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Das Gespensterbuch – Neunte Geschichte

Das Gespensterbuch
Herausgegeben von Felix Schloemp
Mit einem Vorwort von Gustav Meyrink
München 1913

Edgar Allan Poe

Die Maske des Roten Todes

Lange schon wütete der Rote Tod im Land. Nie zuvor hatte eine Pest solche Verwüstungen angerichtet, nie zuvor hatte eine Krankheit einen derartigen Schrecken verbreitet. Blut war der Anfang, Blut das Ende – überall das Rot und der Schrecken des Blutes. Mit stechenden Schmerzen und Schwindelanfällen setzte es ein, dann quoll Blut aus allen Poren und die Auflösung begann. Die scharlachroten Tupfen am ganzen Körper der glücklichen Opfer – und besonders im Gesicht – waren das Bannsiegel des Roten Todes. Es schloss die Gezeichneten von der Hilfe und der Teilnahme ihrer Mitmenschen aus. Und alles, vom ersten Anfall bis zum tödlichen Ende, war das Werk einer halben Stunde.

Prinz Prospero aber war fröhlich, unerschrocken und weise. Als sein Land schon zur Hälfte entvölkert war, erwählte er sich unter den Rittern und Damen des Hofes eine Gesellschaft von tausend heiteren und leichtlebigen Kameraden. Mit ihnen zog er sich in die stille Abgeschiedenheit einer befestigten Abtei zurück. Es war ein ausgedehnter, prächtiger Bau, eine Schöpfung nach dem exzentrischen, aber vornehmen Geschmack des Prinzen. Das Ganze war von einer hohen, mächtigen Mauer umschlossen, die eiserne Tore hatte. Nachdem die Schar der Höflinge dort eingezogen war, brachten die Ritter Schmelzöfen und schwere Hämmer herbei und schmiedeten die Riegel der Tore fest. Es sollte weder für die draußen wütende Verzweiflung noch für ein etwaiges törichtes Verlangen der Eingeschlossenen eine Tür offen sein. Da die Abtei mit Proviant reichlich versehen war und alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden waren, glaubte die Gesellschaft, der Pestgefahr Trotz bieten zu können. Die Welt da draußen konnte für sich selbst sorgen! Jedenfalls schien es unsinnig, sich vorläufig bangen Gedanken hinzugeben. Auch hatte der Prinz für allerlei Zerstreuungen gesorgt. Es gab Gaukler und Komödianten, Musikanten und Tänzer, Schönheit und Wein. All dies und das Gefühl der Sicherheit befanden sich in der Burg, während draußen der Rote Tod wütete.

Im fünften oder sechsten Monat fröhlicher Zurückgezogenheit versammelte Prinz Prospero, während draußen die Pest noch mit ungebrochener Gewalt wütete, seine tausend Freunde zu einem Maskenball mit unerhörter Pracht. Reichtum und zügellose Lust herrschten auf dem Fest. Doch zunächst möchte ich die Räumlichkeiten schildern, in denen das Fest abgehalten wurde.

Es waren sieben wahrhaft königliche Gemächer. Im Allgemeinen bilden solche Festräume in Palästen eine lange Zimmerflucht, da die Flügeltüren nach beiden Seiten bis an die Wand zurückgeschoben werden können und somit einen weiten Durchblick gewähren. Dies war hier jedoch nicht der Fall. Die Vorliebe des Prinzen für alles Absonderliche hatte die Gemächer vielmehr so zusammengegliedert, dass man von jedem Standort aus immer nur einen Saal überschauen konnte. Nach Durchquerung jedes Einzelraumes gelangte man an eine Biegung und jedes Mal bot sich ein neues Bild. In der Mitte jeder Seitenwand befand sich ein hohes, schmales gotisches Fenster, hinter dem eine schmale Galerie den Windungen der Zimmerreihe folgte. Diese Fenster hatten Scheiben aus Glasmosaik, dessen Farbe immer mit dem vorherrschenden Farbton des betreffenden Raumes übereinstimmte. Das am Ostende gelegene Zimmer war beispielsweise in Blau gehalten und seine Fenster waren leuchtend blau. Das folgende Gemach war in Wandbekleidung und Ausstattung purpurn, und auch seine Fenster waren purpurn. Das dritte Zimmer war ganz in Grün gehalten und hatte dementsprechend grüne Fensterscheiben. Das vierte Zimmer war orangefarben eingerichtet und hatte orangefarbene Beleuchtung. Das fünfte Zimmer war weiß, das sechste violett. Die Wände des siebten Zimmers waren hingegen dicht mit schwarzem Samt bezogen, der sich auch über die Deckenwölbung spannte und in schweren Falten auf einen Teppich aus dem gleichen Stoff niederfiel. Und nur in diesem Raum glich die Farbe der Fenster nicht derjenigen der Dekoration: Hier waren die Scheiben scharlachrot – wie Blut.

Alle Gemächer waren reich mit goldenen Ziergegenständen ausgestattet, die an den Wänden standen oder von der Decke hingen. Kein einziges besaß jedoch einen Kandelaber oder Kronleuchter. In der gesamten Zimmerreihe gab es weder Lampen- noch Kerzenlicht. Stattdessen war auf der an die Zimmer angrenzenden Galerie vor jedem Fenster ein schwerer Dreifuß aufgestellt, der ein kupfernes Feuerbecken trug. Dessen Flamme warf ihren Schein durch das farbige Fenster herein und erhellte so den Raum. Hierdurch wurden die fantastischsten Wirkungen erzielt. Im westlichsten oder schwarzen Gemach aber war der Glanz der Flammenglut, der durch die blutroten Scheiben in die schwarzen Samtfalten fiel, so gespenstisch, dass er den Gesichtern der hier Eintretenden ein erschreckendes Aussehen verlieh. Nur wenige aus der Gesellschaft waren kühn genug, den Fuß über die Schwelle zu setzen.

In diesem Gemach befand sich an der Westwand auch eine hohe Standuhr in einem riesenhaften Kasten aus Ebenholz. Ihr Pendel schwang mit dumpfen, wuchtigen, eintönigen Schlägen hin und her. Wenn der Minutenzeiger seinen Kreislauf über das Zifferblatt beendet hatte und die Stunde schlug, kam aus den ehernen Lungen der Uhr ein voller, tiefer, sonorer Ton. Sein Klang war so sonderbar ernst und so feierlich, dass bei jedem Stundenschlag die Musiker des Orchesters, von einer unerklärlichen Gewalt gezwungen, ihr Spiel unterbrachen, um diesem Ton zu lauschen. So musste der Tanz plötzlich aussetzen und eine kurze Missstimmung befiel die heitere Gesellschaft. Solange die Schläge der Uhr ertönten, sah man selbst die Fröhlichsten erbleichen und die Älteren und Besonneneren strichen sich mit der Hand über die Stirn, als wollten sie wirre Traumbilder oder unliebsame Gedanken verscheuchen. War der letzte Nachhall verklungen, durchlief ein lustiges Lachen die Versammlung. Die Musikanten blickten einander an, schämten sich lächelnd ihrer Empfindsamkeit und Torheit und vereinbarten flüsternd, dass der nächste Stundenschlag sie nicht wieder derart aus der Fassung bringen solle. Doch als nach wiederum sechzig Minuten (dreitausendsechshundert Sekunden der flüchtigen Zeit) die Uhr erneut anschlug, trat dasselbe allgemeine Unbehagen ein, dasselbe Bangen und Sinnen wie vordem.

Doch wenn man davon absah, war es eine prächtige Lustbarkeit. Der Prinz hatte einen eigenartigen Geschmack bewiesen. Er hatte ein feines Empfinden für Farbenwirkungen. Alles Herkömmliche und Modische war ihm zuwider; er hatte seine eigenen kühnen Ideen und seine Fantasie liebte seltsame, glühende Bilder. Es gab Leute, die ihn für wahnsinnig hielten. Sein Gefolge aber wusste, dass dem nicht so war. Doch man musste ihn sehen und kennen, um dessen gewiss zu sein.

Die Einrichtung und Ausschmückung der sieben Gemächer war eigens für dieses Fest fast vollständig nach den eigenen Angaben des Prinzen gemacht worden, und sein eigener merkwürdiger Geschmack hatte auch den Charakter der Maskerade bestimmt. Gewiss, sie war grotesk genug. Es gab viel Prunk und Glitzer, viel Phantastisches und Pikantes. Es gab Masken mit seltsam verrenkten Gliedmaßen, die Arabesken darstellen sollten, und andere, die nur mit den Hirngespinsten eines Wahnsinnigen zu vergleichen waren. Es gab viel Schönes und viel Üppiges, viel Übermütiges und viel Groteskes und auch manch Schauriges, aber nichts, was irgendwie widerwärtig gewirkt hätte. Tatsächlich schien es, als wogten in den sieben Gemächern unzählige Träume durcheinander. Diese Träume wanden sich durch die Säle, deren jeder sie mit seinem besonderen Licht umspielte. Die tollen Klänge des Orchesters schienen wie ein Echo ihres Schreitens.

Von Zeit zu Zeit aber riefen die Stunden der schwarzen Riesenuhr im Samtsaal und für einen kurzen Moment herrschte eisiges Schweigen, nur die Stimme der Uhr erdröhnte. Die Träume erstarrten. Doch das Geläut verhallte und einem leichten, halb unterdrückten Lachen folgte sein Verstummen. Die Musik rauschte wieder auf, die Träume belebten sich von neuem und wogten noch fröhlicher hin und her, farbig beglänzt durch das Strahlenlicht der Flammenbecken, das durch die vielen bunten Scheiben strömte. Aber in das westliche der sieben Gemächer wagte sich jetzt niemand mehr hinein, denn die Nacht war schon weit vorgeschritten. Greller noch floss das Licht durch die blutroten Scheiben und überflammte die Schwärze der düsteren Draperien. Wer hier auf den dunklen Teppich trat, dem dröhnte das dumpfe, schwere Atmen der nahen Riesenuhr warnend und schauerlich ins Ohr, viel mehr noch als allen jenen, die sich in der Fröhlichkeit der anderen Gemächer tummelten.

Diese anderen Räume waren überfüllt, und in ihnen schlug das Herz des Lebens fieberheiß. Der Trubel rauschte lärmend weiter, bis endlich die ferne Uhr den Zwölfschlag der Mitternacht erschallen ließ. Die Musik verstummte, der Tanz wurde jäh unterbrochen und es trat ein plötzlicher, unheimlicher Stillstand ein, wie früher. Doch diesmal musste der Schlag der Uhr zwölfmal ertönen. Daher kamen den Nachdenklichen in diesem Kreis noch trübere Gedanken und ihre Versonnenheit dauerte noch länger an. Und daher kam es wohl auch, dass, bevor der letzte Nachhall des letzten Stundenschlages erstorben war, manch einer Muße genug fand, eine Maske zu bemerken, die bisher noch niemandem aufgefallen war. Das Gerücht von dieser neuen Erscheinung sprach sich flüsternd herum und es erhob sich in der ganzen Versammlung ein Summen und Murren des Unwillens und der Entrüstung, das schließlich in Lauten des Schreckens, des Entsetzens und des höchsten Abscheus gipfelte.

Man kann sich denken, dass es keine gewöhnliche Erscheinung war, die den Unwillen einer so toleranten Gesellschaft erregen konnte. Zwar hatte man in dieser Nacht der Maskenfreiheit sehr weite Grenzen gezogen, doch die fragliche Gestalt war in der Tat zu weit gegangen – über des Prinzen weitgehende Duldsamkeit hinaus. Auch in den Herzen der Übermütigsten gibt es Saiten, die nicht berührt werden dürfen, und selbst für die Verstocktesten, für die Leben und Tod nur ein Spiel sind, gibt es Dinge, mit denen sie keinen Scherz treiben lassen. Einmütig schien die Gesellschaft zu empfinden, dass in Tracht und Benehmen der befremdlichen Gestalt weder Witz noch Anstand zu finden waren. Lang und hager war die Erscheinung, von Kopf bis Fuß in Leichentücher gehüllt. Die Maske, die das Gesicht verbarg, war dem Antlitz eines Toten täuschend ähnlich. All dies hätten die tollen Gäste des tollen Gastgebers, wenn es ihnen auch nicht gefiel, noch hinnehmen lassen. Aber der Verwegene war so weit gegangen, die Gestalt des „Roten Todes” darzustellen. Sein Gewand war mit Blut besudelt und seine breite Stirn, ja sein ganzes Gesicht, war mit dem scharlachroten Todessiegel gefleckt.

Als die Blicke des Prinzen Prospero diese Gespenstergestalt entdeckten, die sich langsam und feierlich durch die Reihen der Tanzenden bewegte, um ihre Rolle noch wirkungsvoller zu spielen, sah man, wie er im ersten Augenblick von einem Schauer des Entsetzens oder des Widerwillens geschüttelt wurde. Im nächsten Moment aber rötete sich seine Stirn im Zorn.

»Wer wagt es«, fragte er mit heiserer Stimme die Höflinge an seiner Seite, »wer wagt es, uns durch solch gotteslästerlichen Hohn zu empören? Ergreift und demaskiert ihn, damit wir wissen, wer es ist, der bei Sonnenaufgang an den Zinnen des Schlosses aufgeknüpft werden wird!«

Es war im östlichen, dem blauen Zimmer, in dem Prinz Prospero diese Worte rief. Sie hallten laut und deutlich durch alle sieben Gemächer, denn der Prinz war ein kräftiger und kühner Mann und hatte mit einer Bewegung seiner Hand die Musik zum Schweigen gebracht.

Das blaue Zimmer war es, in dem der Prinz stand, umgeben von einer Gruppe bleicher Höflinge. Sein Befehl brachte Bewegung in die Schar der Höflinge, als wolle man den Eindringling angreifen, der sich gerade in diesem Moment ganz in der Nähe befand und mit würdevoll gemessenem Schritt dem Sprecher nähertrat. Doch das namenlose Grauen, das die wahnwitzige Vermessenheit des Vermummten allen eingeflößt hatte, war so stark, dass niemand die Hand ausstreckte, um ihn aufzuhalten. Ungehindert kam er bis dicht an den Prinzen heran – und während die zahlreiche Versammlung zu Tode entsetzt zur Seite wich und sich in allen Gemächern bis an die Wand zurückdrängte, ging er unangefochten seines Weges, mit den gleichen feierlichen und gemessenen Schritten wie zu Beginn. Er schritt vom blauen Zimmer in das purpurrote, dann in das grüne, dann in das orangefarbene und schließlich in das weiße Zimmer. Erst dann wurde eine entscheidende Bewegung gemacht, um ihn aufzuhalten. Dann aber war es Prinz Prospero, der, von rasendem Zorn und Scham über seine eigene unbegreifliche Feigheit erfüllt, die sechs Zimmer durchlief – er allein, denn von den anderen vermochte infolge des tödlichen Schreckens kein einziger ihm zu folgen. Mit dem Dolch in der erhobenen Hand war er der weiterschreitenden Gestalt in wildem Ungestüm bis auf drei oder vier Schritte nahegekommen, als diese sich plötzlich zurückwandte und ihm gegenüberstand. Man hörte einen durchdringenden Schrei, der Dolch fiel blitzend auf den schwarzen Teppich und im nächsten Augenblick sank auch Prinz Prospero im Todeskampf zu Boden.

Nun stürzten einige der Gäste mit dem Mut der Verzweiflung in das schwarze Gemach und ergriffen den Vermummten, dessen hohe Gestalt aufrecht und regungslos im Schatten der schwarzen Uhr stand. Doch unbeschreiblich war das Grauen, das sie befiel, als sie in den Leichentüchern und hinter der Leichenmaske, die sie mit rauem Griff packten, nichts Greifbares fanden – sie waren leer.

Und nun erkannte man die Gegenwart des Roten Todes. Er war gekommen wie ein Dieb in der Nacht. Einer nach dem anderen sanken die Festgenossen in den blutgetränkten Hallen zu Boden und starben – ein jeder in der verzerrten Lage, in der er verzweifelt niedergefallen war. Das Leben in der Ebenholzuhr erlosch mit dem Leben des Letzten der Fröhlichen. Die Gluten in den Kupferpfannen verglommen. Und der Rote Tod herrschte unbeschränkt über alles mit Finsternis und Verwesung.

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