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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 9 – 1. Kapitel

Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 9
Die Lady mit dem Kanarien-Brillant
1. Kapitel
Ein geheimnisvoller Straßenraub

500 Pfund Sterling bietet Lord Canbury als Belohnung demjenigen, der den Dieb des berühmten Kanarien-Brillanten namhaft macht oder solche Nach­weise erbringt, dass man des Täters habhaft werden kann.

Am 7. des Monats zwischen 9 und 10 Uhr abends wurde der Kanarien-Brillant, der sich auf einer goldenen Brosche befand, der Lady Diana Canbury, der Gemahlin des Lords, geraubt, in dem Augenblick, als sie in ihrer Equipage zum Ball des Herzogs von Connaught fuhr.

Der Wagen passierte um diese Zeit, vom Palais Lord Canburys in der Piccadilly kommend, die Regent Street und befand sich an der Ecke dieser und der Oxford Street, als plötzlich, begünstigt von der in dieser Nacht herrschenden Dunkelheit und der nebligen Witterung, der Wagenschlag geöffnet wurde und ein Mann, in einen Mantel gehüllt, auf dem Kopf einen großen Schlapphut, blitzschnell zu der Lady in den Wagen hineinsprang.

Mit der einen Hand der zu Tode erschreckten Lady einen Revolver vorhaltend, griff der Räuber mit der anderen nach der Brosche mit dem Kanarien-Brillanten, welche an der Brust der Lady prangte. Er riss die Brosche so ungestüm vom Kleid, dass der Stoff an dieser Stelle zerrissen wurde und sprang dann wieder aus dem Wagen hinaus.

Der Überfall wurde so schnell und gewandt aus­geführt, dass der Kutscher und der Diener, die sich auf dem Bock des Wagens befanden, nichts von dem merkten, was im Inneren des Gefährtes vorging.

Die Lady aber fand man bewusstlos, als der Wagen auf der Rampe des Palais Connaught vorfuhr und der Portier den Wagenschlag öffnete.

500 Pfund Sterling Belohnung für die Er­greifung des Täters.

1000 Pfund Sterling für die Herbeischaffung des kostbaren Schmuckstückes.

Ein Riesenplakat aus schwarzen Lettern auf rotem Grund machte diese verlockende Versprechung den Be­wohnern von London bekannt und prangte an allen Ecken der Weltstadt während des ganzen 6. Februars und der darauffolgenden Tage.

Dichte Menschenhaufen umstanden natürlich die Zet­tel und wurden nicht müde, über den Fall zu reden, den man übrigens aus den Zeitungen bereits zur Genüge ken­nengelernt hatte.

Es handelte sich hier nicht nur darum, dass ein frecher Raub mitten im elegantesten Viertel von London aus­geführt worden war, nicht nur darum, dass das Ver­brechen an einer hochstehenden, in der Gesellschaft wohl­bekannten Persönlichkeit verübt worden, sondern auch der geraubte Gegenstand selbst erregte das höchste Interesse. Um seinetwillen geriet ganz London in fieberhafte Auf­regung und wünschte nichts sehnlicher, als dass der Räuber so bald als möglich verhaftet werden möge.

Der Kanarien-Brillant der Lady Canbury gehörte nämlich zu den bekanntesten Edelsteinen der Erde.

Und wie die Engländer stolz sind auf ihre Flotte, auf den Riesenumfang Londons, auf ihren Geschäfts­betrieb in der City und auf ihre Fußballspieler, die in der Welt nicht ihresgleichen haben, so gehörte auch der Kanarien-Brillant zu den Gegenständen, welche gewisser­maßen als Nationaleigentum betrachtet wurden, und für die jeder Engländer eine gewisse Ehrfurcht hegt.

Kanarien-Brillanten sind im Großen und Ganzen im Diamantenhandel nicht sehr angesehen. Der feine, gelb­liche Glanz mindert sogar den Wert des Steines herab, denn ein Brillant soll ein weißes oder bläuliches Licht erschimmern lassen.

Aber unter dem Kanarien-Brillanten wurde einer der seltensten Edelsteine verstanden, die in den letzten dreißig Jahren gefunden worden sind.

Es war ein Stein von der Größe einer welschen Nuss. Er hatte nicht jenen fahlen, gelben Schimmer, um dessentwillen die Diamantenhändler und Juweliere einen Brillanten gewöhnlich als eine Kanarie bezeich­nen, sondern dieser Stein erglühte in einem zitronen­gelben Schein, dessen Feuer ein so großes und gewaltiges war, dass es das aller anderen Edelsteine überstrahlte.

Hierzu kam noch, dass der Kanarien-Brillant einen wirklich künstlerischen und großartigen Schliff erhalten und durch denselben fast kein Karat eingebüßt hatte. Schließlich trug zur Popularität dieses Steines in Eng­land auch der Umstand bei, dass der Kanarien-Brillant in den Minen von Kimberley gefunden wurde, und dass er sich im Besitz einer der höchsten und angesehensten ari­stokratischen Familien Englands befand.

Man sah es also als ein Nationalunglück an, dass der Kanarien-Brillant verloren gegangen war, dass dieser Stein, der sich bisher in so guten und feinen Händen befunden hatte, plötzlich in die Hände eines Räu­bers, eines Wegelagerers gefallen sei.

Im Haus Lord Percy Canburys herrschte natürlich die größte Bestürzung.

Ganz besonders war der Lord wie vor den Kopf geschlagen, denn er behauptete, dass der ungeheure Vermögensverlust, der mit dem des Brillanten verbunden sei, ihn nicht so sehr ergreife, als der Umstand, dass dieser Kanarien-Brillant sich von dem ersten Augenblick an, da er gefunden worden war, in seiner Familie befunden hätte, und dass der Edelstein ihm und seinen Eltern Glück gebracht hätte.

Noch mehr als ihr Gemahl schien Lady Diana Canbury unter dem Vorfälle zu leiden.

Bei ihr kam noch hinzu, dass der Schreck, den der freche Raub ihr eingeflößt hatte, immer noch in ihr nachzitterte.

Nun, am 10. des Monats, also drei Tage nach ihrem Abenteuer an der Ecke der Regent und Oxford Street, hatte Diana zum ersten Mal wieder das Bett ver­lassen können. Bleich und niedergeschlagen lag die wunderschöne, junge Frau, die kaum das zwanzigste Jahr überschritten hatte, in ihrem Boudoir in einem Schaukel­stuhl ausgestreckt und hielt die Augen halb geschlossen, als könnte sie nicht in die Sonne sehen, als wäre sie so müde, dass sie am liebsten schlafen und gar nicht mehr erwachen wollte.

»Mylady«, rief eine Stimme von der Tür her, »ich bitte um Verzeihung, wenn ich gegen Ihren Befehl einzutreten wage, aber Lord Canbury wünscht Ihnen mit einem Herrn seine Aufwartung zu machen.«

»Mein Gatte?« Die junge Lady zuckte leicht zu­sammen, und über ihr Antlitz flog ein Schatten; dann rief sie: »Nancy, sagen Sie meinem Gatten, dass es mir ein Vergnügen sein wird, ihn zu empfangen.«

Eine halbe Minute später wurde die Tür geöffnet, und Lord Canbury trat mit einem Herrn ein, dessen lange hagere Figur in einen Salonanzug gehüllt war.

Lord Canbury mochte sieben oder acht Jahre älter sein als seine Gemahlin. Er war eine echt aristokratische Erscheinung, ein wenig schmalbrüstig, aber sehr elegant gebaut, mit hübschem, ausdrucksvollem Gesicht, auf dessen Oberlippe ein nach englischer Sitte kurz gehaltener, blon­der Schnurrbart saß.

Während der Herr im Salonrock ein wenig zurückblieb und die Zeit benutzte, um mit neugierigen Blicken die Einrichtung dieses Zimmers zu mustern, eilte der Lord auf seine Gemahlin zu, ergriff ihre Hand und führte sie galant an seine Lippen.

»Ich hoffe, meine teure Diana, dass du dich heute etwas wohler befindest. Doktor Oven versicherte mir, dass der Fieberanfall, der dich heimgesucht hat, glücklich vorübergegangen ist, und meint, dass dir nun Ruhe, ab­solute Ruhe wohltun würde.«

»Doktor Oven hat recht«, sagte Diana mit leiser, lieblich klingender Stimme, »und deshalb hättest du besser getan, mein teurer Percy, allein zu mir zu kommen. Wer ist dieser Fremde? Ich kenne ihn nicht, ich habe ihn niemals gesehen und befinde mich jetzt gewiss nicht in der Stimmung, irgendwelche Bekanntschaften machen zu wollen. Schicke ihn fort, Percy, mich peinigt der An­blick eines fremden Mannes.«

Aber Lord Canbury schien nicht willens, der unter den obwaltenden Umständen berechtigten Nervosität seiner Gemahlin Rechnung zu tragen. Er beugte sich über sie herab und flüsterte ihr in das Ohr: »Dieser Mann ist der einzige, der vielleicht imstande ist, uns unseren geraubten Kanarien-Brillanten wieder zu verschaffen; denn er ist – Sherlock Holmes, der berühmte Detektiv.«

Kaum hatten diese Worte das Ohr der Lady er­reicht, als ihre Augen sich weit öffneten. Es war nicht klar zu unterscheiden, ob der Ausdruck, der diese schönen, veilchenblauen Augen erfüllte, der des Schreckens war oder freudigen Erstaunens.

»Sherlock Holmes – dieser Herr ist Sherlock Homes?«, rief die Lady und richtete sich langsam aus dem Schaukelstuhl empor. »O, verzeihen Sie, mein Herr, dass ich so unartig war, Sie bisher nicht zu begrüßen. Ich freue mich außerordentlich, Ihre Bekanntschaft zu machen und hätte nur gewünscht, dass die Veranlassung für die­selbe eine angenehmere gewesen wäre.«

»Es ist nun einmal mein Beruf, Mylady«, antwor­tete Sherlock Holmes, indem er die schmale weiße Hand, die sich ihm entgegenstreckte, mit einer gewissen Ehr­erbietung ergriff, »immer dort zu erscheinen, wo etwas fehlt, etwas nicht klappt – und wo die Menschen sich gewöhnlich in Bestürzung und in Trauer befinden.

Im Übrigen freut es mich von Herzen, dass es sich hier nur um eine Bagatelle handelt.«

»Wie, mein Herr, Sie nennen den Kanarien-Brillanten eine Bagatelle?«, rief Lord Canbury überrascht, »wissen Sie auch, dass dieser seltene Brillant einen Wert von zwanzigtausend Pfund Sterling1 hatte? Denn so hoch wurde der Stein von Kennern bewertet.«

»Ich glaube«, gab Sherlock Holmes zur Antwort, indem er die Lady fest anschaute, »dass das Leben Ihrer reizenden jungen Gemahlin für Sie einen unschätzbaren Wert besitzt, wenn Sie bedeuten, Mylord, dass das Le­ben der Lady in der allergrößten Gefahr schwebte, dass der Räuber, der in so unglaublich frecher Weise mitten in einer überaus belebten Gegend zu Ihrer Gattin in den Wagen sprang, vielleicht auch noch die Lust zu anderem hätte verspüren können, dann – sind Sie entschieden sehr billig davongekommen.«

»Ich danke Ihnen für diese Auffassung, Mr. Sher­lock Holmes«, erwiderte die Lady, indem sie dem De­tektiv noch einmal die Hand drückte, »ja, Sie haben recht, mein Leben und meine Ehre schwebten in der höchsten Gefahr, und noch jetzt, wenn ich daran denke – o mein Gott, es war zu schrecklich.«

Ein Zittern überlief den Körper der schönen, jungen Frau. Hastig wandte sie sich ab und schwankte wieder zu dem Schaukelstuhl zurück, auf den sie sich leise wei­nend niederließ.

»Schonen Sie die Nerven meiner Gattin«, bat der Lord, »Sie sehen, die Lady ist noch auf das Tiefste er­regt.«

»Ganz recht«, antwortete Sherlock Holmes, »aber, Sie können zu einem Arzt, der nur durch eine Operation eine gefährliche Krankheit bannen kann, nicht sagen: Schneiden Sie nicht, Doktor. Geschnitten muss unbedingt werden, und es ist nur die Geschicklichkeit des Doktors, die Messer nicht zu zeigen.«

Dann ließ sich Sherlock Holmes auf einem Sessel gegenüber dem Schaukelstuhl nieder, während der Lord an die Seite seiner Gemahlin trat.

»Wollen Sie die Güte haben, mir einige Fragen zu beantworten?«, nahm Sherlock Holmes das Wort. »Sie können sich wohl denken, Mylady, dass ich nicht zum Ziel gelangen kann, solange ich bezüglich des Ver­brechens im Dunkeln tappe. Licht aber können eigentlich nur Sie darüber verbreiten, denn Sie sind die einzige Zeugin des ganzen Vorfalls.«

»Fragen Sie nur«, hauchte die schöne, blonde, junge Frau, »soweit ich mich erinnern kann, werde ich Ihnen gewiss gerne antworten.«

»Haben Sie, bevor Sie sich zum Ball beim Herzog von Connaught ankleiden ließen, irgendeiner Person gegenüber die Absicht ausgesprochen, sich an diesem Abend mit dem Kanarien-Brillanten zu schmücken?«, fragte Sherlock Holmes.

»Niemand wusste darum ein Sterbenswort«, ant­wortete die junge Lady mit einer gewissen Feierlichkeit. »Mir selbst fiel es – unglücklicherweise, gewissermaßen – erst im letzten Moment ein, dass zu meiner Toilette der Kanarien-Brillant vorzüglich passen würde. Ich ließ daher Lord Percy zu mir bitten und bat meinen Gatten, mir den Brillanten zu geben.«

»Sie hielten also das Schmuckstück nicht unter eigenem Verschluss?«

»Gewiss nicht – alle Familienbrillanten, welche wir besitzen, befinden sich in einem eigens hierzu erbauten Schrank.«

»Ich werde Ihnen denselben nachher zeigen, Mr. Sherlock Holmes«, sagte der Lord. »Schon mein Vater hat dieses Behältnis in die Mauer seines Schlafzimmers einbauen lassen, und, wie er ganz allein die Schlüssel zu diesem Schrank führte, so verfüge auch nur ich über dieselben. Als meine Gemahlin mich an jenem verhängnis­vollen Abend bat, ihr den Kanarien-Brillanten herauszugeben, kam ich natürlich sofort ihrem Wunsch nach, und ich selbst war ihr behilflich, den Diamanten an der Taille ihres Kleides zu befestigen.«

»Wurde die Brosche, die den Kanarien-Brillanten trug, nur durch eine gewöhnliche Nadel gehalten oder hatte sie eine Sicherheitskette?«

‘»Sie hatte eine Sicherheitskette«, gab die Lady zur Antwort. »Derartige Schmuckgegenstände verankert man möglichst fest. Aber was wollen Sie tun, Mr. Sherlock Holmes, wenn auf so brutale Art Gewalt gebraucht wird, der man völlig ahnungs- und wehrlos gegenübersteht?«

»Haben Sie die Güte und erzählen Sie jetzt weiter«, bat der Detektiv. »War Ihre Zofe dabei, als Sie das Schmuckstück anlegten?«

»Nein, Nancy befand sich nicht im Zimmer. Sie hörten soeben, Mr. Sherlock Holmes, dass mein Mann selbst mir den Brillanten ansteckte. Er war mir auch behilflich, meinen Abendmantel anzulegen, und daher kann ich wohl behaupten, dass nicht einmal Nancy, meine Zofe, wusste, dass ich an diesem Abend den kostbaren Brillant­schmuck trüge.«

»Eine sehr wichtige Frage: Warum fuhren Sie allein in der Equipage zum Ball des Herzogs von Connaught? Warum ließen Sie sich nicht von Mylord begleiten?«

Ein wehmütiges Lächeln umspielte die Lippen der Lady. »Sehen Sie, Mr. Sherlock Holmes, das ist die Eitelkeit der Frauen, die so viel Böses in der Welt hervorbringt. Zu Bällen oder großen Gesellschaften pflegen wir gewöhnlich nicht gemeinsam zu fahren, aus dem einfachen Grund, weil die Toilette so nicht zerdrückt wird. Auch hatte Percy an diesem Abend einen wichtigen Brief zu schreiben und bat mich daher, vorauszufahren. Er wollte mir aber in spätestens zehn Minuten folgen, was auch geschah.«

»Sind der Kutscher und der Diener zuverlässig, welche Ihren Wagen begleiteten, Mylady?«

»Sie sind beide über jeden Zweifel erhaben«, gab an Stelle seiner Gattin der Lord zur Antwort. Beide Leute waren schon unter meinem Vater bedienstet, beziehen ein sehr anständiges Salär und würden sich natürlich hüten, sich in ein derartiges Abenteuer einzulassen. Für ihren Charakter könnte ich volle Bürgschaft übernehmen.«

»Ist es aber nicht ein wenig unglaublich, dass Kutscher und Diener auf dem Bock nichts gehört haben sollen? Bedenken Sie, der Kutschschlag wird aufgerissen, im Wagen spielt sich ein ganzes Drama ab – und Kutscher und Diener hören keinen Laut.«

»Sie haben ganz gewiss nichts gehört«, erwiderte die Lady, »denn alles ging ja so schnell und vollzog sich auch ganz lautlos. Sie kennen vielleicht die Stelle, Mr. Sherlock Holmes, an welcher die Regent Street in die Oxford Street mündet?«

»Ich kenne sie«, gab Sherlock Holmes zur Antwort, »die Passage ist ziemlich eng, sodass höchstens zwei Wagen dort nebeneinander fahren können.«

»Ganz recht. Meine Equipage war genötigt, dem Trottoir außerordentlich nahe zu kommen. Die Nacht war finster und neblig, man sah kaum das Licht der Wagenlaternen und das auch nur wie durch einen dichten, dunklen Schleier.

Ich lehnte in den Polstern meiner Equipage und dachte an – nun woran denkt eine junge Frau, wenn sie einem Ball entgegenfährt? Vielleicht träumte ich von den Triumphen, die mir auf dem Ball des Herzogs von Connaught beschieden sein würden, vielleicht dachte ich auch gerade an meinen Percy – da plötzlich wird auf der linken Seite in der Fahrtrichtung der Kutschschlag blitzschnell geöffnet. Bevor ich noch darüber nachdenken kann, weshalb dies geschieht, lässt sich ein Mann neben mir nieder. Im nächsten Moment sehe ich einen Revolver vor mir aufblitzen, und eine Stimme flüstert mir die Worte zu: ›Einen einzigen Laut, Mylady, einen Schrei oder eine Bewegung – und Sie sind des Todes.‹

Natürlich war ich vor Schreck wie gelähmt und, wenn ich auch wirklich hätte wollen, hätte ich gar keinen Schrei ausstoßen können, der Laut wäre auf meinen Lippen erstorben. Da fühle ich, wie die Hand des Räubers nach meiner Brust greift, ich werfe mich entsetzt zurück, denn ich fürchte etwas Entsetzliches, und ich empfinde es beinahe als eine Erlösung, eine Wohltat, als ich in der nächsten Sekunde merke, dass es diesem Mann nur darauf angekommen sei, mir den Kanarien-Brillanten von der Brust zu reißen. Das war ihm in weniger als zwei Sekunden geglückt. Wohl leistete der Stoff meiner Taille Widerstand, wohl tat die Sicherheitskette ihre Pflicht, aber die Be­wegung, mit welcher der Räuber an der Brosche zerrte, war eine so ungestüme, so kraftvolle, dass ein großes Stück der Taille mit der Brosche abgerissen wurde und der Bandit das Kleinod sofort frei in der Hand hielt. Dann stieß er hinter sich mit dem Fuß den Wagen­schlag auf, stieg, immer noch den Revolver auf mich rich­tend, hinaus und drückte den Schlag von außen in das Schloss.

Ich hörte nichts mehr, ich sah nichts mehr. Meine Sinne umnachteten sich. Ich erwachte erst im Palais des Herzogs von Connaught, wo meine Freunde mich mit entsetzten Gesichtern umstanden und wo mein Percy sich über mich neigte, um mich mit zitternder Stimme zu fragen, was geschehen sei.«

»Ich danke Ihnen für diese anschauliche Erzählung des Verbrechens«, antwortete Sherlock Holmes, indem er seine großen, dunklen Augen fest auf dem Gesicht der Lady ruhen ließ. »So ist es wohl möglich, dass Kutscher und Diener nichts gehört haben. Aber dürfte ich Sie nun vor allen Dingen bitten, mir die Taille zu zeigen, die Sie an jenem Abend getragen haben?«

»Mit Vergnügen, Mr. Sherlock Holmes, Nancy soll Ihnen sogleich die Taille bringen. Percy habe doch die Güte und drücke auf die elektrische Glocke, damit die Zofe kommt.«

»Ich bitte, tun Sie es nicht«, rief Sherlock Holmes dem Lord hastig zu, »ich lege Gewicht darauf, dass niemand in diesem Haus meine Anwesenheit vermutet. Zofen aber sind scharfblickend, und ich bitte Sie daher, sich der kleinen Mühe zu unterziehen, Mylord, und mir aus dem Toilettezimmer Ihrer Gemahlin die Taille selbst zu holen.«

»Wahrhaftig, ich habe noch niemals das Toilettezimmer meiner Frau betreten«, entgegnete der Lord mit einem Lächeln, »aber wir befinden uns einem so außerordentlichen Fall gegen­über, dass ein Lord Canbury auch einmal Zofendienste verrichten kann. Nicht wahr, meine Liebe, durch diese Tapetentür da geht es in das Toilettezimmer?«

»Da gelangst du zuerst in einen kleinen Raum, in welchem ich mich gewöhnlich frisieren lasse«, antwortete die Lady, »aber hinter diesem liegt das Toilettezimmer. Du wirst die Taille ohne Mühe finden, teurer Freund, denn ich habe Nancy befohlen, die ganze Toilette, die ich an jenem Abend getragen habe, nicht beiseite zu räumen. Sie liegt wahrscheinlich auf einem der Tisch im Toilettezimmer.«

Der Lord entfernte sich, und kaum hatte die Tür sich hinter ihm geschlossen, als Sherlock Holmes sich laut­los von seinem Sessel erhob, sich tief auf die im Schaukelstuhl lehnende Lady herabbeugte und ihr die Worte zuflüsterte: »Erschrecken Sie nicht, Mylady. Der Räuber des Kanarien-Brillanten ist gefunden. Er steht vor Ihnen. Ich war der Mann im Mantel mit dem Schlapphut, der zu Ihnen an der Ecke der Regent Street und Oxford Street in den Wagen sprang. Ich habe Ihnen Ihr Kleinod entrissen.«

Die Lady fuhr mit einem leichten Schrei empor. Aus weit geöffneten Augen starrte sie Sherlock Holmes an, mit einem Blick, der ihm nur zu deutlich sagte, was auch ihre Lippen hervorstießen: »Sie sind wahnsinnig, Mensch, oder Sie sind nicht wirklich Sherlock Holmes, der Detektiv.«

»Ich bin Sherlock Holmes«, lautete hierauf die Ant­wort des Mannes mit dem bartlosen, scharfgeschnittenen Gesicht und den durchdringenden grauen Augen, »und ich wiederhole Ihnen noch einmal: Ich bin der Räuber Ihres Kanarien-Brillanten.«

Doch können Sie wohl entnehmen, Mylady, dass ich mich wahrlich nicht bereichern wollte«, fuhr Sherlock Holmes fort, während er blitzschnell einen Blick nach der Tür warf und sein Haupt ein wenig zur Seite neigte, um zur rechten Zeit die Schritte des zurückkehrenden Lords zu hören. »Ich wollte Sie nicht wirklich berauben, ich wollte Sie retten.«

»Sie mich retten?«

»Ja, still, der Lord weiß alles. Er wusste, dass Ihnen an jenem Abend, als Sie den Wagen bestiegen, ein Liebesbrief von Fred Archer zugesteckt worden war.«

»Barmherziger Gott, Mr. Sherlock Holmes, ich werde wahnsinnig vor Entsetzen!«

»Still, beherrschen Sie sich – die Gefahr ist vor­über. Der Lord folgte Ihnen in einem zweiten Wagen auf dem Fuße, er wollte Sie einholen und hätte in dem Augenblick, in welchem Sie das Palais des Herzogs von Connaught betraten, Ihnen durch einen Griff in den Busen den Liebesbrief abgenommen.«

Die Lady schwankte, sie musste sich an der Lehne des Schaukelstuhles halten, um nicht umzusinken, so völlig hatte sie das eben Gehörte niedergeschmettert.

»Da war keine Zeit zu verlieren. Da ich um die Gefahr wusste, in der Sie schwebten, sprang ich in Ihren Wagen hinein und entriss Ihnen mit dem Kanarien-Brillanten zugleich den Liebesbrief; denn leider blieb bei meinem Versuch, den Brief aus Ihrem Busen zu ziehen, der Kanarien-Brillant in meiner Hand.«

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  1. Ungefähr vierhunderttausend Mark

Eine Antwort auf Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 9 – 1. Kapitel

  • Markus sagt:

    Schön, mal wieder etwas aus den Geheimakten! Als großer Sherlock-Fan finde ich diese alten Pastiches klasse, wenn auch der Stil deutlich von der Vorlage abweicht – meistens sind sie recht gut ausgedacht, freue mich jedenfalls immer, auch über Harald Harst. Vielen Dank + weiter so!

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