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Aus dem Reiche der Phantasie – Heft 1 – Der letzte Höhlenmensch – 9. Kapitel

Robert Kraft
Aus dem Reiche der Phantasie
Heft 1
Der letzte Höhlenmensch
Verlag H. G. Münchmeyer, Dresden, 1901

Auf dem Opferaltar

In der Mitte des Dorfes auf einem freien Platz befand sich eine erhöhte Plattform, Stufen führten zu ihr hinauf, und oben stand ein großer, viereckiger Stein.

Dieser Plattform zu bewegte sich ein festlicher Zug, voran zwei Priesterinnen. Zwischen ihnen schritt Richard dahin, in ein weißes Gewand gekleidet, mit Bronzeringen geschmückt und gefesselt.

Was nach seiner Gefangennahme geschehen war, davon wusste er wenig, alles kam ihm wie ein Traum vor – und nun sollte er dort auf dem Altar zur Ehre des Sonnengottes geopfert werden.

Das ist ja gar nicht möglich, das ist doch nur ein böser Traum, dachte er fort und fort.

Doch das half ihm alles nicht, änderte nichts – er wurde die Stufen hinaufgeführt, die Frauen hoben ihn auf den Stein, schnallten ihn, der auf dem Rücken ausgestreckt lag, fest, und über ihm wetzte ein Priester das Bronzemesser.

»Mein Gott, mein Gott«, jammerte Richard, »ist denn das nun wirklich kein böser Traum, aus dem es kein Erwachen gibt?«

Da senkte sich die Hand mit dem Messer auf seine Brust herab.

»Ich träume ja nur!«, schrie Richard den Priester an. Doch dieser verzog keine Miene, er murmelte nur: »Nimm wohlgefällig dieses Opfer an!«

Richard stieß einen gellenden Schrei aus. Das spitze Messer bohrte sich ihm ins Fleisch, er empfand einen stechenden Schmerz im Herzen, und …

 

***

 

Im Angstschweiß gebadet, erwachte Richard und sah sich im Bett seines Schlafzimmers liegen. Es war heller Morgen.

Erst sah er sich entsetzt, dann erstaunt um, ein Blick aber zur Kammertür, und er brach in ein schallendes Gelächter aus und wollte mit einem Satz aus dem Bett springen. Da merkte er, dass er an beiden Füßen gelähmt war, was ihn jedoch durchaus nicht betrübte, denn er lachte noch einmal auf.

»Nein, solch ein merkwürdiger Traum!«, rief er ein über das andere Mal. »Und so natürlich! Und alles so folgerichtig, gar nicht wie sonst in einem sinnlosen Traum! Ich bin nicht durch die Luft geflogen, habe eigentlich nichts Unmögliches getan und hätte mich gleich im Anfang ein Ungeheuer gefressen, so wäre ich eben gleich am Anfang gestorben – und erwacht. Richtig, wenn ich erwachen wollte, sollte ich es mir ja nur wünschen! Aber ich tat es nicht, weil ich gar nicht eher auf den Gedanken kam, dass es nur ein Traum sei – als jetzt zuletzt!«

Dann überlegte er, und das Lächeln um den Mund des bleichen Knaben wurde nur noch freundlicher.

»Ich kann mich also in jede Situation versetzen, in welche ich nur will«, sagte er zu sich, »wie ich sie einmal einleite, unter denselben gegebenen Verhältnissen wird sie auch fortgesetzt. Dann geht alles seinen natürlichen Lauf, dann kann ich auch nichts mehr daran ändern. Ich wollte ein Boot, Waffen und alles, was zu einem Jägerleben im Urwald gehört, und es war zur Stelle, aber auch nicht mehr. Gut, nun weiß ich, wonach ich mich zu richten habe, und ich werde auf meiner Hut sein, denn das habe ich schon gemerkt, dass man mit einem Gewehr und einem Revolver und mit allen Kenntnissen allein nicht viel ausrichten kann, wenn man sich den Verhältnissen nicht noch anders angepasst hat.

Aber ob die gütige Fee Phantasie auch Wort hält, dass es nicht etwa nur ein einmaliger Traum war? Ach, wie herrlich wäre das! Da wüsste ich, was ich in der nächsten Nacht träumen wollte! Nun, ich werde ja sehen.«

Und mit fröhlichem Eifer ging er an das tägliche Lernen. Am Abend aber entwarf er sich einen neuen Plan, in der Hoffnung, von der Phantasie wieder in ein neues Wunderland geführt zu werden. Und diese Hoffnung sollte ihn nicht täuschen!

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