Kollektion Leo am Bruhl – Band 1
Dornbrunnen Taschenschmöker Sonderausgabe
Kollektion Leo am Bruhl – Band 1
Phantastische Geschichten von Leo am Bruhl
Gesammelt und herausgegeben von Lars Dangel
Der Höllengeiger
Kurzgeschichtensammlung, Paperback, Edition Dornbrunnen, Berlin, 2024, 164 Seiten, 9,95 EUR, ISBN 9783943275742
Klappentext:
Und dann … der Odem stockt mir jäh, Schauder treibt mir Tränen in die Augenwinkel … dann höre ich diese tappenden, schlurfenden Schritte nicht mehr aus der Höhlung des Lautsprechers, sondern … von draußen. Von draußen, von dem langen Flur vor meiner Tür. — Und ich weiß gut, dass ich allein im Hause bin — weiß, dass ich selbst vor zwei Stunden das Portal drunten verschlossen habe. — Das Heulen und Fauchen gefesselten Sturms!—Musik! — Oder rast der Wind draußen im Flur! — Ein Tasten, Kratzen, Scharren – als suche eine harte, eine knöcherne Hand die Türklinke! — Musik! — Nein, nein! — Auf meiner Stirn
stehen kalte Tropfen, meine Hände zittern in plötzlichem Krampf ich suhle den Mund offen vor Entsetzen …
Leo am Bruhl ist eine Größe der phantastischen Literatur, die nicht nur heute fast völlig vergessen und unbekannt ist. Schon zu seinen Lebzeiten war er für die Literaturwissenschaft nicht existent, da er keine Bücher, sondern seine abenteuerlich–phantastischen Erzählungen ausschließlich in Tageszeitungen, Zeitschriften und Monatsbänden publizierte.
Der vorliegende Band präsentiert 15 seiner Erzählungen zum Neuentdecken:
- Garfields Erfindung (1929)
- Der Höllengeiger (1930)
- Der Wolf Ota–O (1930)
- Das Wikingerschiff (1930)
- Spuk um HL 20.130 (1930)
- Tapados (1930)
- Der Schlossenrufer (1930)
- Lijssa tho Doel (1930)
- Das Ausgeh–Herz (1930)
- Treibhaus des Grauens (1930)
- Der Teufelsknüppel (1930)
- Die Traumsendegesellschaft (1931)
- Billy wird auf Eignung geprüft (1932)
- Der tote Hund (1932)
- Lebendiges Licht (1933)
Leseprobe:
Der Höllengeiger
Wäre es Tag gewesen, als das Sonderbare geschah, so hätten wir wohl überlegen »Zufall« gedacht und wären kaum gesonnen gewesen, gleichsam geometrische Gedankenkonstruktionen ins Ungewisse hineinzulegen, die schließlich die Gestalt eines magischen Warnungszeichens annahmen.
So aber war es Nacht.
Und als du mit einer traumhaften Bewegung den Fernempfänger einschaltetest und als gerade in diesem Augenblick von irgendwoher deine Komposition – Kjuras Lied – schluchzte und brauste, sagten wir beide gleichzeitig und zweimal dasselbe Wort: »Seltsam!«
Wie dann der letzte wilde Ton verklungen war, nahmst du meine Hand wie Hilfe suchend und batest mich, die Geschichte dieses Liedes aufzuschreiben, damit Kjuras Wille erfüllt werde.
Nun ist es Tag. Die Dinge stehen nüchtern im Licht.
Ich will erzählen und nichts ändern an der sonderbaren Wahrheit als … die Namen:
Walter Hennig ist der Welt als Musiker bekannt und gilt als einer der wenigen Reifen, die auf das Hinwerfen flüchtiger und fabrikationsmäßig anmutender Tonstücke verzichten; nur in seinen stillsten Stunden schöpft er, sich selbst genießend, aus eigenem Brunnen.
Seine Musik ist von einer eigenen Art, die auch der Unge schulte leicht immer und aus allen Werken Hennigs herauszuhören vermag. Und gerade hier beginnt das Wunderliche um Kjuras Lied, denn diese Komposition passt sich der breiten, blühenden Ebene des anderen Schaffens in keiner Weise an, sondern ist wie ein Fremdkörper hineingebettet. Nicht, dass sie sich erhöhe oder umgekehrt ein Hinabgesunkenes sei – sie ist gleichwertig und dennoch vorn ersten bis zum letzten Ton … anders, fremd.
Dies Lied, das vor etwa einem Jahr entstand und rasch Freunde fand, ist ohne Worte geblieben, mehrmals habe ich versucht, ihm einen Text unterzulegen – umsonst. Es spricht wortlos so viel, dass Sprache wertlos sein muss.
Da Walter Hennig nie über eine Schöpfung redet, solange sie noch Werden ist, war ich nicht verwundert, als mich vor einigen Monaten eine flüchtige Postkarte von ihm in Kenntnis setzte, dass seine symphonische Dichtung, betitelt »Kjuras Lied«, im Rahmen eines größeren Konzertes in B… zur Aufführung gelange und durch Rundfunk übertragen würde. Tag und Stunde war angegeben.
An jenem Abend war ich denn natürlich auch zu Hause, saß an der Schreibmaschine und entwarf irgendeine weder anstrengende noch aufregende Erzählung. Auf dem Tisch lag die Taschenuhr, um mir die Minute zu zeigen, in der ich den Radioempfänger einschalten musste.
Ich arbeitete wohl zwei Stunden, trocken, nüchtern, sachlich; mein Thema erlaubte weder, noch gebot es das freie und stets steigernde Ausschwingen der Phantasie und gab keinerlei An– lass zu meditierenden Betrachtungen, ließ sich vielmehr ohne Hemmnisse über die geraden Geleise logischer Folgerungen aufrollen.
Meine Uhr zeigte einige Minuten nach zehn; ich unterbrach rasch, stellte den Empfänger ein und schaltete in den Lautsprecher.
Er ließ blechernes Beifallsklatschen hören.
Gleich darauf aber, in das unruhige Stimmen der Instrumente, wurde Kjuras Lied angesagt.
Ich dämpfte das Licht, nahm Platz im Sessel. Lauschte.
Lange Zeit zitterte leise eine einzige Geige; zögernd nur und verhalten, wie ängstlich setzten die anderen Instrumente ein; ein sanftes Wiegen, durch Synkopen gemalt; hinein, mit plötzlichem Umschwung wuchtige Bassoktaven, als stoße Gewaltiges, Grausiges aus schwarzen Schächten heraus in die zurückbebende Welt armseliger Menschheit.
Ist das Walter Mennig? – Fremd ist dieses Lied, fremd, fremd.
Im langsamen Zeitmaß nun Achtelbewegungen im Viervierteltakt wie huschende, schleichende Schritte …
Und dann … der Odem stockt mir jäh, Schauder treibt mir Tränen in die Augenwinkel… dann höre ich diese tappenden, schlurfenden Schritte nicht mehr aus der Höhlung des Lautsprechers, sondern … von draußen. Von draußen, von dem langen Flur vor meiner Tür.
Und ich weiß gut, dass ich allein im Hause bin – weiß, dass ich selbst vor zwei Stunden das Portal drunten verschlossen habe.
Das Heulen und Fauchen gefesselten Sturms!
Musik? – Oder rast der Wind draußen im Flur?
Ein Tasten, Kratzen, Scharren als suche eine harte, eine knöcherne Hand die Türklinke! – Musik? – Nein, nein!
Auf meiner Stirn stehen kalte Tropfen, meine Hände zittern in plötzlichem Krampf, ich fühle den Mund offen vor Entsetzen …
Da steht ein Mann in meinem Zimmer, zehn Schritte von mir entfernt.
Wie kam er herein? – Die Tür hat sich nicht geöffnet.
Wie er aussah? – Sein Gesicht? – Seine Kleidung?
Ich muss gestehen, ich weiß es nicht. Denn so zermalmt war ich von Furcht und Grauen, dass das mechanische Werk des Eindrucksammelns mir stillestand in diesen Minuten oder in dieser einzigen Sekunde gespenstischen Geschehens.
Das Wichtigste nur blieb mir in der Erinnerung haften:
Wie der Spuk eine Geige ansetzt, wie eine durchsichtige Hand den Bogen mit herrischem Schwung über die Saiten hebt, wie es dann hinbraust – Kjuras Lied!
Und das geigt der Gespenstische, weiter und weiter, schneller und schneller, bis der Sang zu einem teuflischen Rasen und Tosen hinanschwillt und endlich, endlich mit einem furchtbaren Höllenschrei, der ins Herz krallt, hinunterstürzt in Nichts und Verdammnis.
Kjuras Lied – ganz wie es die Welt durch Walter Hennig kennt.
Mit dem letzten schrillen Ton versinkt der höllische Geiger.
Allein bin ich im Zimmer, in dem das Schweigen liegt wie eine körperliche Last. – Ich besinne mich. Ist der Fernempfänger tot?
Stumm. – Ich taumle hin, schaue, drehe, kopple, schalte – nichts!
Und doch – alle Röhren sind durchgebrannt.
Ich schrieb dir nicht, Walter Hennig, dass ich Kjuras Lied in der Rundfunkübertragung gehört hatte. Und ich meldete dir nichts von dem spukhaften Fiedler. — Ich nahm mir vor, nie mit dir über das sonderbare Gesicht, über das nächtliche, unverständliche Geschehen zu sprechen. Weil ich nicht wollte, dass du mich ob meiner Spuksichtigkeit verlachen solltest.
Dann aber, als wir eines Nachts wieder zusammensaßen und von den Dingen redeten, die unser schmächtiges Hirn nicht zu fassen vermag – dann aber kam – deine Beichte!
Du rangst gegen dich, Freund, ehe du deinen Worten die Schranken öffnetest. Weshalb? Weil du Spott fürchten musstest.
Dennoch, Bruchstück um Bruchstück erzählten wir uns die merkwürdigen Begebnisse; abwechselnd sprachen wir.
So erfuhrst du von dem wilden Geiger Kjura – so erfuhr ich, dass du sein Lied unter einem fremden, unbegreiflichen Zwang niedergeschrieben hast. Du warst in den kurzen Stunden, als sich in fast besinnungslosem Hinfliegen Note an Note reihte, nicht mehr du selbst. Dir war, als stände eine magische Gewalt hinter dir und singe dir, geige dir die schönen und die schrecklichen Melodien ins Ohr.
Und wie du mit jagenden Pulsen den letzten diabolischen Aufschrei, dieses Finale der Vernichtung hingeschrieben auf dein Notenblatt, da führte eine Geisterhand deine verkrampften Finger, dass sie über die Partitur in deutlichen Zeichen setzten:
»Kjuras Lied!«
Kjura? – Nie bis dahin hattest du den Namen gehört, gewusst, gedacht, geformt.
Der Geist Kjura, vielleicht ein toter Kjura, der einst auf Erden so ungehemmte Teufelsweise sang, schrieb dein Lied durch dich!
Und er wollte, dass die Welt wisse, dass es sein Lied sei – dass die Welt nicht gar glaube, dass es dein Lied sei, Walter Hennig!
Das spürtest du. — Und … ich spürte es.
Heute Nacht nun, als »zufällig« Kjuras Lied erklang, sagten wir gleichzeitig unser »Seltsam!«. Und wir nahmen es hin, wie eine drohende Warnung aus einem anderen Reich.
Und du batest mich, der Welt zu künden, dass das brausende, brandende, teuflische Lied nicht aus dir selbst wuchs, sondern aus dem fremden, gespenstischen Höllengeiger – Kjura.
Dein Wille und sein Wunsch, sie mögen so erfüllt sein!