Femegerichte und Hexenprozesse in Deutschland – Teil 2
Oskar Wächter
Femegerichte und Hexenprozesse in Deutschland
Stuttgart, Verlag von W. Spemann, 1882
Erster Abschnitt
Zwei Erzählungen1
I. Auf roter Erde
Die üppigen Kornfelder reiften der Ernte entgegen. Auf den stattlichen Bauerhöfen, unter dem Schatten der Eichen und Linden entfaltete sich reges Leben. Es war zu Anfang Juli im Jahr 1425. Die hellstrahlende Morgensonne hatte schon den Tau von den Wiesen genommen, die Lerchen jubelten unter dem blauen Himmel.
Zwei Wanderer gingen raschen Schrittes auf der Landstraße zwischen Soest und Unna. Der Ältere, Hermann Grote, ein stattlicher Bauer, etwa sechzig Jahre alt, der Jüngere, Gerhard Struckman, Doktor der Rechte zu Soest, beide in eifrigem Gespräch.
»Wenn Heineman Weffer«, begann Struckman nach einer Pause, »Johann Laske wirklich erschlagen hat, so wird wohl kein Zeuge dabei gewesen, er selbst aber der Tat nicht geständig sein. Dieser Mord hat viel Redens gemacht durch ganz Westfalen. Aber es wurden von der Obrigkeit keine weiteren Schritte getan, auch ist kein Haftbefehl erlassen worden. Überall hieß es: Die Feme wird es an den Tag bringen. In anderen Ländern würde man Verdächtige eingekerkert, in hartem Gefängnis mürbe gemacht, durch die peinliche Frage zum Geständnis gemartert haben. Nichts von alledem. Man hat nur gehört, dass der Freistuhl auf Anklage eines Schöffen Ladung gegen den der Tat verdächtigen Weffer erlassen habe. Und wird er sich stellen? Wird es zum Spruch kommen und zum Vollzug?«
»Ihr seid ein Gelehrter«, entgegnete Grote, »und haltet vielleicht nicht viel auf unseren Rechtsgang. Aber folgt Weffer der Vorladung und wird er auf gichtigen Mund oder auf Eid des Klägers gerichtet, so scheint ihm die Abendsonne nicht mehr.«
»Als ich«, nahm Struckman nach einer Pause das Wort, »von meinen Studien und Reisen wieder in die Heimat kam, nachdem ich in anderen Ländern den Rechtsgang gesehen hatte, da erkannte ich, dass unsere uralten Volksgerichte mit mehr Kraft und Erfolg für Recht und Gerechtigkeit wirken, wie die geschriebenen Gesetze und die gelehrten Richter irgendwo es vermögen. Die heimliche Acht ist für jeden Unwissenden in undurchdringliches Geheimnis gehüllt, und doch tagt sie unter freiem Himmel bei lichtem Sonnenschein, hat keine bewaffneten Häscher, hat weder Gefängnis noch Folter – aber es folgt die Ladung, und wenn er sie verachtet, das Urteil dem Schuldigen vom Meer bis zu den Alpen, bis es ihn trifft, unfehlbar mit tätlichem Stoß. Ich bin noch nicht Wissender und es sei ferne, dass ich Euch mit unziemlicher Frage lästig werde. Indes könnt Ihr mir wohl sagen, ob es dem unwissenden Mann gestattet ist, dem offenen Ding beizuwohnen?«
»Auf diese Frage«, erwiderte Grote, »will ich Euch gern Bescheid geben. Das freie Gericht unter Königsbann handelt im offenen Ding über den Angeklagten, wenn er der Ladung gehorsamt und nicht selbst ein Freischöffe ist. Weffer ist kein wissender Mann. Stellt er sich also ein, so bleibt allen Freien der Umstand unverboten. Im anderen Fall lässt der Freigraf durch den Freifrohnen die heimliche Acht entbieten, und welcher Unwissende danach im Umkreis des Freistuhls getroffen wird, hat sein Leben verwirkt. Mehr darf ich Euch nicht sagen, denn jeder Schöffe muss der heiligen Feme Heimlichkeit wahren. Wir sind jetzt am Königsweg, der zum Freistuhl führt. Nun mögt Ihr auf Euer eigenes Abenteuer weitergehen. Gehabt Euch wohl, gegen Abend mag sein, dass wir uns wieder treffen.«
Mit diesen Worten verließ Grote seinen Begleiter und gesellte sich zu mehreren Hofbesitzern, die gleichfalls den Königsweg einschlugen. Auch sie waren Freischöffen. Bald hatten sie den Hügel erreicht, auf dessen Gipfel ein alter Hagedorn den steinernen Tisch überschattete. Der Tisch war auf drei Seiten von einer steinernen Bank umgeben. Auf dem Tisch lag ein blankes Schwert und ein von Weiden geflochtener Strick. Der Freigraf Cord Hake, ein bäuerlicher Mann von ehrwürdigem Ansehen, und die erschienenen Freischöffen, zwanzig an der Zahl, nahmen Platz. Der Freigraf richtete an den Freifrohnen die üblichen Fragen wegen der rechten Besetzung des Gerichts, der Befugnis des Freistuhls, den Königsbann zu üben, und der ordnungsmäßigen Ladung des Angeklagten. Nach gegebener Antwort auf all diese Fragen ließ der Freigraf den Ankläger und den Angeklagten wegen Ermordung des Johann Laske von Unna zum offenen gebotenen Ding aufrufen. Der Freifrohne verkündigte hierauf, dass als Ankläger erschienen sei Berndt Kopper, Freischöffe zu Unna, auch der Angeklagte in Person. Da nun, ließ der Freigraf ansagen, das Gericht über einen anwesenden unwissenden Mann zu halten obliege, so werde die Verhandlung im offenen Ding eröffnet und sei jedem freien großjährigen Mann der Zugang gestattet.
Lautes Murmeln durchflog den Umstand, die zahlreich sich herandrängenden Männer, die aus nah und fern gekommen waren, als Heineman Weffer, ein hagerer Mann von 30 Jahren mit stechenden grauen Augen und rotem Vollbart, kecken Schrittes auf den Freistuhl zuschritt.
Lautlose Stille lag auf der Menge, als der Freigraf dem Berndt Kopper das Wort erteilte und dieser nun vortrug, dass er Kraft der allgemeinen Rügepflicht der Freischöffen Klage erhebe gegen Heineman Weffer. Dieser habe am Sonntag nach Ostern abends mit Johann Laske im Krug vor dem Wald gesessen, bis der Mond aufgegangen, und mit ihm aufgebrochen. Zwischen beiden seien heftige Worte gefallen. Am anderen Morgen fand man den Laske im Wald erstochen, nicht weit von dem Toten ein Messer, welches Weffer kurz vorher in Unna gekauft habe. Weffer habe den Mord verübt. Übrigens weise auch das ganze Benehmen des Angeklagten auf seine Schuld; er sei nach der Tat ruhelos umhergelaufen und habe oft bei Nacht, wie von dem Hauswirt erzählt worden war, laut aufgeschrien, offenbar von schwerer Angst gepeinigt. Als der Verdacht auf ihn gefallen und die Ladung der Feme ergangen, da sei er stundenlang in dumpfes Brüten versunken und daraus wie in jähem Schreck wieder aufgefahren. Dass er nun heute persönlich erscheine, beweise keineswegs, dass er sich schuldlos fühle, sondern nur, dass er nicht zu entfliehen vermöge, wisse er ja doch, dass, wenn er nicht erschiene, er unfehlbar der Acht und dem Tod verfalle; nicht entfliehen lasse ihn aber auch der Zeuge im Inneren, das belastete Gewissen. Kläger erbiete sich, seine Anklage nach allen Teilen mit zwei Eidhelfern zu beschwören, und sollte der Angeklagte dawider sechs Eidhelfer finden, so wolle Kläger die sieben Hände mit vierzehn Eiden echter Freischöffen niederlegen und überbieten.
Der Freigraf ordnete dem Angeklagten einen Vorsprecher aus der Zahl der Schöffen bei und forderte ihn auf, durch dessen Mund sich seines Lebens und höchster Ehre wegen zu verantworten. Weffer gab kurz und barsch die Erklärung, dass er völlig in Abrede stelle, der Tat schuldig zu sein, welcher man ihn aus arger Missgunst zeihe.
Der Freigraf ließ ihm nun das Messer, welches in der Nähe des Ermordeten gefunden worden war, vorweisen und verlangte, dass Weffer dasselbe in seine rechte Hand nehme. Zögernd tat dies der Angeklagte und in diesem Augenblick verließ ihn seine Fassung. Sichtlich erbleichte er, doch gab er das Messer mit dem Bedeuten zurück, er habe dasselbe nie besessen.
Hierauf wurde dem Ankläger verstattet, nach Freistuhls Recht mit seinen zwei Eidhelfern unter Vorhalten des Schwertes feierlich zu beschwören, dass sie die Anklage für wahr und durchaus glaubhaft halten.
Der Kläger und Angeklagte traten zurück. Der Freigraf bezeichnete den Schöffen Hermann Grote als Urteilsfinder. Dieser ging weg, gefolgt von den Freischöffen, mit denen er sich kurze Zeit beriet, dann wiederkam, und nachdem die Schöffen ihren Platz wieder eingenommen hatten, sich bereit erklärte, das Urteil zu schelten. Die Schöffen erhoben sich und wiesen für Recht, und ihren Spruch verkündigte der Freigraf, dass man den Angeklagten Heineman Weffer solle nehmen und hängen ihn an den nächsten Baum zwischen Himmel und Erde.
Der Freigraf nahm den Weidenstrick vom Tisch, übergab ihn dem Freifrohnen, dieser den beiden jüngsten Schöffen, und nun ergriffen sie den Verurteilten und führten ihn weg.
Nach kurzer Weile kam der Frohnbote wieder, legte einen neuen aus Weiden geflochtenen Strick zu dem Schwert auf den Tisch und der Freigraf eröffnete die Gerichtssitzung wieder. Zwei Boten des Freistuhls, welche eine Ladung zu überbringen gehabt hatten, waren von den Bürgern einer kleinen Stadt am Rhein ihres Auftrags wegen gefangen gehalten worden. Die Anklage wurde vorgetragen und als Femwroge erklärt, auch festgestellt, dass die Ladung an die angeschuldigten Bürger ordnungsmäßig ergangen und die Frist von 6 Wochen und 3 Tagen verstrichen sei. Dreimal wurden die Beklagten aufgerufen, sie waren nicht erschienen. Das Gericht musste versammelt bleiben und ihrer warten, bis die Sonne ihren höchsten Stand erreicht habe. Nun verwandelte sich das offene Ding in das Stillgericht, die heimliche Acht. Der Femfrohne entbot jedem unwissenden Mann, sich zu entfernen.
Als gegen Abend Grote den Heimweg angetreten hatte, traf er am Königsweg auf Struckman, welcher ihn hier erwartete und seine Befriedigung über das, was er gesehen und gehört hatte, aussprach. »Ich sah den verurteilten Weffer zwischen Himmel und Erde hängen und ich weiß, dass die Feme recht gerichtet hat. Mit solchen Gerichten ist Westfalen gut versorgt und Ihr bedürfet fürwahr nicht der Rechtsgelehrten und ihres Rates.«
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