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Detektiv Nobodys Erlebnisse und Reiseabenteuer Band 1 – Teil 9

Detektiv Nobodys Erlebnisse und Reiseabenteuer
Nach seinen Tagebüchern bearbeitet von Robert Kraft
Band 1
Kapitel 2, Teil 4

Der Tag, an welchem der Amerikaner den Unter­suchungsgefangenen erfolglos besucht hatte, war seit jener Mordnacht der neunte gewesen. Vier Tage später sprachen die Geschworenen über den des überlegten Mordes schuldig Befundenen das Urteil aus, welches diesmal Sir Edward Clane nicht hatte mildern können. Es lautete auf den Tod durch den Strang. Und wiederum vier Tage später musste die­ses Urteil vollstreckt sein.

Die Hinrichtung sollte auf der üblichen Stätte vollzogen werden. Es ist dies in Newgate ein unbe­deckter Hof, welcher nichts weiter als den hohen Galgen enthält. Die Flaggenstange steht daneben auf dem Dache eines Hauses, es weht ständig eine weiße Fahne daran, nur bei einer Hinrichtung wird sie durch eine schwarze ersetzt, und an demselben Hause ist auch die elektrisch funktionierende Sün­derglocke angebracht.

Sitzplätze für die Zuschauer gibt es nicht, alles muss stehen, ohne Schutz vor der Witterung. Öffentlich sind diese Hinrichtungen natürlich nicht mehr, Billetts kann man sich nicht kaufen. Es sind aber außer den Richtern und Beamten doch immer noch Zuschauer vorhanden: die Geschwore­nen, die Zeugen, welche in dem Prozess mitgewirkt haben, die Berichterstatter der großen Zeitungen, und auch sonst können einzelne Personen Zutritt erhalten, wenn sie sich darum bemühen und Pro­tektion haben.

So war auch Mr. Beken zugegen, um den Japaner sterben zu sehen, dessen Vater er gekannt. Sir Edward Clane hatte ihm auf seine Bitte eine Karte verschafft.

Die letzte Minute war da. Aus dem Portal jenes Hauses kam Keigo Kiyotaki in Begleitung zweier Wächter, in einem grauen Anzug, den Oberkörper in einer Art von Zwangsjacke, an der die Hände und Arme festgeschnallt sind.

Es war ihm nichts anzumerken. Gelassen schritt er über den Hofraum und stieg die breite Treppe zum Galgen hinauf. Auf dem Forum angelangt, musste er stehen bleiben, die weiße Flagge wurde mit der schwarzen vertauscht, der Richter verlas nochmals das Urteil, der als Gentleman gekleidete Henker sprach seine Formel, legte dem Delinquen­ten die Schlinge um den entblößten Hals, trat zu­rück, und alles war fertig, der dem Tode Geweihte stand bereits auf dem Fallbrett.

Bim … bim … bim …

»Haltet ein!«, donnerte da plötzlich eine Stimme.

»Keigo Kiyotaki ist unschuldig!«

Mr. Beken war es, der es mit machtvoller Stimme gerufen hatte und dabei mit ausgestrecktem Arm weit vorgetreten war.

Es lässt sich denken, was für eine Bestürzung diese Worte hervorriefen. Selbst das Armesünderglöcklein konnte vor Schreck nicht den vierten Ton her­vorbringen – der den Apparat bedienende Beamte hatte den Mechanismus ausgeschaltet.

»Was sagen Sie da? Mann, wer sind Sie?«, erklang es von berufener Seite.

»Keigo Kiyotaki ist unschuldig! Mein Name ist Nobody! Ich bin Berichterstatter von der in New-York und London erscheinenden Zeitung WORLDS MAGAZINE!«

Wiederum eine furchtbare Erregung und überall die zweifelndsten Gesichter.

Wie, das war dieser vielgenannte Nobody, der sich hier hereinmischte, das war der Privatdetektiv von jener amerikanischen Schwindelzeitung?

Wir werden noch später sehen, weshalb diese Namen in England einen so schlechten Klang hatten.

»Und Sie behaupten, der Verurteilte sei an der Ermordung von Loftus Deacon unschuldig?«

»Ich behaupte es nicht, sondern ich weiß es! Ich verlange, sofort als Zeuge vernommen zu werden! Keigo Kiyotaki ist völlig unschuldig! Ich habe den wahren Mörder gefunden!«

Man reißt und schleppt sie vor den Richter,
die Szene wird zum Tribunal

Dass eine Hinrichtung unterbrochen wurde, ist nur zweimal passiert, solange Newgate steht. Dies hier war also der zweite Fall.

Die Wiederaufnahme des Prozesses vor den Richtern geschah sofort – sofort! Freilich nicht auf der Hinrichtungsstätte.

Unterdessen aber hatten auch schon die Richter die Nummer von WORLDS MAGAZINE in die Hände be­kommen, beim dritten Glockenzeichen ausgerufen, in dem Augenblick, als jener Nobody mit seiner Behauptung aufgetreten war, und was man da zu lesen bekam, das war unerhört! Alles war wie vor den Kopf geschlagen, am allermeisten die Richter.

Aber wehe, wehe, wenn dieser Mann, der sich Nobody nannte, hier einen seiner genialen Yankee­streich zum Besten geben wollte!

»Ihr Name?«

»Nobody.«

»Vorname?«

»Habe keinen.«

»Wann sind Sie geboren?«

»Ich spreche nicht über meine Vergangenheit, ich verlange, mit Keigo Kiyotaki konfrontiert zu werden, um hier öffentlich seine Unschuld zu be­weisen, um einen Justizmord zu verhüten.«

Es lag hier ein solch außergewöhnlicher Fall vor, dass alles andere als Nebensache betrachtet wurde.

Keigo Kiyotaki ward nun wieder als Untersu­chungsgefangener vorgeführt. Man sah ihm an, wie unwirsch er war, wie er seine alte Gleichgültigkeit gegen alles zwar noch zu heucheln versuchte, aber mit wenig Glück. Mit geheimer Angst blickte er auf den alten Herrn, welche Maske Nobody beibehielt.

»Keigo Kiyotaki«, redete ihn dieser, dazu aufgefor­dert, jetzt an, »hast du an jenem Tag, an welchem du dich in London aufhieltest und an welchem Loftus Deacon ermordet worden ist, mit diesem gesprochen?«

»Nein.«

Es war das erste Wort, welches man wieder von dem jungen Japaner hörte, und es war so unsicher herausgekommen.

»Du hast ihn gesprochen! Ich weiß es bestimmt!«, rief Nobody in fast drohendem Ton. »Wo hast du ihn gesprochen?«

Keine Antwort. Der Japaner bereute schon sein erstes Wort. Er wollte wieder stumm werden.

»Am Abend in der sechsten Stunde, gerade, als die Figur in das Haus geschafft wurde und die Hausflur voller Menschen war, hast du dich zu ihm begeben, in sein Haus, hast mit ihm unter vier Augen gespro­chen. Stimmt das nicht?«

Der Japaner riss nur die Augen weit auf und starrte den Sprecher an.

»Dann müsste er doch gesehen worden sein«, meinte einer am Richtertisch.

»So? Dann müsste er auch gesehen worden sein?«, wiederholte Nobody spöttisch. »Ich denke, es sei so einfach für den Mörder gewesen, sich in dem Haus, in dem es damals so lebhaft zuging, ein- und auszuschleichen? Keigo Kiyotaki, hat dir Loftus Deacon das Masamune-Schwert nicht freiwillig ausgehändigt?«

»Ja«, erklang es wieder gepresst.

»Ach, daran ist ja gar nicht zu denken«, wurde abermals am grünen Tisch gesagt. »Mr Deacon hätte nicht für alle Schätze der Welt …«

»Bitte, so unterbrechen Sie meine Beweisführung doch nicht immer!«, rief Nobody ungeduldig. »Ich habe Ihnen doch soeben gezeigt, dass Sie sich selbst widersprechen. Keigo Kiyotaki, was hast du ihm für dieses Masamune-Schwert gegeben?«

Lange blieb die Antwort aus, mit fest zusammen­gepressten Lippen stierte der Japaner auf den ihm unbekannten Mann, und unverkennbare Angst sprach aus seinen Augen.

»Nichts«, erklang es dann heiser, und nun wur­den auch die Richter stutzig.

Nobody streckte den Arm gegen ihn aus.

»Keigo Kiyotaki«, sagte er, jedes Wort betonend, »du … hast … ihm … ein … Monikono dafür gegeben!«

Es war nicht anders, als ob der Japaner plötzlich vom Blitz getroffen worden wäre. Einen gellenden Schrei ausstoßend, schlug er die Hände vor das Gesicht und stürzte rücklings zu Boden. Die herbei­springenden Konstabler fanden ihn zwar nicht tot, aber er war nicht zum Aufstehen zu bewegen, er musste hinausgetragen werden.

In dem Gerichtssaal war ein kleiner Tumult entstanden. Erklären konnte sich das hier vorlie­gende Rätsel niemand.

»Armer Kerl«, ließ sich Nobody vernehmen, als die Ruhe wiederhergestellt war, »ich musste ihn ver­nichten, um ihn retten zu können.«

»Aber so erklären Sie doch! Was ist das eigentlich, ein Monikono? Mr. Scott, wissen Sie das?«

Der Gefragte, welcher bei den Gerichtsverhand­lungen als Sachverständiger über japanische Ver­hältnisse fungiert hatte, gab eine Erklärung.

Monikono war gleichfalls ein japanischer Waffen­schmied, welcher Katanas fertigte. Aber während Masamune im 4. Jahrhundert nach Christi lebte, hat Monikono seinen Beruf noch vor Beginn unserer Zeitrechnung ausgeübt. Sind schon die Masamune-Schwerter in Japan sehr selten und so wert gehalten, dass nur das Petersburger Museum durch Zufall in den Besitz eines solchen gekommen ist – und dann also Loftus Deacon – so existierte von den Monikono-Schwertern auch in Japan überhaupt nur ein einziges Exemplar.

»Ich kann mir gar nicht denken, Herr, wie dieser junge Japaner zu einem Monikono-Katana gekom­men sein soll«, wendete sich der Sachverständige an Nobody, »ich weiß bestimmt, dass sich nur noch ein einziges Monikono vererbt – das ist im Besitz des Mikado.«

»Nun, es hat früher doch noch andere Monikonos gegeben, wo sind denn die alle hin?«

»Die ruhen sämtlich in japanischen Fürstengrä­bern, das kann ich beweisen.«

»Naja, ganz einfach, der Junge hatte eine solche Liebe oder einen solchen Respekt vor seinem Vater, dass er vor nichts zurückschreckte. Der ist damals, als ihm Deacon das Katana gegen Geld nicht aus­händigen wollte, wieder nach Japan gegangen und hat ein Fürstengrab geplündert. Bei einem Monikono griff der alte Raritätensammler natürlich mit beiden Händen zu, dafür gab er sein Masamune gern her.«

Dass hier etwas ganz Außergewöhnliches vorlag, erkannten die Richter hauptsächlich an dem Be­nehmen des Sachverständigen. Dieser blickte starr nach dem Sprecher, schnalzte mit den Fingern und stieß, seine Umgebung vergessend, einen langen Pfiff aus.

»Wahrhaftig, das wäre eine Lösung! Um diesen Preis hätte Mr. Deacon das Masamune wohl wegge­geben!«

»Deacons Diener, Mr. Jensy«, fuhr Nobody fort, sich wieder gegen den Richtertisch wendend, »will doch noch gegen zehn Uhr abends das Schwert auf dem Altar vor den Füßen des Götzen haben liegen sehen.«

»Allerdings.«

»Nein, das war nicht mehr das Katana des Masamune, das war schon das Monikono! Weil Mr. Deacon gar nichts davon gesagt hat? Zu wem sollte er denn seiner Freude gleich Ausdruck geben? Und das können Sie mir glauben, dass er dem Japaner, der heimlich unter falschem Namen seine Heimat verließ und nach London kam, sein heiligstes Versprechen abgeben musste, diesen Tausch nicht gleich auszuposaunen, eine Zeit musste er wenigs­tens vergehen lassen, und niemals durfte er verra­ten, von wem er das Monikono bekommen hatte.«

»Ja, wo ist das Monikono aber jetzt?«

»Das hat sich eben der eigentliche Mörder angeeignet.«

»Sie wollen diesen Mörder gefasst haben?«

»Nicht gefasst, sondern entdeckt.«

»Wer ist es?«

»Ein Werftarbeiter Namens Slackjaw.«

Durch die Reihen der im Saal postierten Konsta­bler ging eine unruhige Bewegung, mit bestürzten Augen sahen sie einander an.

»Wissen Sie, wo dieser Mann jetzt ist?«

»Ja.«

»Wo?«

»Er befindet sich noch jetzt in Mr. Deacons Wohnung!«

 

Deacons Haus war entsiegelt worden, es wurde von einer richterlichen Kommission betreten – höchst vorsichtig, denn Nobody hatte sich nicht weiter ausgelassen, er blieb bei seiner Be­hauptung, der Mörder stecke noch in der Wohnung, und nun glaubte jeder der Herren, in dem einsamen Haus den Mörder plötzlich hinter einer Ecke her­vorspringen zu sehen.

»Hier riecht es aber übel«, meinte ein Herr, als das erste Zimmer geöffnet wurde.

»Nein, hier stinkt es sogar ganz tüchtig«, sagte No­body trocken.

Als aber nun gar die Tür desjenigen Zimmers auf­geschlossen wurde, in welchem der Mord gesche­hen war, da schlug ihnen eine wahre Pestluft entgegen.

»Hier liegt eine verwesende Leiche!«

Den Herren war schon eine Ahnung aufgegangen, nur gerade dieses Zimmer, in welchem Hachiman noch am Boden kauerte, hatte kei­ner in das Reich seiner Vermutungen gezogen.

»Treten Sie ein, meine Herren, wir sind am Ziel.« Nobody ging ohne Weiteres auf den Götzen zu, trat auf dessen ehernes Knie, sodass er den Zierrat auf dem Helm erreichen konnte, drehte diesen etwas und sprang wieder herab.

Dass dieser Zierrat zu drehen war, das hatten die Detektive und Ingenieure damals auch bemerkt, und sie hatten genug daran herum geleiert, aber einen Mechanismus, durch welchen das Schwert beweglich wurde, hatten sie dadurch nicht ent­deckt.

»Jetzt muss die Figur wieder auf das Postament gehoben werden. Oder es ist ja auch nicht nötig, wir brauchen sie nur umzulegen.«

Es waren kräftige Konstabler genug zur Stelle, es gelang ihnen, den ehernen Götzen sanft zur Seite zu legen.

»Die Figur ist hohl, und es ist Ihnen doch bekannt, dass Hachiman, wenn ihm ein Schwert geweiht wurde, Feuer und Rauch ausspie. Da war doch natürlich ein Priester drin, der diesen Hokuspokus machte. Wie kam der hinein? Einfach durch ein so­genanntes Loch. Passen Sie auf, meine Herren!«

Er stemmte die Hand gegen den Teil, auf welchem der Götze für gewöhnlich saß, der also nun bloßge­legt worden war, aber wie er auch drückte und was für andere Kraftanstrengungen er auch machte, es zeigte sich kein Erfolg.

Und was sollte denn auch geschehen? Die Ingenieure hatten die Figur doch gründlich genug untersucht, auch hier unten war keine Fuge eines Deckels zu bemerken, der etwa ein Mannloch ver­schlossen hatte. Alles war eben aus einem Guss.

»Nanu«, murmelte Nobody. »So schwer kann die Geschichte doch nicht gehen, und ich kenne meinen Freund Hachiman doch gut genug, um zu wissen, wo bei dem der Zimmermann das Loch gelassen hat. Sollte da … ach so, der Helmschmuck hat sich bei dem Umlegen wieder etwas verscho­ben. Der Schnabel muss nämlich genau zu der Schwertspitze weisen. Der Mechanismus ist sehr einfach, aber doch auch ganz genau gearbeitet.«

Er ging noch einmal nach dem Kopf, visierte, verbesserte die Stellung des Zierrates, begab sich zu den Füßen zurück, ein leiser Druck, und polternd stürzte eine Platte ins Innere, sodass ein großes Loch entstand.

Also doch ein Deckel, niemand hätte es für mög­lich gehalten. So genau war dieser Deckel hineinge­arbeitet worden.

Doch das war nun Nebensache. Mit einiger Scheu drängten sich die Herren herbei und starrten in das finstere Loch, aus welchem nun ein schrecklicher Geruch hervordrang.

Unbekümmert griff Nobody hinein, zog an etwas – ein mit einem plumpen Schuh bekleideter Fuß kam zum Vorschein. Nobody zog weiter, bis am Boden der ganze Mann lag, ein in Arbeitszeug gekleideter Mensch, klein und etwas verwachsen, zum Gerippe abgemagert, schon etwas verwest.

»Slackjaw!«, riefen zwei Konstabler gleichzeitig, wie alle Übrigen mit Entsetzen auf die Leiche blickend.

Nobody griff nochmals in das Loch, suchte mit der Hand darin, steckte sogar den Kopf hinein, bis er eine leere Schnapsflasche zum Vorschein brachte.

»Hier hatte er zunächst für Trinken gesorgt, oder doch für geistige Erfrischung … hier … ein Stück Zeitungspapier mit Fettflecken … da hatte er ein großes Butterbrot eingewickelt … es war aber nicht genug, um ihn vor dem Verhungern zu schützen … und hier … halt, was habe ich denn hier? Richtig, ein Monikono! Bitte, Mr. Scott, wollen Sie es auf seine Echtheit prüfen.«

Er gab jenem das aus dem Inneren hervorgezogene japanische Schwert, nicht anders als jenes andere aussehend, nur die blanke Klinge mit getrocknetem Blut bedeckt, und dann mit dem Zeichen eines an­deren Waffenschmiedes.

»Ein Monikono!«, hauchte Mr. Scott.

Sie alle blickten furchtsam auf dieses Schwert, furchtsam zu der am Boden liegenden Leiche, am allerfurchtsamsten aber zu dem rätselhaften Mann, welcher der ganzen Sache plötzlich solch eine Wendung gegeben hatte.