den Jungen mit auf seine Festung, aber nicht ins Innere derselben. Die Unreinlichkeit Antons verbot es. Gierig verschlang der Junge zunächst die dargereichten Speisen, dann schaute er sich mit verwunderten Blicken um und staunte über die einfachsten Dinge, während ihm andere wieder geläufig waren. Vor der klappernden Windmühle fürchtete er sich, doch erinnerte er sich auch daran, dass sich der Zeiger seiner Uhr früher mit einem tickenden Geräusch bewegt hatte, genauso wie der Zeiger von Richards großer Wanduhr. Über dieses Geheimnis hatte er jedoch nie nachgedacht und war auch nie darüber aufgeklärt worden. Zum Spaß schoss Richard mit einem Gewehr, und der kleine Wilde fiel vor Schreck nieder. Ebenso fürchtete er sich, als er durch das Fernrohr blickte. Allerdings dachte er nicht an Zauberei. Er dachte nichts, denn er war ja nur ein beschränktes Tier.
»Hast du auch Schnaps?«, fragte Anton schließlich zu Richards Staunen.
In der Stadt gab es schon längst weder Wein noch Spirituosen. Der ganze Vorrat war von selbst verschwunden. Denn auch das beste Fass muss bei dem Wechsel von Feuchtigkeit und Hitze Sprünge bekommen und auslecken. Wein verdunstet auch durch den Korken der Flasche. Das weiß jeder Weinhändler. Deshalb müssen die Flaschen mit den alten Weinen immer nachgefüllt werden, sonst wäre auch im kühlsten Keller nach zwanzig Jahren nichts mehr darin. Alles, was von Menschenhand erzeugt ist, vergeht eben, wenn es nicht von Menschenhand gepflegt wird.
Der Junge aber musste den Branntwein noch kennen.
»Mein Vater sucht immer noch nach Schnaps, wenn er nicht verrückt ist«, setzte er hinzu.
Richard ging ins Haus, um noch mehr Brot zu holen. Als er zurückkam, war Anton verschwunden – samt dem auf dem Hof gebliebenen Fernrohr und dem Gewehr.
Das war sehr betrüblich. Umso mehr hatte Richard nun aber Grund, seine Schicksalsgefährten, die sich gerade in verschiedene Richtungen entwickelt hatten, zu besuchen. Schon am nächsten Tag machte er sich auf den Weg und nahm ein gebackenes Brot und eine der Flaschen Branntwein mit, die er als Medizin aufbewahrt hatte. Auf den Brotlaib war er stolz, denn er galt ihm als Beweis seines Fleißes und seiner Intelligenz – und darin hatte er recht. Mit der Flasche Branntwein wollte er dem Schuster eine Freude machen.
Mit großer Mühe fand er den Weg zum Schweizerhaus. Einst in einem schönen Park gelegen, war es jetzt von einem völligen Urwald umgeben. Die deutschen Bäume waren unter dem neuen Klima zwar mächtig emporgeschossen, dabei hatten sie jedoch ihre gesamte Lebenskraft verbraucht; die Eiche hatte sich in zehn Jahren wie in hundert Jahren entwickelt. Deshalb starb sie auch jetzt schon ab. Die älteren Bäume lagen bereits verwesend am Boden und arbeiteten als Humuserde für die künftige, neue Generation der tropischen Flora, die sich bereits durch Schlingpflanzen ankündigte. In dem undurchdringlichen Laubgewirr zwitscherte kein Singvogel; unter dem dichten Blätterwerk herrschte eine schwüle, feuchte Luft. Auf dem sumpfigen Boden fühlten sich Schlangen, Eidechsen und Frösche wohl. Ein drückendes Schweigen herrschte überall, das auch Richard mit trauriger Niedergeschlagenheit erfüllte. Diese nahm noch zu, als er das Schweizerhaus betrat.
In dem einst prächtigen Saal des Vergnügungsetablissements, der ebenerdig lag, hauste die dem Tode entgangene Familie. Aus dem düsteren Raum wehte ihm ein Pesthauch entgegen, und natürlich war hier alles vor Schmutz starr. Trotz ihres Elends wollten die Leute aber leben, und die nackten, mit Gold behangenen Kinder waren schließlich auch glücklich, wenn sie nur im Dreck spielen konnten.
In einem dunklen Winkel lag auf moderigem Laub wimmernd eine Frau, sie hatte das Sumpffieber. Daneben war ein ganzer Haufen von Gold- und Edelsteinschmuck aufgehäuft. Das Sammeln dieser Schätze musste den bedauernswerten Menschen noch immer Freude bereiten.
Auf der anderen Seite des Goldstapels kauerte ein ebenfalls völlig nackter alter Mann, der mit blöden Augen den vor ihm Stehenden anstarrte. Er erkannte ihn nicht, staunte aber auch nicht und fürchtete sich nicht.
»Kennst du mich nicht mehr?«, fragte Richard ihn endlich, wobei ihm die Worte kaum über die Lippen kamen.
Der Mann lachte nur blöde vor sich hin und schüttelte den Kopf.
»Das ist doch der Junge, der damals am Leben geblieben ist«, erklang es stöhnend aus dem Winkel.
Richard wollte dem Gedächtnis des Schusters auf die Sprünge helfen, doch der verwilderte Mensch, der heute wahrscheinlich seinen verrückten Tag hatte, antwortete nur immer mit »Ja, ja«.
Plötzlich kam mehr Leben in seine Augen, sein Blick war auf die Flasche gefallen, die halb aus Richards Jagdtasche herausragte.
»Was hast du da?«, fragte er gierig.
Richard gab ihm die Flasche.
Mit zitternden Händen griff der Mann danach, zog den durch die Hitze schon emporgetriebenen Korken völlig heraus und trank in gierigen Zügen.
»Siehst du, Karl«, erklang es jetzt wieder aus der Ecke, »ich sagte es dir doch gleich: In dem Haus, in dem Anton den da gefunden hat, gibt es noch Branntwein. Gib mir die Flasche. Dann wollen wir mit ihm. Er muss uns das Haus zeigen.«
Zu spät erkannte Richard, welches unglückliche Geschenk er mitgebracht und welche Gefahr er damit heraufbeschworen hatte.
»Es ist ein rundes Haus, das auf einem Hügel steht«, erzählte Anton, »es liegt etwas von der Stadt ab. Ich glaube, das kann nur der Pulverturm gewesen sein. Nicht wahr, du wohnst im Pulverturm?«
Richard schleuderte das Brot hin und entfernte sich hastig, ohne Antwort, ohne Abschied und ohne an sein gestohlenes Gewehr und Fernrohr zu denken. Er floh förmlich.
Als er durch den Wald eilte, hörte er ein Rascheln hinter sich. Als er sich umdrehte, erblickte er den ehemaligen Schuster, der ihm mit einem keulenähnlichen Stock in der Hand vorsichtig nachschlich.
»Was willst du von mir?«, fragte Richard drohend und griff nach dem geladenen Revolver.
»Nun, ich gehe eben auch so im Wald wie du«, entgegnete der Mann mit dreistem Lächeln. Der Branntwein hatte ihn völlig verändert. Jetzt war Leben in ihm und seine Augen glühten.
»Entferne dich! Wenn du mir folgst oder dich auch nur ein einziges Mal am Pulverturm blicken lässt, schieße ich dich wie eine Ratte nieder!«, rief Richard und erhob den Revolver.
Der Mann schien sich noch an die Wirkung solch einer Feuerwaffe zu erinnern, denn mit einem Sprung verschwand er hinter einem Baumstamm.
Mit vermehrter Schnelligkeit, dabei immer wieder umblickend, setzte Richard seinen Weg fort. Plötzlich war ihm unsäglich elend zumute, und dieses Gefühl des Unglücks steigerte sich noch, als er die Stadt wieder betrat.
Zwar grünte, blühte und duftete alles, doch sein Herz erfreute sich nicht mehr daran. Die Schlingpflanzen wucherten an Häusern empor, in denen einst ein fröhliches Familienleben geherrscht hatte. In den Straßen tummelten sich Mäuse und Ratten. Die altehrwürdige Kirche war zu einer Brutstätte von Schlangen und Fröschen geworden. Und aus dem Mann, der einst ein fleißiger Handwerker und Bürger dieser Stadt gewesen war, war ein barbarischer Wilder geworden, der es auf sein Leben abgesehen hatte.
Plötzlich entflossen dem sonst so unverzagten Richard Tränen des bittersten Jammers. Er fühlte sich unendlich verlassen und unglücklich.
»Ich möchte, dies alles wäre nur ein böser Traum«, schluchzte er, »und ich könnte daraus erwachen!«
Erstaunt blickte er um sich.
Das war ja sein altes Schlafzimmer! Er lag im Bett! Er hatte nur geträumt.
Doch plötzlich durchzuckte ihn dieselbe Empfindung wie im Traum und er schauderte zusammen.
»Über kurz oder lang hätte mich der Schuster doch ermordet«, flüsterte er. »Es ist schrecklich, wie schnell ein Mensch verwildern kann, wenn er nicht stark genug ist, um sich allein zu helfen.«
Richard verließ das Bett und schleppte sich zum Fenster.
Es war ein schöner Sommermorgen, die Straßen waren schon belebt, Handwerker und Geschäftsleute eilten zur Arbeit, die Nachbarn wünschten einander einen guten Morgen.
Dem Jungen floss plötzlich das Herz vor dankbarer Freude über.
»Gott sei gelobt, dass es nur ein Traum war«, flüsterte er noch einmal.