Heftroman der

Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Der Schwaben-Killer

Ernst August Wagner – Lehrer, Dichter, Massenmörder

Nervös wippte Ernst Wagner mit dem Oberkörper ständig auf und ab und lauschte angespannt in die Dämmerung hinein. Der Stuhl, auf dem er dabei saß, stand mitten im Garten des Hauses, in dem der Lehrer mit seiner Familie seit einiger Zeit zur Miete wohnte.

Niemand schien seine verkrampfte Haltung zu bemerken, den rastlosen Blick seiner Augen, das verkniffene Gesicht. Weder seine Frau Anna, die neben ihm im Gras mit den Kindern scherzte, noch die Vermieterin, die zusammen mit ihrer Tochter von einer Gartenbank aus andächtig das Farbenspiel am Horizont betrachtete.

Die Spätsommersonne stand tief im Westen und ihre letzten Strahlen tauchten den Abendhimmel über Degerloch in leuchtendes Purpur. Vom Kirchturm des beschaulichen, am nördlichen Rand der Filder-Hochebene gelegenen Ortsteils von Stuttgart drang leise das Wimmern der Glocken herüber.

Man schrieb den 3. September 1913, und während die Sonne allmählich hinter dem Horizont versank, wurde die achte Abendstunde eingeläutet.

Je später es dann wurde, umso unruhiger begann Wagner auf seinem Gartenstuhl hin und her zu rutschen. Immer wieder musterte er verstohlen die Umgebung, als hielte er Ausschau nach einem verborgenen Feind.

Kurz nach halb neun, die Sonne war inzwischen untergegangen, erhob sich seine Hausfrau zusammen mit ihrer Tochter und die beiden begannen demonstrativ zu gähnen.

Endlich, dachte er.

Er hatte schon befürchtet, dass die beiden Frauen überhaupt nicht mehr schlafen gehen wollten. Deshalb nickte er ihnen aufmunternd zu.

»Die Damen haben recht, es ist in der Tat Zeit, langsam zu Bett zu gehen. Ich hätte diesen lauen Sommerabend zwar gerne noch eine Weile genossen, aber wie Sie wissen, ruft mich Morgen in Aller früh schon wieder die Schule.«

»Aber es sind doch noch Ferien!«, warf die Tochter der Vermieterin ein.

Natürlich, du blöde Gans, durchzuckte es Wagner. Wenn ich das Geld deiner Mutter besitzen würde, könnte ich die Schulferien auch bis zum letzten Tag auskosten. Aber leider bin ich nur ein kleiner Dorflehrer, der zur Miete wohnt, der sich bis jetzt deshalb durch zusätzliche Arbeit für eine höhere Position und dem damit verbundenen höheren Gehalt empfehlen musste. Aber das wird sich ab Morgen alles ändern.

Er behielt diese Gedanken jedoch für sich. So kurz vor der Vollendung seines Plans hütete sich Wagner davor, jegliches Aufsehen zu erregen.

Stattdessen antwortete er jovial: »Gewiss mein Kind, aber die sind in ein paar Tagen auch vorbei. Wenn dann der Ernst des Lebens wieder beginnt, sollte man darauf vorbereitet sein. Damit will ich sagen, dass man sich gerade in meiner Position über die anstehenden Schulstunden und den Unterrichtsstoff bereits Gedanken gemacht haben sollte.«

Die Vermieterin nickte verständnisvoll.

»Das verstehe ich vollkommen, als Lehrer hat man schließlich eine gewisse Verantwortung.«

Ernst Wagner nickte leutselig, aber seine Gedanken waren mörderisch.

Nachdem sich auch Anna Wagner gemeinsam mit ihren vier Kindern von der Hausfrau verabschiedet hatte, trottete die Familie unter den hektischen Anweisungen ihres Oberhaupts kurze Zeit später im Gänsemarsch auf ihre Wohnung zu. Bereits eine halbe Stunde später war es im ganzen Haus dunkel.

Die Nacht verlief zunächst ruhig und still.

Aber dann kam die Zeit, in der die Finsternis in den Tagesanbruch überging, jene Stunde, in der alles stillzustehen scheint. Selbst der Wind legt sich in dieser Zeit und nur der Mond geht über das Land. Es war die Stunde, auf die Wagner gewartet hatte.

Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen.

Als im Osten das erste Licht des Tages vorsichtig durch den Frühdunst schimmerte, richtete sich der Lehrer in seinem Bett auf.

Aufmerksam ließ er seine Blicke durch das Schlafzimmer schweifen, um sich zu vergewissern, dass er nicht beobachtet wurde. In einer Stunde würde die Sonne aufgehen, es wurde also allmählich Zeit, seinen Plan zu verwirklichen.

Er freute sich wie ein kleines Kind darauf, schließlich hatte er noch nie einen Menschen getötet.

Vorsichtig schlug er die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Dann setzte er seine Füße auf die blank gescheuerten Holzdielen des Fußbodens und verharrte für einen Moment. Als er neben sich die regelmäßigen Atemzüge seiner schlafenden Frau registrierte, richtete er sich lächelnd auf und ging zur Schlafzimmertür.

Sekunden später eilte er nur mit Socken und einem weißen Nachthemd bekleidet auf Zehenspitzen in sein Arbeitszimmer. Als er kurze Zeit später zurückkam, hielt er in der einen Hand einen scharf geschliffenen Dolch und in der anderen einen Totschläger.

So leise, wie er das Schlafzimmer verlassen hatte, so leise kehrte er auch wieder zurück. Mit den beiden Waffen in den Händen baute er sich drohend vor dem Bett seiner Frau auf.

Obwohl Anna Wagner Sekunden vorher noch tief und fest geschlafen hatte, schien sie mit dem Instinkt einer Mutter im Unterbewusstsein das Unheil zu spüren. Urplötzlich fuhr sie aus dem Schlaf hoch und setzte sich im Bett auf.

Für einen Atemzug lang saß Anna einfach nur so da und blickte mit erschrocken auf ihren Mann und den erhobenen Totschläger. Ihre Finger krallten sich in das Bettlaken, während sich ihre Lippen vor Entsetzen langsam öffneten.

Als der Lehrer sah, wie seine Frau den Mund zum Schreien aufriss, schlug er zum ersten Mal zu. Es hörte sich an, als schlage man mit einem Spazierstock in nassen Schlamm. Bereits nach dem dritten Hieb begann Anna aus unzähligen Wunden zu bluten. Sie spuckte Blut und Zähne aus und versuchte, aus dem Bett zu kommen, als sie von einem erneuten Schlag mit solcher Wucht getroffen wurde, dass sich ihr Gesicht in eine unförmige Masse aus zertrümmerten Knochen und rohem Fleisch verwandelte.

Röchelnd sank die Frau in die Kissen zurück, während ihr Mann in blinder Raserei immer und immer wieder mit seinem Dolch auf sie einstach. Blut spritzte wie roter Regen durch das Zimmer. Ernst Wagner hielt dabei sein Gesicht hinein, als wollte er darin baden.

Sekunden später war alles vorbei.

Als er von seiner Frau abließ, war sein Gesicht seltsam verzerrt; nicht vor Entsetzen oder Mitleid, sondern voller abartiger Lust. Während er vor Erregung keuchte, kreisten seine Gedanken in erster Linie um die Frage, was sie vor ihrem Tod wohl empfunden hatte.

Qualvollen oder süßen, erlösenden Schmerz?

Bevor sein wirrer Geist eine Antwort darauf finden konnte, lief Wagner in dem blutverschmierten Nachthemd, unter dem sich deutlich seine Erregung abzeichnete, aus dem Schlafzimmer, durchquerte den Flur und drang in das Zimmer der Kinder.

Robert, Richard, Klara und Elsa starben zehn Minuten später.

Als ihr Vater das Kinderzimmer verließ, war überall Blut. Auf dem Fußboden, auf den Möbeln, an den Wänden, sogar auf der Lampe an der Decke.

***

Was sich danach abspielte, wirkt heute noch wie ein grauenhafter Albtraum.

Als sei nichts geschehen, begab sich Wagner hernach fröhlich pfeifend ins Badezimmer. Er wusch und rasierte sich und kleidete sich an. Der einzige Unterschied zu den anderen Tagen bestand lediglich darin, dass er an diesem Morgen im Bad doppelt so viel Zeit wie sonst benötigte. Das viele Blut, das überall an seinen Händen, im Gesicht und in den Haaren klebte, war schwerer zu entfernen, als er gedacht hatte.

Nachdem er seine Morgentoilette beendet hatte, begab er sich wieder in sein Arbeitszimmer. Während das Blut seiner Kinder aus dem Zimmer sickerte und vor der Tür im Flur eine immer größer werdende Pfütze bildete, setzte sich Ernst Wagner an seinem Schreibtisch und notierte in aller Ruhe auf zwei Zetteln verschiedene Nachrichten.

Mit dem ersten Zettel bestellte er bei seiner Hausfrau drei Liter Milch für den nächsten Tag, mit dem zweiten teilte er der Vermieterin mit, dass sich die Familie heuer auf einem Ausflug nach Ludwigsburg befand.

Dann zog er einen kleinen Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete damit vorsichtig ein schmales Seitenfach an seinem Schreibtisch, das im Gegensatz zu den anderen Schubladen und Türen des Möbelstücks fest verschlossen war. Nachdenklich legte er die Stirn in Falten, als er die dahinter liegenden Schubfächer aufzog und auf ihren Inhalt starrte.

Im oberen Fach befand sich neben einem halben Dutzend Patronenschachteln ein Packen Briefe, die er seit August heimlich geschrieben hatte. Der erste war an seine Hauswirtin gerichtet, der zweite an seine Schwester in Berlin, die weiteren an seinen Schwager in Zwickau, an den Schulrektor von Degerloch, das neue Tagblatt in Stuttgart, einen weiteren Schwager in Mannheim, an einen Förster namens Schelling, mit dem er eng befreundet war, und an den bekannten Religionsphilosophen Christoph Schrempf.

Wie sich später herausstellen sollte, versuchte er in diesen Briefen, den jeweiligen Personen seine Taten zu erklären.

Als er in die andere Schublade blickte, wetteiferten Stolz und Erregung in seinen Augen. Hier lagen wie zu einem Kunstwerk drapiert zwei zehnschüssige 96er Mauser sowie ein weiterer kleinkalibriger Revolver inmitten eines Kranzes aus blank polierten Pistolenpatronen. Einen Moment lang ergötzte er sich an dem Anblick der Waffen, von denen jede einzelne in seinem kranken Gehirn mit einem stählernen Phallus assoziiert wurde. Behutsam aber dennoch planvoll begann er danach, den Inhalt der Schubladen einzupacken. Die Briefe steckte er in die Innentasche seiner Anzugsjacke, den kleinen Revolver und eine Handvoll Patronen in eine der Hosentaschen. Die beiden Mauser und den Rest der Munition, etwas über fünfhundert Patronen, verstaute er zusammen mit einigen anderen Dingen in einer Reisetasche, die neben dem Schreibtisch stand.

Dann setzte er sich einen Filzhut auf und machte sich auf den Weg. Auf einen Mantel oder einen Umhang verzichtete er angesichts des milden Septembermorgens.

Als er das Haus verließ, breitete sich in der Wohnung der Familie allmählich ein süßlicher, kupferartiger Geruch aus.

Aber das störte Ernst August genauso wenig wie die unzähligen vom Blutgeruch angelockten Fliegen, die sich inzwischen vor den Fenstern zu zuckenden, surrenden und wild umherfliegenden Gebilden zusammengeballt hatten.

Stattdessen lief er zielstrebig auf jenen überdachten Unterstand zu, wo die Bewohner des Hauses ihre Fahrräder abzustellen pflegten. Er schnappte sich seinen Elberfelder, eine Fahrradmarke, die damals nur in Kreisen der besser verdienenden Gesellschaft bekannt war, und radelte mit dem Sonnenaufgang die alte Weinsteige hinunter nach Stuttgart bis zum Hauptbahnhof. Von dort aus fuhr Wagner mit dem Zug nach Ludwigsburg weiter. In der alten Barockstadt genehmigte er sich noch kurz einen kleinen Imbiss, bevor er mit dem Fahrrad einen Abstecher in das nahe gelegene Eglosheim, seinen Geburtsort, machte, wo auch sein Bruder lebte.

Er und seine Familie ahnten nicht, dass auch ihre Namen auf Wagners Todesliste standen.

Es war nur einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass Ernst August im Haus seines Bruders lediglich seine Schwägerin Martha antraf.

Der Mörder verabschiedete sich deshalb kurz darauf unter fadenscheinigen Gründen, versprach aber, am Abend zurückzukommen. Nachdem er in der Nähe des Hauses fast die Hälfte seiner Munition versteckt hatte, kehrte er anschließend wieder zum Bahnhof zurück.

Seine nächste Station war Bietigheim, von dort aus fuhr er mit dem Fahrrad scheinbar ziellos kreuz und quer durch die Umgebung. Aber nur scheinbar, in Wirklichkeit gab er an verschiedenen Stellen jene Briefe auf, die er, seitdem er sein Haus verlassen hatte, in der Innentasche seiner Anzugsjacke mit sich trug.

Eine dieser Nachrichten ging an seine Vermieterin, mit dem Wortlaut:

»Ich bitte um Verzeihung, obwohl ich weiß, dass es keinen Wert hat. Aber es war nicht anders zu machen. E. Wagner.«

Danach kehrte er bis zum Abend in Bietigheim im Gasthaus zur Krone ein.

Zu diesem Zeitpunkt ahnte niemand, dass er ein weiteres Verbrechen verüben sollte, welches das wilhelminische Kaiserdeutschland bis in seine Grundfeste erschütterte.

Im Nachhinein betrachtet war Ernst August Wagner der erste Amokläufer der neueren deutschen Kriminalgeschichte.

***

Die Kirchenglocken von Bietigheim läuteten zur siebten Abendstunde, als Wagner das Gasthaus verließ und mit seinem Elberfelder in Richtung Mühlhausen an der Enz fuhr.

Dort angekommen versteckte er sein Fahrrad in einem nahegelegenen Maisfeld und rüstete sich für die nächste Etappe seines perfiden Plans.

Er tauschte seinen Filzhut gegen eine dunkle Schiebermütze aus der mitgeführten Reisetasche aus, verbarg seine untere Gesichtshälfte durch ein schwarzes Tuch, das sich ebenfalls in der Tasche befunden hatte, und verband seine beiden Mauserpistolen durch Schnüre mit den Handgelenken, wahrscheinlich um sie bei seinen nachfolgenden Taten nicht zu verlieren.

Dann hastete er durch Mühlhausen und legte an mehreren Stellen Feuer.

Als er mit seinem Amoklauf begann, schlugen die Flammen bereits aus den ersten Häusern, Glasscheiben zerplatzten in der Hitze, Vieh brüllte in den Ställen.

In dem kleinen Dorf wurde es lebendig.

Die ersten Menschen strömten auf die Straßen, einige Männer aus dem Adler, dem größten Gasthof in Mühlhausen, andere zusammen mit Frauen, Kindern und Alten aus den Wohnungen. Einer wollte vom anderen wissen, was los war. Inzwischen zeichneten sich die Silhouetten der Dorfbewohner durch den Feuerschein deutlich in der Dunkelheit ab. Das war der Moment, in dem der Lehrer seine Pistolen anhob und loslief.

Ernst August Wagner begann seinen Blutweg bewusst am Gasthof Adler. Seiner Meinung nach hatte das ganze Unglück dort seinen Anfang genommen.

Ein Zittern durchlief seinen Körper, als er für einen Augenblick an jene Zeit zurückdachte, als sein unheilvoller Trieb das erste Mal die Herrschaft über ihn erlangte.

Damals, als er beinahe stündlich befürchten musste, dass die Allmacht seiner wirren Erotikfantasien seinen glühenden Phallus zum Platzen bringen würde und er nur im neben dem Gasthof gelegenen Stall bei einer Kuh Erlösung fand. Wahrscheinlich lachte der ganze Ort immer noch über ihn, glaubte er, aber heute war der Tag gekommen, an dem er dafür sorgen wollte, dass dieses entwürdigende Gelächter endgültig verstummte. Heute wollte er sich für all das Gerede, die Verhöhnungen und Verspottungen rächen.

Wagner war in seinem Wahn überhaupt nicht bewusst, dass er sich das Ganze nur einbildete. Wie die Gerichtsakten später bestätigten, ahnte bis zu diesem Zeitpunkt kein einziger Bewohner von Mühlhausen von seinen homoerotischen Neigungen und seinem Hang zur Sodomie.

Aber das alles war reine Makulatur, als Wagner am Adler vorbei die Oberdorfgasse entlang lief und nach der Kirchgasse in eine weitere Seitenstraße einbog. Als er von dort aus die Schlossgasse betrat, hatte er gerade einmal fünfhundert Meter zurückgelegt, aber schon zwei Menschen erschossen und zwei weitere schwer verletzt. Als er dreihundert Meter weiter nach links in die Schafgasse einbog, waren durch seine Hand bereits drei weitere Menschen gestorben, vier Dorfbewohner verletzt und zwei Stück Vieh totgeschossen.

Der Fettwarenhändler Friedrich Baur sowie Johann Georg Müller und Jakob Franz Schmierer, beide ortsbekannte Tagelöhner, waren unter den ersten Toten. Magda Bader und der Schafhalter Christian Widmaier folgten und sie sollten nicht die letzten Toten sein.

Johann Knötzele, ein Küfer, die Bauern Johann Geissinger und Heinrich Knötzele und der Maurer Christian Vogel waren die nächsten.

Die ganze Ortschaft glich inzwischen einem Tollhaus.

Mühlhausen brannte an allen Ecken, Vieh brüllte, Menschen schrien und immer wieder peitschten Schüsse durch die Nacht.

Wagners Todesweg war aber noch längst nicht zu Ende.

***

Das Feuer hatte sich inzwischen weiter ausgebreitet.

Überall zuckten Flammen in den Nachthimmel. Auf den Straßen scharten sich immer mehr Leute zusammen. Wagner kam gerade die Bismarckstraße entlang, als er im Feuerschein die Umrisse mehrerer Menschen ausmachte. Er hörte sie etwas rufen, konnte allerdings durch den Lärm, der auf den Straßen herrschte, nichts verstehen.

Deshalb verharrte er für einen Moment.

Eine Frau drängte sich aus der Menge, lief auf Ernst Wagner zu und blieb keine zehn Schritte vor ihm stehen. Als sie die Mauserpistolen in seinen Händen erkannte, verzerrte sich ihr Gesicht. Sie ballte ihre Hände und wandte sich wieder den anderen zu, während sie mit überschnappender Stimme zu schreien begann.

»Da ist der Lump! Das ist er, er hat sogar noch die Pistolen in den Händen.«

Für einen Augenblick wurde es in der dunklen Straße totenstill.

Die einzigen Geräusche, die für Sekunden zu hören waren, wurden vom Prasseln des Feuers und den dumpfen, weit entfernten Stimmen der anderen Einwohner verursacht.

Aber die Stille hielt nur einen Atemzug an, dann begann die Menge wild durcheinander zu schreien und setzte sich langsam in Bewegung.

Wagner handelte, als hätte er alles lange geprobt.

Als die Menge herankam, hob er seine Mauserpistolen an und drückte zuerst den Abzug der Waffen durch. Die Schussdetonation hallte überlaut durch die dunkle Straße. Eine der Kugeln grub sich in die Brust der schreienden Frau. Brüllend stürzte sie zu Boden. Hinter ihr spritzte die Menge auseinander, als ob eine Bombe in ihrer Mitte explodiert wäre.

Kaltblütig folgte ihnen Wagner.

Er rannte hinter ihnen her, bis sie von der Bismarckstraße aus in eine Seitengasse flohen. Dort blieb er stehen und feuerte erneut mehrmals auf die Fliehenden. Danach drehte er sich um und lief den Schulmauerweg entlang. Er wusste zwar nicht, wen er alles getroffen hatte, aber er hatte mit Genugtuung festgestellt, dass mindestens drei Mühlhäuser unter seinen Schüssen zu Boden gegangen waren.

Als er die letzten Häuser passierte, stürmten einige halb angekleidete Bürger des Ortes auf ihn zu. Sie kamen aus verschiedenen Seitengassen und stellten sich ihm schreiend in den Weg.

Der Mörder feuerte, ohne zu zielen.

Ein Mann wurde von den Kugeln in den Leib getroffen.

Er stürzte rücklings zu Boden, während ein anderer neben ihm gurgelnd in die Knie ging.

Als Wagner weiter lief, kam zum ersten Mal so etwas wie Panik in ihm auf.

So hatte er sich das Ganze nicht vorgestellt.

Statt demütig auf ihre Bestrafung zu warten, entwickelten die Bewohner von Mühlhausen eine Eigenschaft, mit der er überhaupt nicht gerechnet hatte.

Die Einwohner des Ortes begannen sich zu wehren.

Anstatt sich von seinen Pistolen beeindrucken zu lassen, machten sie nun ihrerseits mit Dreschschlegeln, Spaten und Hacken Jagd auf ihn.

Ernst Wagner registrierte schnell, dass er der Übermacht der Dorfbewohner trotz seiner modernen Waffen auf Dauer nicht gewachsen war.

Verzweifelt hastete er die Oberdorfgasse entlang, ohne zu wissen, dass sich der Kreis allmählich zu schließen begann. In dieser Gasse hatte er seinen Amoklauf begonnen, hier sollte er sein Ende finden.

Die Dorfgemeinschaft im Nacken hastete Wagner auf den Adler zu.

Je näher er dabei dem Gasthof kam, umso lauter wurde das Geschrei seiner Verfolger.

In Panik wirbelte er herum, hob die beiden 96er Mauser an und drückte ab.

Einmal, zweimal … viermal.

Erneut gingen Menschen zu Boden, darunter auch Frauen und Kinder.

Der einzige Umstand übrigens, den Wagner bei seinem ganzen Tun bedauerte.

Als die Abzugsbügel der Pistolen hintereinander auf die leeren Magazinkästen schlugen, versuchte er hektisch, die Waffen nachzuladen. Dabei verhedderte er sich in den Schnüren, mit denen er sich die Pistolen um die Handgelenke gebunden hatte, und geriet ins Stolpern.

Das war der Moment, auf den die Einwohnerschaft von Mühlhausen gewartet hatte.

Von allen Seiten stürmten sie auf ihn zu.

Ein Polizist mit erhobenem Säbel und ein Arbeiter mit einer Hacke in den Händen waren die Ersten, die ihm entgegenkamen.

Wagner drehte sich um und duckte sich, dennoch konnte er den Säbelhieben des Polizisten nicht entgehen. Abwehrend hob er die Arme vor das Gesicht und versuchte gleichzeitig, nach den Angreifern zu treten. Aber er hatte die Wut des Polizisten unterschätzt, der seine Hände einfach zur Seite wischte und ihm rechts und links mit dem Säbel ins Gesicht schlug.

Wagner schloss die Augen und ging in die Knie, während er mit der Bewusstlosigkeit kämpfte. Einen Augenblick später zertrümmerte ihm der Arbeiter, der dem Polizisten gefolgt war, mit dem Stahlblatt seiner Feldhacke die linke Hand.

Ernst August schwamm in einem roten Strudel zu Boden.

Als er die Augen das nächste Mal wieder öffnete, lag er in einem kahlen Zimmer, in dem es stark nach Karbol roch. Mehrere ältere Herren mit Nickelbrillen und weißen Kitteln beäugten ihn in einer Art, als wüssten sie nicht, was sie mit ihm anfangen sollten.

***

Hier endet der Versuch, die Lebensgeschichte des Massenmörders Ernst August Wagner so realitätsnah wie möglich zu schildern. Was folgt, sind Berichte und Aussagen von Gutachtern und Ärzten, die ihn damals behandelten, sowie von Psychologen, die heute aufgrund der damaligen Aufzeichnungen ein Verhaltensmuster nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen über ihn angefertigten.

Erst, wenn man alles zusammen gelesen hat, ergibt sich meiner Meinung nach ein stimmiges Bild über diesen Mann und seine Taten.

Wagner wurde nach seinen Taten am 5. September in das Bezirkskrankenhaus nach Vaihingen Enz gebracht, wo man ihm den linken Unterarm amputierte, der durch den Hieb mit der Hacke völlig deformiert war. Als er transportfähig war, wurde er in das Untersuchungsgefängnis nach Heilbronn überstellt.

Dort wurde ihm in zwei unabhängig voneinander erstellten Gutachten bescheinigt, dass er zur Tatzeit unter Verfolgungswahn gelitten hatte. Damit, so lautete die Rechtssprechung nach dem damals geltenden § 51 StGB, war deshalb eine freie Willensbestimmung ausgeschlossen und so wurde er statt zum Tode verurteilt für den Rest seines Lebens in einer Heilanstalt untergebracht, wo er 1938 an den Folgen einer Tuberkuloseerkrankung verstarb.

Die Nachforschungen der Polizei bestätigten nicht nur Wagners Aussagen, die er während seiner Vernehmungen machte, sondern brachten sogar noch weitere unglaubliche Einzelheiten ans Licht.

Wagner hatte schon Jahre vorher damit begonnen, die Umsetzung seiner Tat akribisch vorzubereiten. Ziel und Zeitpunkt der Tat waren längst geplant und etliche Bekennerschreiben verfasst. Die beiden Mauserpistolen, mit denen er heimlich Schießübungen machte, hatte er bereits 1907 bzw. 1909 gekauft.

Nachdem er seine Familie ausgelöscht hatte, wollte er zunächst sämtliche männliche Bewohner von Mühlhausen töten, um nach getaner Arbeit, wie er das Gemetzel gerne bezeichnete, mit dem Zug zurück nach Ludwigsburg zu fahren, um dort seinen Bruder und dessen Familie umzubringen.

»Ich werde ihm die frohe Botschaft auf den Schädel hämmern und er wird beseligt sein. Ich werde der Würgeengel in seinem Haus sein, der Würgeengel des Mitleids.«

Die geplante Ermordung seiner Familie und der des Bruders erklärte er damit, dass er es seinen Angehörigen nicht zumuten wollte, als Sippe eines Mörders weiterleben zu müssen.

Als finalen Abschluss des von Wagner inszenierten Dramas mit ihm als Hauptperson hatte sich der wahnsinnige Lehrer keinen anderen Höhepunkt ausgedacht als das Ludwigsburger Schloss, das heute noch als ›Blühendes Barock‹ bekannt ist und jährlich von Tausenden von Touristen besucht wird, anzuzünden und sich danach im Bett des Württembergischen Herzogs Carl Eugen zu erschießen.

Eine Erklärung für die Öffentlichkeit hatte er ebenfalls bereits verfasst.

»Ich töte. Ins Schloss. Ich brenne und verbrenne. Ich selbst kann mich dann in dem Herzogenbett verbrennen, darum wünsche ich das die Herzogin jung wäre.«

Als er die ersten Aussagen über homoerotische Neigungen und vollzogene Sodomie machte, waren nicht nur die Justizangestellten des Untersuchungsgefängnisses froh, dass man ihn danach in die Pflegeanstalt Winnental überführte.

Ein Umstand, der einen schaudern lässt, wenn man weiß, dass diese Pflegeanstalt in Winnenden liegt, einer schwäbischen Kleinstadt, die fast einhundert Jahre später durch einen anderen Amoklauf traurige Berühmtheit erlangte.

***

In der Öffentlichkeit galt Wagner lange Jahre als Monster oder als »Mordbrenner von Degerloch«. Mit dem Wort Amok konnte damals noch niemand etwas anfangen.

Auch der Psychiater Robert Gaupp, Leiter der Klinik für Gemüts- und Nervenkrankheiten in Tübingen, der mit dem Fall betraut wurde, hielt ihn anfangs für solch ein Monster.

Er revidierte seine Meinung allerdings schon nach ihrer ersten Begegnung. Was ihm im Behandlungszimmer entgegentrat, war keineswegs ein Unhold oder eine Bestie in Menschengestalt, sondern ein höflicher, gebildeter Mann, der sein weiteres Schicksal mit Würde tragen wollte.

Aber gerade das war es, was Wagner bis heute noch so unheimlich macht.

Er sah nicht aus wie ein Monster oder ein kaltblütiger Mörder. Er war Dorfschullehrer und Familienvater und trotzdem hatte er über Jahre hinweg eine Tat geplant, bei der schließlich 17 Menschen den Tod fanden und viele weitere zum Teil schwer verletzt wurden.

Gaupp gelang es in seinen Sitzungen mit Wagner, nach und nach die wahren Umstände für den Amoklauf ans Tageslicht zu bringen.

Der Massenmörder wurde für ihn dadurch zum wichtigsten Studienobjekt seiner Karriere.

Mit der Zeit fasste Wagner allmählich Vertrauen zu dem Psychiater und offenbarte ihm sein verpfuschtes Leben. Dabei gewährte er ihm nach und nach Einblicke bis in das Innerste seiner dunklen Seele.

Ernst August Wagner wurde am 22. September 1874 in Eglosheim bei Ludwigsburg geboren.

Seine Eltern waren Bauern. Sein Vater starb einen Tag vor seinem zweiten Geburtstag. Seine Mutter begann den Grundbesitz zu verkaufen, um sich und die Kinder ernähren zu können. Sie hatte in der Folgezeit mehrere Liebhaber von zweifelhaftem Ruf, heiratete wieder, wurde geschieden und begann danach zu trinken und sich zu prostituieren.

Einen Vorgang, den er angeblich mehrmals mit angesehen hatte.

Wagner, damals ein sehr sensibles Kind, kam mit dem Verhalten seiner Mutter nicht zurecht, worin Gaupp die Wurzel seiner verstörenden sexuellen Fantasien sah.

Diese brachte Wagner, der sich seit Beginn seiner Lehrertätigkeit neben Friedrich Schiller als größten schwäbischen Dichter aller Zeiten sah, mit einer ungewöhnlichen Brutalität zu Papier.

»Ich wünschte ein Riese zu sein, mit Größe und Stärke der Weltallmasse. Dann wollte ich meinen glühenden Pfahl nehmen und ihn der Erde in den Leib bohren. Von Pol zu Pol, von der Erde Scheitel bis zur Sohle wollte ich ihn durchtreiben.«

Seinen Hass auf die Menschheit leitete Gaupp aus dessen Herkunft ab.

Obwohl Ernst aus ärmlichen Verhältnissen kam, schaffte er es auf das Lehrerseminar in Nürtingen. Eine große Leistung für jemanden, der aus der sogenannten bildungsfernen Unterschicht kam. Von 1894 an wurde er als Unterlehrer in verschiedene württembergische Gemeinden geschickt und kam so 1901 nach Mühlhausen. Dort beging er seinen sodomitischen Akt im Stall, der allerdings nie vollständig nachgewiesen werden konnte.

Die Tat verdankt ihre Existenz lediglich den Behauptungen Wagners und seiner Schwiegermutter sowie den Aussagen eines Zimmermädchens, das beim Ausbürsten des Lehrerrocks unzählige kurze rote Haare, wie die von einer Kuh, an der Kleidung bemerkt haben wollte.

Kurz darauf bandelte er mit der jüngsten Tochter vom Gasthof Adler an und schwängerte sie. Als seine Vorgesetzten von der Affäre mit der Minderjährigen erfuhren, die unehelich ein Kind zur Welt brachte, wurde er kurzzeitig vom Dienst suspendiert, was das Ende seiner Karriere bedeutete.

Fortan verdingte er sich als Hilfslehrer und lebte mit seiner Familie in ärmlichen Verhältnissen. Dabei verrannte er sich in seiner Paranoia in den Gedanken, dass die ständig steigende Einwohnerzahl Deutschlands schuld daran war, dass er als Dichter und Lehrer ein solch karges Leben fristen musste.

Seiner Meinung nach wurde sein Genie deshalb nicht erkannt, weil es in der Masse der Armen und Bildungslosen hoffnungslos unterging.

»Es ist des Volkes viel zu viel, die Hälfte sollte man gleich totschlagen. Sie ist das Futter nicht wert, weil sie schlechten Leibes ist. Von allen Erzeugnissen des Menschen ist ausgerechnet der Mensch das schlechteste.«

Dies war nur eine These in seiner niedergeschriebenen Autobiografie.

An einer anderen Stelle behauptete er:

»Überall täte eine Sanierung der Menschheit not. Nach meinem Beobachten und Ermessen müsste ein starkes Drittel daran glauben. Bestellt mich zum Exekutor, denn wir müssen jetzt endlich Ballast beseitigen um in einer reinen, gesunden Region zu schweben. 25 Millionen Deutsche nehme ich auf mein Gewissen.«

***

Ernst August Wagners Feldzug ließ seine Zeitgenossen genauso ratlos zurück wie 2009 die Taten eines Schülers in eben jenem Winnenden oder Breiviks Massaker in Norwegen.

Die Frage war 1913 genau dieselbe wie heute auch.

Hätte man eine Ahnung haben können?

Und was dann?

Als die Zeitungen damals berichteten, dass Ernst August am Lehrerstammtisch im noch heute existierenden Gasthof Adler nach dem vierten Bier einmal finstere Andeutungen über die von ihm geplante Tat gemacht hatte, entfachten sofort Diskussionen über die Sperrstunde in schwäbischen Wirtshäusern.

Das erinnert mich in fataler Weise an heutige Debatten darüber, wie lange ein Jugendlicher im Internet surfen darf, bevor eine schädigende oder gar gefährliche Wirkung eintritt.

Heute sind es Ballerspiele und Gewaltfilme, bei Wagner war es Friedrich Schillers Stück Die Räuber, von dem er fasziniert gewesen war.

Sein Vorgehen in Mühlhausen erinnert stark an die Taktik, mit der Karl Moor die feindliche Übermacht über die wahre Stärke seiner eigenen Kampfkraft täuschte, siehe Die Räuber, Akt 2, Szene 3.

Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er seine Taten wahrscheinlich in einem Blog angedeutet oder in irgendeiner anderen Form ins Netz gestellt. So aber wusste nur seine heimlich geführte tagebuchartige Autobiografie davon.

Wenn sich Amokläufer also an medialen Vorbildern orientieren, sagt dies noch lange nichts darüber aus, warum sie Amok laufen.

Die Unterschiede werden deutlich, wenn man die Taten eines Richard Speck oder Friedrich Leibacher mit denen von Ernst August Wagner oder Anders Breivik vergleicht.

Wobei sich die Ansichten der beiden Letztgenannten, ihre Strategien und ihr unbedingter Wunsch, wahrgenommen zu werden, auf erschreckende Art und Weise ähneln.

Quellen:

  • www.heise.de
  • Amoklauf: Auch Einzeltäter haben Vorläufer, ein Artikel von Dagmar Dehmer in Der
  • Tagesspiegel vom 27. Juli 2011
  • Phillip Blom, Paranoider Hass in Süddeutsche Zeitung vom 28. Juli 2011
  • Landesarchiv Baden-Württemberg

Copyright © 2012 by Gerold Schulz