Buffalo Bill Der letzte große Kundschafter – 12. Kapitel
Buffalo Bill
Der letzte große Kundschafter
Ein Lebensbild des Obersten William F. Cody, erzählt von seiner Schwester Helen Cody Wetmore
Meidingers Jugendschriften Verlag, Berlin 1902
Zwölftes Kapitel
Der Mutter letzte Krankheit
Der Herbst des Jahres 1863 war herangekommen. Will hatte sich, obwohl noch nicht ganz achtzehn Jahre alt, zu einem stattlichen, kräftigen und athletisch gebauten jungen Mann entwickelt. Unsere älteste Schwester Julia war seit dem verflossenen Frühjahr an einen Mr. J. A. Goodman verheiratet.
Die Lebenskräfte unserer armen Mutter aber waren von Tag zu Tag schwächer geworden. Wir, die wir stets um sie waren, hatten uns kaum Rechenschaft darüber gegeben, Will aber war aufs Höchste bestürzt über die Veränderung, die sich während der wenigen Monate seiner Abwesenheit an ihr vollzogen hatte. Nur durch Anspannung äußerster Willenskraft war sie imstande gewesen, ihre körperliche Hinfälligkeit so lange zu besiegen. Nun aber brach sie zusammen, und es schien uns, als ob ihr Körper sichtlich dahinschwinde.
Will war in der Tat keine Minute zu früh nach Hause gekommen, denn schon drei Wochen nach seiner Rückkehr teilte der Arzt unserer guten Mutter mit, dass sie nur noch wenige Stunden zu leben habe und etwaige letztwillige Verfügungen lieber gleich treffen möge. Noch am selben Abend wurden wir Kinder eines nach dem anderen zu ihr gerufen und empfingen ihr letztes Lebewohl und ihren Segen. Die Mutter war eine fromme Christin, unter uns Kindern aber schien ich zu jener Zeit die einzige religiös angelegte Natur zu sein. So jung ich damals noch war, so hat mich doch die Erinnerung an jene feierliche Stunde, da die Mutter mir das geistige Wohl der Familie ans Herz legte, mein ganzes Leben hindurch begleitet. Nachdem ich an ihrer Seite niedergekniet war, und sie meinem kindlichen Gemüt nicht die Kümmernisse des Todes, sondern die Seligkeit der Auferstehung einzuprägen versucht hatte, sagte sie mir Lebewohl, als ob sie im Begriff sei, eine schöne Reise zu unternehmen, und ich küsste sie zum letzten Mal in diesem Leben. Als ich sie dann wiedersah, war ihr Gesicht kalt und starr. Die schöne Seele hatte ihre irdische Hülle verlassen und wartete, ein verklärter Geist im Reich des Unsichtbaren, auf die Nachfolge der geliebten Wesen, deren Lebenslauf noch nicht vollendet war.
Julia und Will aber blieben die Nacht hindurch bei ihr. Kurz vor dem Tod kam noch etwas von ihrer einstigen, längst eingebüßten Lebhaftigkeit über sie – das letzte Aufflackern des Lebenslichtes vor dem Erlöschen. Bis gegen Morgen sprach sie fast ohne Pause mit ihren beiden ältesten Kindern. In ihre Hände wurde die Aufgabe niedergelegt, die jüngeren Geschwister zu erziehen, und tief grub sich diese Verpflichtung in ihre Herzen und Gewissen ein. Charlie, der während der ersten Unruhen in Kansas geboren war, hatte der Mutter immer Sorge gemacht, und seine Zukunft bedrückte ihre Seele nun ganz besonders.
»Wenn es den Dahingeschiedenen möglich ist«, sagte sie, »die Lebenden zu sich zu rufen, so werde ich mir Charlie holen.«
Nach Verlauf eines Jahres war auch Charlie von uns gegangen. Wer aber vermag zu sagen, ob das Sehnen eines Mutterherzens nach ihrem Kind nicht mächtiger ist als irdische Einflüsse?
Auch auf die Prophezeiung der Wahrsagerin, dass Wills Name in der ganzen Welt bekannt würde, kam die Mutter mit ihm zu sprechen, wobei sie ihm die Verantwortung klar zu machen versuchte, die ein solches Schicksal auferlege.
»Doch wisse«, sagte sie, »dass sich nur solche, die sich als rechtschaffen, brav, mäßig und wahr bewähren, einen ehrenhaften Ruf erwerben können. Auch vergiss es nie, dass derjenige, der sich selbst überwindet, größer ist als derjenige, der ›Städte gewinnt‹. Du hast bereits den Beweis geliefert, dass Gott dir große Fähigkeiten verliehen hat, doch bedenke, dass damit auch eine schwere Verantwortung auf dir lastet. Du bist mir immer ein guter Sohn gewesen, stets hast du mir in der Not beigestanden, so dass ich jetzt wenigstens mit dem Bewusstsein sterben kann, meine Kinder nicht ohne Mittel zurücklassen zu müssen. Ich wollte nicht, dass du Kriegsdienste nähmest, erstens weil du zu jung dazu warst, und zweitens weil mein Leben sich seinem Ende zuneigte. Doch nun bist du fast achtzehn Jahre alt, und wenn nach meinem Tode das Vaterland deiner Dienste bedarf, so bitte ich dich jetzt, werde Soldat und kämpfe für die Sache, der dein Vater sein Leben geopfert hat.«
In derselben liebevoll ermahnenden Weise sprach sie weiter, bis sie erschöpft in einen sanften Schlummer versank. Beim Erwachen versuchte sie, sich in die Höhe zu richten. Will sprang herzu, um sie zu stützen. Allein den Blick nach oben gerichtet, als schaue ihr Auge dort unaussprechliche Dinge, verschied sie in Wills Armen.
Mit dem Morgen des 22. November 1863 brach der schmerzlichste Tag unseres Lebens an. In einem hässlichen alten Rumpelwagen machten wir mit der Leiche die lange, kalte, traurige Fahrt nach dem Friedhof auf dem Pilot Knob. Wir wollten, dass unsere Eltern auch im Tode vereinigt sein sollten, wie sie es im Leben gewesen, und so senkten wir die Mutter in ein neben dem Vater gelegenes Grab.
Die vom Kirchhof ausgehende Straße teilte sich kurz vor Leawenworth in zwei Wege, von denen der eine nach der Stadt, der andere, sich längs des Government Hill hin windend, nach unserem Hause führte. Als wir nun bei der Rückkehr an dieser Gabelung angelangt waren, sprang Will plötzlich aus dem Wagen.
»Ich kann nicht nach Hause zurückkehren, nun ich weiß, dass die Mutter nicht mehr dort ist«, sagte er. »Ich gehe nach Leawenworth zu Eugen Hathaway und übernachte bei ihm.«
Will tat uns von Herzen leid – er und die Mutter waren sich gegenseitig so viel gewesen – und so machten wir auch keinerlei Einwand, was wir sicherlich getan haben würden, wenn wir den wirklichen Zweck seines Besuches gekannt hätten.
So waren wir am nächsten Morgen natürlich im höchsten Grade überrascht, als wir ihn und Eugen in der blauen Uniform eines Soldaten der Vereinigten Staaten in den Hof reiten sahen. Überwältigt von Schmerz über der Mutter Tod, glaubten wir es nicht ertragen zu können, nun auch noch unseren großen Bruder in den Krieg ziehen lassen zu müssen. Wir drohten ihm, den Werbeagenten zu verraten, dass er noch nicht ganz achtzehn Jahre alt sei. Will aber war es zu ernst mit seinem Vorhaben, als dass er sich von unseren Einwänden hätte beeinflussen lassen. Da das Regiment, dem er zugeteilt war, bereits seinen Marschbefehl erhalten hatte, so war Will nur zum Abschiednehmen nach Hause gekommen. Dann ritt er hinaus, den Mühseligkeiten, Gefahren und Entbehrungen eines Soldatenlebens entgegen. Und doch war er zu beneiden, denn in der Freude an Arbeit und Tätigkeit konnte er am ehesten seinen Schmerz betäuben, wogegen wir das den Frauen und Mädchen gewöhnlich zufallende Los ertragen mussten – ein tatenloses Warten, während das Herz von Angst, Sorge und Ungewissheit über das Schicksal eines geliebten Wesens, das in täglicher, ja stündlicher Gefahr steht, verzehrt wird.
Der dem Regiment Wills zugegangene Marschbefehl wurde indes widerrufen, und so blieb Will noch einige Zeit in Leawenworth. Man kannte dort seine im wilden Westen gesammelten Erfahrungen wohl, und diesem Umstand ist es wahrscheinlich zuzuschreiben, dass man ihn zum Überbringer militärischer Depeschen nach Fort Larned bestimmte. Einigen unserer einstigen Feinde von der Sklavenpartei, die im Begriff waren, sich der Armee der Südstaaten anzuschließen, kam Wills Auftrag zu Ohren. Sie beschlossen, diese Gelegenheit nicht unbenutzt vorübergehen zu lassen und ihrem alten Groll gegen den Vater dadurch Genüge zu tun, dass sie den Sohn umbrachten. Die Ermordung konnte ja unter dem Vorwand geschehen, dass sie ihrer Partei damit einen Dienst hatten erweisen wollen. Es wurde somit der Plan gefasst, Will am Ufer eines zu durchquerenden Flüsschens aufzulauern und ihm seine Depeschen abzunehmen.
Die Verschwörung wurde Will jedoch verraten. Bei einem Auftrag, wie dem seinen, ist ja ohnedies jeden Augenblick die äußerste Vorsicht zu beobachten, und nun Will von dem ihm drohenden Überfall wusste, war er vollends die Wachsamkeit selbst. Dabei kamen ihm seine Kenntnisse der indianischen Kriegsführung ungemein zu statten. Kein Baum, kein Felsen oder Hügelchen entging seinem scharfen Blick. Als er in die Nähe des Flüsschens kam, bei dem der Überfall zu erwarten war, verließ er den Pfad, um sein Pferd einige hundert Yards oberhalb des gewöhnlichen Übergangs durch den Fluss waten zu lassen, allein er fand ihn von den kurz vorher niedergefallenen Regengüssen so sehr angeschwollen, dass er es nicht wagen konnte. So ritt er vorsichtig zurück auf den Pfad.
Das Lager der Mörder befand sich etwa zwei- bis dreihundert Yards vom Flüsschen entfernt. Im Schutz der hereinbrechenden Dämmerung und des mit hohem Buschwerk bewachsenen Ufers hoffte Will, seinen Feinden ein Schnippchen zu schlagen und unbemerkt über das Flüsschen zu kommen, umso mehr, als er annehmen durfte, dass ihn seine Feinde aus einer anderen Richtung erwarteten.
Als er an der Stelle angelangt war, von wo aus er die kleine Höhle sehen konnte, in der sich die Männer aller Wahrscheinlichkeit nach versteckt hielten, bemerkte er fünf gesattelte, in einem Dickicht verborgene Pferde.
»Fünf gegen einen, dagegen wäre nicht leicht aufzukommen, wenn sie mich sehen«, sagte er zu sich selbst, während er, die geladene Flinte in der Hand, langsam und ruhig weiterritt.
»Jungens, da reitet er, dort drüben bei der Furt!«, ertönte es plötzlich aus dem Lager, und ein Schuss krachte. Einige weitere Kugeln folgten, und aus einem plötzlichen Satz seines Pferdes musste Will schließen, dass es verwundet sei. Rasch ritt er ins Wasser hinein, wandte sich dann im Sattel um und zielte blitzschnell auf einen gerade noch in Schussweite befindlichen Mann. Der Bursch wankte und stürzte zu Boden, während Will seinem Pferd die Sporen gab und sich erst wieder umwandte, nachdem das andere Ufer erreicht war. Ihre Flinten auf ihn abfeuernd, kamen die übrigen Männer gegen das Ufer gelaufen, wo sie von Wills rasch aufeinander folgenden Schüssen empfangen wurden. Nachdem Will etwa zwei- bis dreihundert Yards Vorsprung gewonnen hatte, brauchte er unberittene Verfolger nicht mehr zu fürchten, und bis diese ihre Pferde erreicht und bestiegen hatten, war er längst außer Gefahr. Dabei hing alles von seinem Pferd ab. Konnte es bei seiner Verwundung die eingeschlagene rasche Gangart lange aushalten? Allein Meile um Meile wurde zurückgelegt, ehe das mutige Pferd zusammenbrach. Will nahm nun Sattel und Zaumzeug auf den Rücken und setzte seinen Weg zu Fuß fort. Nach kurzer Zeit kam er an eine Ansiedlung, verschaffte sich dort ein neues Reitpferd und war bald in Fort Larned angekommen.
Schon nach wenigen Stunden Rast begab er sich dann mit dem Antwortschreiben auf den Rückweg nach Fort Leawenworth. In der Nähe der Furt verdoppelte er, obwohl er kaum einen erneuten Angriff erwartete, seine Wachsamkeit. Die fünf Männer mussten ihres Sieges über einen einzigen Jüngling so sicher gewesen sein, dass sie sich nicht die Mühe genommen hatten, sich zu vermummen, und so hatte Will mehrere von ihnen erkannt. Er seinerseits war überzeugt, dass sie alle so rasch als möglich der Gegend den Rücken gekehrt hatten. Nichtsdestoweniger gebrauchte er die größte Vorsicht und hielt die Flinte zum Schuss bereit.
Da hörte er aus der Richtung der Höhle einen leisen Ruf ertönen, der sich jedoch nicht wiederholte, und dem dumpfe Klagetöne folgten.
Es war nicht ausgeschlossen, dass man ihm eine Falle stellen wollte. Trotzdem ritt Will etwas näher heran und rief: »Wer ist da?«
»Um Gottes Barmherzigkeit willen, kommen Sie herein! Ich sterbe hier ganz verlassen«, lautete die flehentliche Bitte.
»Wer sind Sie?«
»Ed Norgroß.«
Nun sprang Will vom Pferd. Es war der Mann, auf den er geschossen hatte. Rasch trat er in die Höhle.
»Was fehlt Ihnen?«, fragte er.
»Ich bin von einer Kugel verwundet worden«, antwortete Norgroß stöhnend, »meine Kameraden ließen mich im Stich.«
Will befand sich nun dem armen, auf dem Boden liegenden Mann gegenüber.
»Will Cody, du bist es!«, rief er.
Will kniete neben dem Sterbenden nieder, die Gemütsbewegung hinunterwürgend, die die Erinnerung an Jahre warmer Freundschaft in ihm hervorgerufen hatte.
»Mein armer Ed!«, murmelte er. »Und meine Kugel war es, die dich zu Boden streckte.«
»Es geschah in Verteidigung deines eigenen Lebens, Will«, sagte Norgroß. »Gott ist mein Zeuge, ich mache dir keinen Vorwurf daraus, denke nur du nicht zu schlecht von mir. Glaube mir, ich tat alles, um dich zu retten. Von mir ging jene Warnung aus. Ich hoffte, du werdest einen anderen Pfad ausfindig machen.«
»Ich schoss nicht mit den anderen«, fuhr Norgroß nach kurzem Schweigen fort. »Sie ließen mich hier liegen und versprachen mir Hilfe zu schicken, taten es aber nicht.«
Will füllte die leere, auf dem Boden liegende Feldflasche mit frischem Wasser und brachte die wollene Decke in Ordnung, die als Kopfkissen diente, dann bot er sich an, die Wunde zu verbinden. Allein schon legten sich die Schatten des Todes auf Norgroß’ Gesicht.
»Lass nur gut sein, Will«, flüsterte er, »es lohnt sich nicht mehr. Aber bleibe bei mir, bis ich tot bin.«
Die Krankenwache dauerte nicht lange. Neben seinem alten Freund sitzend, befeuchtete er ihm mit Wasser die bleichen Lippen. Rasch nahte das Ende heran. Will drückte dem Freund die Augen zu und faltete ihm die Hände über der Brust, dann verließ er, einen letzten Blick nach dem Jugendgefährten zurückwerfend, die Höhle.
Zum ersten Mal hatte er etwas von der Härte und Grausamkeit des Krieges gekostet, und mit ernster, niedergeschlagener Miene vollendete er den Dienst der Reise.
In der Nähe von Leawenworth traf er jenen Freund, der ihm im Auftrag des Toten jene Warnung übermittelt hatte, und ihn beauftragte er nun, den Leichnam nach Hause zu bringen. Wills niedergedrückte Stimmung aber konnte selbst durch die ihm von dem Befehlshaber des Forts Leawenworth dargebrachte Beglückwünschung über den Mut und die Geistesgegenwart, womit er sein Leben sowohl als auch die Depeschen gerettet hatte, nicht gehoben werden.
Diesem Ereignis folgte wieder eine Zeit der Untätigkeit, was für einen Burschen von Wills lebhaftem Temperament keine leichte Geduldsprobe war. Inzwischen aber hatten auch wir zu Hause unsere kleinen Unannehmlichkeiten zu bestehen.
Die Entscheidung Schwester Julias, dass es für uns nun an der Zeit sei, die Dorfschule zu verlassen und die höhere Schule von Leawenworth während des Winter- und Frühlingsemesters zu besuchen, wurde mit großer Freude begrüßt. Bei den Kleidern aber, die Julia uns dazu anfertigte, folgte sie noch ganz der alten, ländlichen Mode, die mehr auf Dauerhaftigkeit als auf Schönheit berechnet war. Noch befanden wir uns keinen Tag in der Stadtschule, so mussten wir die schmerzliche Entdeckung machen, dass uns wegen unseres Anzugs in großen Buchstaben der Stempel bäurisch aufgedrückt worden war. Zudem hatte unser Schwager in dem Bestreben, unser Vermögen möglichst sparsam zu verwalten, jeder von uns ein Paar äußerst grobe Kalbslederstiefel gekauft. An ein solch derbes Schuhzeug waren wir nun aber durchaus nicht gewöhnt, da die Mutter uns stets mit zwar praktischen, aber doch niedlichen Schuhen ausgestattet hatte. Der Urheber unseres tiefen Verdrusses, der für die schüchterne, empfindsame Seele eines Schulmädchens kein Verständnis hatte, lachte nur über unsere Einreden, und zu seiner Rechtfertigung muss gesagt werden, dass er in der Tat keine Ahnung von den Qualen hatte, die er uns auferlegte.
Nun wandten wir uns an Will. In jeder Not war ja er unser erster Gedanke, diesmal aber mussten wir es erleben, dass selbst seine Macht eine Grenze hatte, die wir uns nicht träumen ließen. Er antwortete auf unseren Brief, dass er kein glänzend bezahlter Ponyreiter mehr sei, sondern nur die bescheidene Löhnung eines Soldaten beziehe, und dass sogar ihre Ausbezahlung diesmal im Rückstand geblieben sei. Selbstvorwürfe erstickten unsere Enttäuschung. Hätten wir vorher bedacht, wie schwer ihm eine abschlägige Antwort fallen musste, so würden wir den Brief nicht abgeschickt haben, worin ihm nur in zarter Anspielung die schöne Gelegenheit geboten war, schwesterlichen Kummer zu beseitigen. Mit Freuden hatte er bisher alle unsere Wünsche erfüllt, nun aber gehörten seine Pflichten vor allem dem Vaterlande. Bald jedoch erhielten wir einen zweiten Brief, der unsere zarten Gewissen wieder beruhigte.
Liebe Schwestern!
Es tut mir herzlich leid, dass ich Euch keine Kleider nach Eurem Geschmack beschaffen kann. Während ich dies schreibe, ist mein Beutel so leer, dass, wenn ein ganzer Mississippidampfer für zehn Cents feil wäre, ich mir nicht ein Brett davon verschaffen könnte. Bald hoffe ich jedoch, meine Löhnung zu erhalten, und dann will ich sie Euch bis auf den letzten Cent schicken. Ertragt also in Gottes Namen die Unannehmlichkeit geduldig noch ein Weilchen. Inzwischen will ich an Al. schreiben.
In Liebe
Euer Will.
Ja, beruhigt hatte uns der Brief, zugleich aber war auch meine letzte Hoffnung dahingeschwunden. Ich hatte die anstoßerregenden, von meinem Vormund angeschafften Schuhe noch niemals getragen, und nun beabsichtigte ich, mich ihrer für immer zu entledigen. Mit einem gefälligen Hebräer schloss ich einen meiner Ansicht nach sehr vorteilhaften Handel ab und gelangte in den Besitz von ein Paar glänzenden Saffianschuhen, die etwa ein Drittel von dem wert waren, was die meinen gekostet hatten. Das Schlimmste dabei aber war, dass sie zwar wie Schuhe aussahen, sich aber für den täglichen Gebrauch durchaus nicht eigneten. Dennoch erfüllten sie ihren Zweck, denn der Tausch brachte meinem Vormund die Überzeugung bei, dass die Anschaffung von Kalbslederschuhen – wenigstens von solchen nach seiner Bestellung – nicht die richtige Sparsamkeit sei. Kurze Zeit darauf erhielt er dann einen Brief von unserem Bruder, worin ihm dieser unsere Kümmernisse mitteilte und sich zu unserem Anwalt machte. Auch schickte uns Will seine ganze Monatslöhnung, sobald er sie ausbezahlt bekam.
Im Februar 1864 trat Sherman seinen Marsch durch den Staat Mississippi an. Das unter dem Namen Jennison-Jayhawkers bekannte siebente Kansasregiment wurde in Leawenworth mit gedienten Soldaten reorganisiert und nach Memphis, Tennecticut, gesandt, wo es sich dem Oberbefehl des Generals A. J. Smith zu unterstellen hatte. Dieser sollte gegen General Forrest vorgehen und den Rückzug des Generals Sturgis decken, der bei Cross Roads von General Forrest eine böse Schlappe erhalten hatte. Wills glühender Wunsch war, an einer großen Schlacht teilzunehmen, und so ließ er durch einige mit ihm bekannte Offiziere ein Gesuch übermitteln, in jenes Regiment versetzt zu werden. Die Bitte wurde gewährt, und sein Entzücken kannte keine Grenzen. Uns schrieb er, dass sein heißes Sehnen sich der Erfüllung nähere, und er nun hoffentlich bald wissen werde, was eine wirkliche Schlacht sei.
In der Kriegsführung der Indianer war er wohl bewandert; nun brannte er darauf, aus eigener Erfahrung auch den Kampf zwischen zivilisierten Gegnern kennen zu lernen.
General Smith hatte sich über die Leistungen des jungen Mannes als Präriekundschafter unterrichten lassen, und schon einige Tage nach Wills Ankunft in Memphis erhielt er den Befehl, sich behufs besonderer Dienstleistungen ins Hauptquartier zu begeben.
»Ich muss durchaus zuverlässige Kenntnisse über die Lage und Bewegungen des Feindes haben«, sagte der General zu Will. »Diese können aber nur im Lager der Südstaatenarmee selbst erlangt werden. Sie haben die nötigen Eigenschaften: Energie, Kaltblütigkeit und Gewandtheit – ich glaube, Sie wären der richtige Mann dazu.«
»Sie wollen damit sagen«, antwortete Will ruhig, »dass ich als Spion ins Lager der Feinde gehen soll?«
»Ganz richtig. Doch müssen Sie sich die Gefahr klarmachen, der Sie sich dabei aussetzen. Wenn Sie gefangen genommen werden, knüpft man Sie auf.«
»Ich bin bereit, den Auftrag zu übernehmen, Herr General«, sagte Will, »und zwar sofort, wenn Sie es wünschen.«
General Smiths strenges Gesicht heiterte sich bei dieser raschen Antwort auf.
»Ich bin überzeugt, Cody«, sagte er freundlich, »dass wenn irgendjemand die Sache glücklich zu Ende führen kann, Sie die richtige Persönlichkeit dazu sind. Ihre Kämpfe mit den Indianern waren eine gute Vorbereitung für Ihre bevorstehende Arbeit, die eine rasche Entschlossenheit und unermüdliche Wachsamkeit erfordert. Ich zwinge niemals jemand zu einem derartigen Dienst, doch wenn Sie freiwillig gehen wollen, so nehmen Sie diese Landkarten mit in Ihr Quartier und studieren Sie sie gründlich. Heute Abend erwarte ich Sie wieder hier, um Ihnen genaue Verhaltungsmaßregeln zu geben.«
Während der wenigen Tage, die sein Regiment im Feldlager verbrachte, hatte Will bereits zwei oder drei Rekognoszierungsritte unternommen, sodass ihm die unmittelbare Umgebung der hier zusammengezogenen Streitmächte der Union ziemlich bekannt war. Die Karten erwiesen sich als ungewöhnlich genau, denn Seen, Flüsse, Bäche und Verkehrswege, ja selbst die von einer Ansiedlung zur anderen führenden Nebenpfade waren sorgfältig eingezeichnet.
Bei einem dieser Ritte hatte Will sogar einen Soldaten der Südstaatenarmee gefangen genommen, der sich als ein alter Bekannter von ihm erwies. Will und Nad Golden waren einmal zusammen bei einem der Frachtzüge der Firma Russell, Majors Waddell angestellt gewesen. Bei irgendeiner Gelegenheit hatte Will Nad Golden das Leben gerettet und sich dessen andauernde Freundschaft erworben. Nad stammte aus dem Osten, war aber, wie noch so viele andere, von der Sehnsucht nach dem fernen Westen gepackt worden und von Hause fortgelaufen, um sich dem freien Prärieleben hinzugeben.
»Das ist wirklich zu dumm«, sagte Will, als er seinen alten Freund erkannte. »Jeden anderen Kerl hätte ich lieber gefangen genommen als gerade dich. Ich mag dich doch nicht als Gefangenen ins Lager bringen. Wie konntest du dich auch von den Konföderierten anwerben lassen?«
»So ist es nun eben einmal im Krieg, mein alter Billy«, antwortete Nad lachend. »Freund kehrt sich gegen Freund und Bruder gegen Bruder, heißt es bekanntlich. Übrigens wäre ich jetzt nicht dein Gefangener, wenn mir meine Flinte nicht versagt hätte. Nun aber bin ich freilich froh darüber, denn ich hätte nicht derjenige sein mögen, der dich niederschießt.«
»Und ich mag es nicht mit ansehen, dass man dich aufknüpft«, sagte Will, »gib mir also die Papiere, die du bei dir trägst, dann bringe ich dich als gewöhnlichen Gefangenen in unser Lager.«
Mit erblasstem Gesicht fragte Nad: »Hältst du mich denn für einen Spion?«
»Ich weiß, dass du einer bist.«
»Nun denn«, lautete die Antwort, »ich habe zwar mein Leben zur Erlangung dieser Papiere aufs Spiel gesetzt, da man sie mir ja aber doch abnehmen wird, so ist es wohl klüger, sie gleich jetzt herzugeben und dadurch dem Galgen zu entgehen.«
Eine Prüfung der Papiere ergab, dass sie Karten enthielten, in denen sich die Stellung und Lage der Unionsarmee aufs Genaueste eingezeichnet fand, außerdem aber auch noch wertvolle Verzeichnisse, die über die Zahl der Mannschaft und Offiziere und die beabsichtigten Truppenbewegungen Aufschluss gaben. Will vernichtete diese Papiere nicht, sondern wollte sie nun zu seinem eigenen Vorteil benutzen. Als er sich am Abend zur Empfangnahme seiner Verhaltungsbefehle im Zelt des Generals Smith einfand, sagte er deshalb: »Ich schloss aus der unvorsichtigen Rede eines Soldaten, der gestern gefangen genommen wurde, dass es einem Spion der Südstaatenarmee gelungen ist, sich Karten und Verzeichnisse über die Lage unserer Truppen zu verschaffen und sie dem Feinde zu übermitteln.«
»Wirklich?«, fragte der General. »Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Mitteilung und werde meine Verfügungen sofort ändern, damit seine Berichte für den Feind wertlos werden.«
Hierauf wurden dem freiwilligen Kundschafter die genauesten Instruktionen über seinen künftigen Auftrag erteilt.
»Wann gedenken Sie sich auf den Weg zu machen?«, fragte der General.
»Noch diese Nacht. Ich habe mir bereits eine Uniform verschafft und alles zu meinem Abgang vorbereitet.«
»Sie wollen also die Flagge wechseln, was?«
»Für den Augenblick ja, doch nicht meine Grundsätze.«
Beifällig ruhte der Blick des Generals auf Will.
»Sie werden all Ihren Verstand und Mut und Ihre ganze Energie und Vorsicht brauchen, wenn Sie diese harte Probe bestehen wollen«, sagte er. »Ich bin aber überzeugt, dass Sie die Sache durchführen werden, und verlasse mich ganz auf Sie. Leben Sie wohl, möge das Glück Sie begleiten!«
Noch ein warmer Händedruck, dann kehrte Will in sein Zelt zurück und legte sich einige Stunden zur Ruhe nieder. Gegen vier Uhr befand er sich bereits im Sattel und auf dem Weg zum feindlichen Lager.