Aus dem Reiche der Phantasie – Heft 2 – Die Totenstadt – 6. Teil
Robert Kraft
Aus dem Reiche der Phantasie
Heft 2
Die Totenstadt
Verlag H. G. Münchmeyer, Dresden, 1901
Die zukünftigen Raubtiere
Plötzlich erfüllte ein durchdringendes Pfeifen die Luft, und Richard sah, nicht weit von sich entfernt, eine Schar Mäuse aus einer Haustür kommen. Doch nein, das, was er sah, war nur der Anfang eines unerschöpflichen Stromes, der sich quer über den Marktplatz ergoss und in einem anderen Haus verschwand, während aus dem ersten immer neue hervordrangen.
Erschrocken war Richard auf einen hohen Prellstein gesprungen. Es war ein scheußliches Gewimmel; es mussten Millionen sein. Wie war das möglich? Nun, es brauchten nur ein Dutzend Mäusepaare am Leben geblieben sein, nur die auf dem Turm gewesenen, so war das Rätsel gelöst. Ein einziges Mäusepaar kann ja in einem Sommer eine Nachkommenschaft von 25 000 Jungen haben, und das ist noch eine ganz mäßige Berechnung. Hier hatten die Mäuse außerdem auch keinen nachstellenden Feind gehabt, denn Mausefallenhändler, giftstreuende Kammerjäger und Katzen waren ja tot, und Raubvögel allein konnten die Vermehrung wenig beeinträchtigen.
Aber sie hatten doch Feinde. Richard bemerkte es erst, als er sich an das Gewimmel gewöhnte. In dem lebenden Strom befanden sich nämlich auch Ratten, sie würgten die Mäuse ab. Solch eine Ratte trug soeben eine besonders große Maus seitwärts davon, um sie in Ruhe zu verzehren. Da aber schoss ihr bereits eine andere nach, und Richard meinte zuerst nicht anders, als dass es ein ihm unbekanntes Raubtier gewesen sei, so groß war diese Ratte, so abnorm hatte sie sich entwickelt. Jetzt fiel sie wieder eine kleinere Ratte an, und ein Kampf entspann sich, in dem natürlich der Stärkere siegte. Das Ungetüm von einer Ratte fraß erst schnell die Maus, dann machte sie sich an den eigenen Kollegen.
Lächelnd über seine Furcht war Richard von dem Stein herabgesprungen und schlich sich mit gespanntem Bogen auf das reißende Untier zu. Aber er hatte gar nicht nötig, so zu schleichen, die Ratte floh nicht, sie hob den Kopf, zischte und fletschte die langen Zähne nach ihm. Ja, vielleicht war es gut, dass sein Pfeil sie durchbohrte, sonst hätte er sich noch mit dem Messer wehren müssen.
Richard ging in ein Haus. Dass hier die Mäuse schon gewesen waren, konnte er aus ihren hinterlassenen Spuren sehen, sonst aber gähnten ihm nur die nackten Wände des einst möblierten Hauses entgegen, und auf dem Estrich des abgedielten Bodens lagen Eisenteile, Glas, Porzellan und eine Lampe. Alles andere hatten die Mäuse aufgefressen, das Bett so gut wie das Klavier bis auf die eisernen Schrauben.
So würden nunmehr die Mäuse, nachdem sie keine wirkliche Nahrung mehr hatten, mit fürchterlichem Hunger weiter hausen und sich dabei in die Billionen vermehren. Gab es dann gar nichts mehr zu nagen, so mussten sie sich entweder zu grüner Pflanzennahrung wenden oder den gefräßigen Zahn gegen das eigene Geschlecht kehren. Allerdings würden die Ratten endlich doch die Vermehrung der Mäuse beschränken, und dann auch über sich selbst herfallen. Denn die Ratte frisst die Ratte, und da das Starke siegt, das Schwache aber verschwindet, so würde jedes neue Geschlecht von Ratten immer größer werden, bis die Natur eine Grenze setzt und ihnen ein anderes Raubtier zur Vernichtung schickte.
So dachte Richard, als er das Haus wieder verließ. Er hatte von dieser Entwicklungstheorie gelesen und schon ein Beispiel mit eigenen Augen gesehen.
Er begab sich in die Kirche, durch dieselbe Tür, die er vor einem Jahr nicht hinter sich geschlossen hatte. Die Mäuse waren auch hier eingedrungen, wenn sie nicht schon von oben aus dem Turm gekommen waren, und hatten die Kirche leer gefressen. Deshalb konnte auch auf dem Altar kein Zettel liegen. Wo mochten nur der Schuster und seine Frau sein?
Natürlich war nicht schon der Inhalt der ganzen Stadt den Mäusezähnen zum Opfer gefallen, das wäre zu schnell gegangen. Sie drangen nur in die Häuser ein, wo sie keinen Widerstand fanden, deren Türen dem Strom direkt offen standen. Später allerdings würden sie sich auch den Eintritt mit Gewalt erzwingen. So fand Richard noch die meisten Häuser und Läden unversehrt, er musste nur die Tür aufbrechen. Statt der Mäuse aber waren durch die meistenteils zertrümmerten Fensterscheiben Myriaden von Insekten eingedrungen und hatten im Verein mit der warmen Feuchtigkeit auch schon arge Verwüstungen angerichtet. Ein Schlag auf ein Sofa ließ eine Wolke von Motten aufwirbeln, über den Holzteilen fiel alles in Staub, Gardinen und Decken gab es gar nicht mehr. Dennoch fand Richard dasjenige, was er brauchte, er musste nur suchen, sowohl Seife als auch brauchbare Streichhölzer und Petroleum gelangten in seinen Besitz, und schließlich entdeckte er in einem trockenen Haus auch gut erhaltene Sämereien und nützliche Bücher in wohlverschlossenen Schränken. Er beschloss, sich dieses alles anzueignen, was er für später wohl gebrauchen konnte.
Zunächst aber musste er sich eine neue Wohnung suchen. In der am Waldfluss gelegenen Mühle war es zu feucht, er hatte dort auch schon einmal einen Fieberanfall gehabt und hier schien es wiederum viel zu trocken zu sein.
Er verbrachte nun einige Tage damit, durch die Stadt zu streifen und Häuser zu besichtigen. Auch las er in geeigneten Büchern der gut erhaltenen Stadtbibliothek, wie er sich unter dem Äquator einzurichten habe, wie man dort sät und erntet und so weiter. Hier begegnete er immer wieder neuen Mäuseschwärmen, niemals aber seinen der Katastrophe entgangenen Gefährten.
Endlich hatte er einen festen Entschluss gefasst. Eine halbe Stunde von der Stadt entfernt lag auf einer Anhöhe der Pulverturm, ein zweistöckiges, massives Gebäude, das oben einen Söller hatte. Die einzige Tür des Turmes bestand aus verzinktem Eisen, auch die Fenster konnten durch Eisenplatten verschlossen werden, und das Ganze wurde noch von einer Mauer umgeben. Unten an dem Hügel aber floss ein Bach vorbei, während drinnen im Hof sich ein Brunnen befand. Die Gegend war frei, nur an der einen Seite des Turmes grenzte der Wald. Richard hatte sich, da die Tür zufällig offen stand, von dem soeben Angeführten selbst überzeugt und war entschlossen, den Pulverturm zu seinem neuen Heim zu machen. Hierher würden sich die Hausmäuse wohl schwerlich verirren, hier wollte er die zukünftigen Felder anlegen, alles war dazu wie geschaffen.
Er beseitigte die Skelette und das, was er sonst nicht brauchte, auch das Pulver, bis auf einige Säcke, die ihm vielleicht später noch einmal Dienste leisten konnten, und schaffte im Laufe der Zeit alles aus der Stadt hierher, was ihm für sein neues Einsiedlerleben verwendbar schien, besonders Handwerkszeug, Sämereien und Bücher. Zwischen den starken Mauern war ihre Erhaltung ebenso sicher wie in der alten Äquatorialgegend, wo man doch auch alles aufheben konnte, wenn man nur einige Sorgfalt auf die Gegenstände verwandte. Ein Spaten, den man nie benutzte, war in der heißen Zone innerhalb eines Jahres in Rost gefallen, und das Buch, das man nie aus dem Schrank nahm, ließen die Ameisen bis auf die Deckelschalen verschwinden.
Die Fantasie ist frei, mit ihr lassen wir die Jahre vergehen.
Richards kindlicher Wunsch, einmal Robinson zu sein, war in Erfüllung gegangen, wenn er auch nicht daran gedacht hatte, dass dies möglich sein würde, als er seine Vaterstadt unter den Äquator versetzte. Es war vieles ja ganz anders gekommen, als er erwartet hatte, aber er hatte doch bewiesen, dass er sich in jeder Lage zu helfen wusste.
Wenn er auf dem Söller seiner Festung saß, überblickte er einige Morgen Landes, die seiner Hände Arbeit mit Reis, Mais und Hirse bestellt hatte. Er konnte die Felder vom Bach aus berieseln und sie bei zu viel Feuchtigkeit durch eine andere Schleuse wieder trocken legen. Mancher Spatenstich mit krummem Rücken, viel Zimmermannsarbeit und noch mehr Erfindungsgeist war dazu nötig gewesen.
Auf dem Söller selbst klapperte dann und wann eine kleine Mühle. Auch sie war aus seiner Hand hervorgegangen, sie schälte den Reis und mahlte den türkischen Weizen.
Neben den Feldern waren Orangen- und Zitronenhaine entstanden, und Anlagen von Feigen- und Bananenkulturen. Schon trugen Dattel- und Kokosnusspalmen Früchte, und innerhalb der Umfassungsmauern gediehen die herrlichsten Blumen.
Das war eigentlich alles, was Richard durch sich selbst geschaffen hatte, aber es war sehr viel.
Eine Steinaxt und ein Lederkostüm brauchte er sich nicht zu fertigen. Zeit seines Lebens war er mit Werkzeugen versorgt, in Truhen lag ein unerschöpflicher Vorrat an Kleidern und Wäsche, welche er nur trocken und von Insekten frei zu halten hatte; er besaß auch sonst alles, was zu des Leibes und Lebens Notdurft gehört; auch Seife brauchte er nicht selbst zu fabrizieren und konnte daher seine Zeit ganz dem widmen, was ihm die Vergangenheit nicht mehr lieferte, sondern wozu eigener Fleiß nötig war, also zum Beispiel dem Bebauen seiner Felder und seines Gemüsegartens.
Die Zeit verstrich ihm wie im Fluge. Neben der Arbeit sorgten Lesen, das Einsammeln von Holz und die Jagd für Abwechslung. Dabei bediente er sich der Bogen und Pfeile, hielt aber auch Feuerwaffen für alle Fälle instand.
Die Pflanzenwelt hatte nun ganz einen tropischen Charakter angenommen, dafür hatten der botanische Garten und dann Wandervögel gesorgt, die den Samen aus allen Weltteilen mitbrachten. Es hatten sich auch neue Vogelarten als ständige Bewohner eingestellt, aber die andere Tierwelt blieb dieselbe, nur dass die vorhandenen Tiere an Größe zunahmen. Er hatte schon eine Ringelnatter von zwei Meter Länge gefunden und eine fast nicht minder große Kreuzotter, er hatte gesehen, wie die Erstere eine Ratte von der Größe einer echten Bulldogge – etwa einen viertel Meter hoch – angriff und in ihrer Umschlingung erdrückte.
Dieses Wachsen der Tiere war Richard teils ein Rätsel, teils hatte er sich durch Lesen und eigenes Nachdenken einiges Verständnis dafür verschafft.
Es ist hier in dem kurzen Rahmen dieser Erzählung die Erklärung nicht möglich, dazu gehört das Studium der Werke solcher Gelehrten, die sich mit ähnlichen Fällen beschäftigt haben, wie zum Beispiel Darwin. Es war ein Walten der Natur, die sich selbst zu helfen weiß, indem sie Tierarten, die sie nicht mehr braucht, aussterben lässt, und anderen forthilft, um vom Geschick vernachlässigten beizustehen und neue zu erzeugen – wenn sie solche braucht.
Als Beispiel dafür, dass die Natur die Welt regiert und sich nichts vorschreiben lässt, sondern selbstständig denkt und arbeitet, dass alles das notwendig ist, was sie erschafft, mag nur eine verbürgte Geschichte erzählt werden.
Doch zuerst eine Frage: Wer kann sagen, wozu die Krokodile da sind? Etwa dazu, dass sie die Fische wegfressen und einmal einen Menschen wegschnappen? Wo bleibt da deren Nützlichkeit?
Und doch müssen die Krokodile im Haushalt der Natur wohl nützlich sein, sie müssen es – sonst würde sie die Natur aus der Liste der Kreaturen streichen.
Die Frage ist beantwortet worden vor gar nicht langer Zeit.
Ein ackerbautreibender Indianerstamm in Brasilien wurde von den Alligatoren sehr belästigt, die in dem neben dem Dorf vorbeifließenden Fluss hausten. Sie richteten unter dem zur Tränke geführten Vieh viele Schäden an, zogen badende Menschen unter Wasser, schlugen sogar einen über den Fluss setzenden Mann mit dem Schwanz aus dem Boot.
Eine vornehme Jagdgesellschaft kam in das Dorf, hörte die Klagen und machte sich den Spaß, den Alligatoren den Vernichtungskrieg zu erklären. Die Jäger gingen nicht eher, bis der Fluss keinen Krokodilschwanz mehr enthielt und die Sonne kein Ei mehr ausbrütete. Die Eingeborenen bedankten sich bei ihnen, nun hatten sie ja Ruhe vor den Unholden.
Im nächsten Jahr aber machten sich äußerst viele Wasserratten bemerkbar, und im übernächsten konnten die Eingeborenen kein Korn von den Feldern ernten, der Fluss spie immer neue hungrige Ratten aus. Sie fraßen das Korn auf den Feldern und in der Scheuer, und keine Katze und kein Gift konnte helfen. Die Plage wurde schließlich so groß, dass die Eingeborenen ihr Dorf und die ganze Gegend zu verlassen beschlossen.
Da erfuhr die Regierung von der Rattenseuche. Sachverständige Praktiker und Gelehrte wurden befragt. Und das einstimmige Resultat der Beratung war: Hier gibt es kein anderes Mittel, als dass wieder Alligatoren importiert und in den Fluss gesetzt werden.
So geschah es auch, die neuen Alligatoren räumten nun schnell unter den Wasserratten bis zur erlaubten Anzahl auf, die faulen Eingeborenen wurden angehalten, Viehtränken und Badeplätze einzuräumen und eine Brücke zu bauen, und seitdem leben sie friedlich neben den Alligatoren.
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